10 Jahre zivile Seenotrettung im Mittelmeer - Bericht, Interview, Konzept für "Mare Solidale"

19.06.2025 Bei einer breit beachteten Pressekonferenz blickten die vier zivile Hilfsorganisationen Refugees in Libya, Sea-Eye, Sea-Watch und SOS Humanity auf Ergebnisse, Erfolge und Probleme zurück. Zugleich stellten sie ein Konzept für eine staatlich organisierte, europäische Seenotrettung vor. 

Wir zitieren:

Im Wortlaut:

Marie Banck wurde mit ihrem Schiff „Nadir“ von Italien festgesetzt. Auch an der Bundesregierung übt sie Kritik.

Im Interview: Marie Banck ist seit 2022 im Verein Resqship aktiv und koordiniert als Einsatzleiterin Rettungsmissionen des Segelschiffs „Nadir“ im Mittelmeer. Laut Resqship, wurden seit 2021 rund 12.000 Menschen durch den Einsatz der „Nadir“ gerettet

taz: Frau Banck, vor knapp zwei Wochen wurde das zivile Seenotrettungsschiff „Nadir“, auf dem Sie sich befinden, von der italienischen Küstenwache festgesetzt. Insgesamt 20 Tage darf die „Nadir“ nicht weiterfahren, außerdem droht ein Bußgeld in Höhe von bis zu 10.000 Euro. Wie kam es zu der Festsetzung?

Marie Banck: Wir hatten gerade 112 Menschen von einem seeuntüchtigen Holzboot gerettet. Viele von ihnen waren dehydriert, seekrank und brauchten medizinische Versorgung. Die italienische Küstenwache hat uns dann den schriftlichen Befehl erteilt, den Hafen von Lampedusa anzusteuern. Nachdem wir mehrere Stunden in Richtung Lampedusa gefahren waren, hat uns die Behörde per Funk aufgefordert, besonders schutzbedürftige Menschen an ein Schiff der Küstenwache zu übergeben. Die übrigen Menschen sollten wir nun doch in einen anderen Hafen, ins 22 Stunden entfernte Sizilien, bringen. Wir hatten erhebliche Sicherheitsbedenken.

taz: Welche?

Banck: Bei dem damaligen Seegang und dem vollen Deck wäre es nicht ungefährlich gewesen, von einem Schiff aufs andere überzusteigen. Besonders für ohnehin physisch geschwächte Menschen. Im schlimmsten Fall kann man dabei ins Wasser fallen oder sich Gliedmaßen zwischen den beiden Booten einklemmen. Außerdem wären durch die Übergabe Familien getrennt worden. Diese Bedenken haben wir der Küstenwache mitgeteilt.

taz: Wie hat die reagiert?

Banck: Sie hat uns angewiesen, Lampedusa weiter anzusteuern. Zu einer Übergabe kam es also nicht. Dort angekommen, haben wir den Hafenmeister, der zur Küstenwache gehört, angefunkt und erneut um Erlaubnis gebeten, in den Hafen einzulaufen. Diese hat er uns per Funk erteilt. Nachdem die geretteten Menschen von Bord gegangen sind, haben wir am nächsten Morgen erfahren, dass wir den Hafen nicht mehr verlassen dürfen.

taz: Die italienische Küstenwache wirft Ihnen vor, deren Anweisungen missachtet zu haben, und argumentiert, dass Sie die libysche und tunesische Küstenwache nicht kontaktiert hätten, obwohl Sie dazu verpflichtet gewesen wären. Haben Sie maritimes Recht verletzt?

Banck: Nein. Wir haben versucht, sowohl die libysche als auch die tunesische Küstenwache zu kontaktieren. Das Problem ist: die Telefonnummern, die dort hinterlegt sind, funktionieren oft gar nicht, die Behörden sind zudem nicht kooperationsbereit. Die sogenannte Küstenwache in Libyen verfolgt nicht das Ziel, Menschen zu retten. Vielmehr werden Schutzsuchende abgefangen und verschleppt. In Libyen droht ihnen häufig Haft und Folter. Weder Tunesien noch Libyen können als sicherere Häfen für Schutzsuchende gelten.

taz: Anfang 2023 hat die von der rechtsextremen Fratelli d’Italia geführte Regierung das sogenannte Piantedosi-Dekret verabschiedet, auf dessen Grundlage auch die „Nadir“ festgesetzt wurde. Was bedeutet das Gesetz für Rettungsmissionen?

Banck: Das Dekret behindert die zivile Seenotrettung erheblich. Seit Einführung müssen Schiffe nach einer Rettung sofort den von der Küstenwache zugewiesenen Hafen ansteuern. Selbst wenn ein Schiff Platz für weitere hundert Menschen hätte, muss es seine Patrouille abbrechen, sogar wenn nur eine einzelne Person gerettet wurde. Außerdem weisen die italienischen Behörden den Rettungsschiffen häufig nicht den nächstgelegenen Hafen zu, sondern einen, der mehrere Tage Fahrt entfernt ist. Dadurch verlieren Rettungsschiffe viel Sprit, Zeit und Geld. Für die geretteten Menschen ist die unnötig lange Reise auf See extrem belastend.

taz: Die italienische Regierung argumentiert, dass es auch für NGOs klare Regeln brauche, das Gesetz solle Ordnung schaffen. Ist das nicht grundsätzlich ein berechtigtes Vorhaben?

Banck: Der Vorwurf, Schiffe der zivilen Seenotrettung würden sich nicht an Regeln halten, ist völlig aus der Luft gegriffen. Wir halten uns strikt an maritimes und internationales Recht. Das Piantedosi-Dekret ist ein in Gesetzesform gegossenes Repressionsinstrument und ordnet sich in die europäische Abschottungspolitik ein. Die italienische Regierung will nicht für Ordnung sorgen, sie führt einen Krieg gegen Migration.

taz: In welchem Ausmaß wurden Rettungsaktionen durch das Piantedosi-Dekret bisher behindert?

Banck: Die NGO SOS Humanity hat ausgerechnet, dass Schiffe der zivilen Seenotrettung innerhalb eines Jahres 374 Tage am Einsatz gehindert wurden, weil sie weit entfernte Häfen ansteuern mussten oder festgesetzt wurden. Jeder Tag, an dem ein Schiff nicht im Einsatz ist, kann Menschenleben kosten.

taz: Die „Nadir“ ist schon seit 2021 auf Rettungsmissionen unterwegs. Es ist das erste Mal, dass das Schiff festgesetzt wurde. Warum gerade jetzt?

Banck: Für uns kam das überraschend. Bisher wurden Segel- und Kleinschiffe wie die Nadir meist verschont. Außerdem wurden seit einigen Monaten keine Rettungsschiffe mehr festgesetzt. Anderseits war uns klar, dass die italienische Regierung sich darauf vorbereitet, zivile Seenotrettung noch schärfer zu kriminalisieren als bisher.

taz: Inwiefern?

Banck: Im Oktober und Dezember wurden Gesetzesänderungen beschlossen, die die Regeln weiter verschärfen. Dazu gehört etwa das sogenannte Flussi-Dekret, durch das Schiffe häufiger und länger festgesetzt werden können. Meine Einschätzung ist: Unsere Festsetzung war nur der Auftakt im nächsten Kapitel staatlicher Repression gegen zivile Seenotrettung. So wurde kurz nach uns auch die „Sea Eye 5“ im Hafen festgesetzt. Die Aktion folgt einem ähnlichen Muster: Die italienischen Behörden haben dem Schiff, das gerade 65 Menschen von einem Schlauchboot gerettet hatte, einen weit entfernten Hafen zugewiesen. Die Crew hatte Sicherheitsbedenken und bat um die Zuweisung eines näher gelegenen Hafens. An Bord befanden sich mehrere Schwerverletzte, für die die lange Seereise eine große Gefahr bedeutet hätte. Nach langem Warten stimmten die Behörden zwar zu, setzten das Schiff dann aber im Hafen fest. Diese Festsetzungen sind eindeutig politisch motiviert.

taz: Die „Nadir“ liegt nun schon seit fast zwei Wochen im Hafen, die ersten Tage in Lampedusa, jetzt im Hafen von Empedocle, Sizilien, in dem Sie den Rest der 20 Tage festgesetzt sind. Wie sehen die Tage an Bord aus?

Banck: Wir sind sehr frustriert. Über Funk bekommen wir mit, dass es gerade jetzt viele Notfälle gibt. Aktuell machen sich viele Menschen auf den Weg übers Mittelmeer, weil die Wetterbedingungen nach längerer Zeit wieder stabil sind. Vor ein paar Tagen wurde uns ein Fall gemeldet, bei dem Menschen für mehrere Tage auf einer verlassenen Ölplattform verbringen mussten. Eine Frau hat dort ihr Kind zur Welt gebracht. Wir wissen, dass wir im Einsatz gebraucht werden, müssen aber im Hafen ausharren. Wir versuchen Arbeiten am Schiff zu erledigen und verständigen uns intern über mögliche rechtliche Schritte.

taz: Wie könnten staatliche Akteure die zivile Seenotrettung unterstützen?

Banck: Wir fordern, dass Seenotrettung nicht mehr hauptsächlich zivilen Akteuren überlassen wird. 2015 waren Schiffe mehrerer EU-Staaten im Mittelmeer präsent und haben Menschen in Not gerettet. Inzwischen klafft dort eine politisch gewollte Lücke, die die zivile Seenotrettung mit ihren begrenzten Kapazitäten nicht füllen kann. Außerdem braucht es Geld. 2022 hatte die Ampelregierung beschlossen, private Seenotrettung für vier Jahre mit insgesamt 8 Millionen Euro zu unterstützen. Das ist zwar keine große Summe, war aber ein starkes Zeichen. Unter Schwarz-Rot wird es so was wohl nicht mehr geben. Zudem hat die Spendenbereitschaft seit 2015 deutlich abgenommen. Der Staat muss sich endlich selbst für eine funktionierende Seenotrettung einsetzen.

taz: Auch staatliche Akteure könnten wohl nicht jedes Seeunglück verhindern.

Banck: Wovon wir wirklich träumen sollten, sind sichere Fluchtrouten. Ohne die rassistische Grenzpolitik der EU gäbe es die Probleme, mit denen die zivile Seenotrettung konfrontiert ist, nicht.

 

Unter dem Titel „Mare Solidale“ haben vier zivile Hilfsorganisationen jetzt ein Konzept für eine staatlich organisierte, europäische Seenotrettung vorgestellt. Seit zehn Jahren leisten u.a. Refugees in Libya, Sea-Eye, Sea-Watch und SOS Humanity im zentralen Mittelmeer das, was eigentlich Aufgabe der Staaten wäre: Sie retten Menschen vor dem Ertrinken – oft unter widrigsten Bedingungen, gegen politische Widerstände, behördliche Behinderung und unter dem Risiko der Kriminalisierung. Unterstützt werden sie von dem kirchlich initiierten Bündnis United4Rescue.

„Was Europa an seinen Außengrenzen geschehen lässt, ist ein moralisches Armutszeugnis“, so Sandra Bils von United4Rescue bei der Pressekonferenz in Berlin. „Doch die zivile Flotte ist gewachsen – und wir geben nicht auf.“ Seit 2015 sind nach Angaben der Organisationen mindestens 28.932 Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer gestorben oder verschwunden. Die Dunkelziffer sei hoch. Mehr als 21.700 Todesfälle seien im zentralen Mittelmeer – zwischen Libyen, Tunesien, Italien und Malta – registriert worden. Im Durchschnitt seien dort täglich 6 Menschen gestorben oder gelten als vermisst. Von 100 Menschen, die per Boot Italien erreichten, würden mindestens drei ihr Leben verlieren. Laut Schätzungen des UN-Kinderhilfswerks UNICEF sind in den letzten zehn Jahren etwa 3.500 Kinder beim Versuch, Italien über das zentrale Mittelmeer zu erreichen, gestorben oder wurden vermisst. Das entspricht durchschnittlich einem toten oder vermissten Kind pro Tag.

15 Rettungsschiffe, sieben Segelboote und vier Flugzeuge

„Zehn Jahre zivile Seenotrettung bedeuten zehn Jahre Ignoranz und Wegschauen der Politik“, kritisiert Anna di Bari von Sea-Eye. „Was wir in diesen Jahren erlebt haben, ist eine Abschottungspolitik, die Menschen wissentlich in den Tod treibt. Wir sehen hin. Wir fahren hin.“ Im Juni 2025 sind im zentralen Mittelmeer 15 Rettungsschiffe, sieben Segelboote und vier Flugzeuge im Einsatz, die jedoch nicht alle gleichzeitig, sondern zu unterschiedlichen Zeiten operieren. Das Watch the Med Alarm Phone ist ein transnationales Netzwerk, das seit über zehn Jahren eine 24/7-Notruf-Hotline für Flüchtende, die im Mittelmeer in Seenot geraten, betreibt. Europaweit sind 21 – darunter zehn deutsche – Nichtregierungsorganisationen in der Seenotrettung aktiv.

Es fehlen jedoch weiterhin Rettungskapazitäten, um das riesige Seegebiet zentrales Mittelmeer abzudecken, kritisieren die Hilfsorganisationen. „Diese Situation ist kein Zufall. Sie ist politisch gewollt – und sie kann von der EU-Kommission beendet werden“, so Giulia Messmer von Sea-Watch.  Die Organisationen beklagen, dass ihre Rettungsschiffe regelmäßig behindert, blockiert oder beschlagnahmt werden, während staatliche Missionen kaum existieren.  „Rettungsschiffe werden ohne rechtliche Grundlage festgesetzt. Das ist nicht nur unmenschlich, sondern auch ein Bruch internationalen Seerechts“, kritisiert Mirka Schäfer von SOS Humanity.

Klare Trennung von Rettung und Strafverfolgung

Seit 2015 seien mindestens 336.057 Menschen auf der Flucht abgefangen und nach Libyen und Tunesien zurückgebracht worden, wobei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen sei, teilen die Organisationen mit. Mit dem neuen „Mare Solidale“-Konzept hingegen würden alle Rettungen in sicheren Häfen gemäß internationalem Seerecht enden, argumentieren die Hilfsorganisationen. Unsicherere Drittstaaten wie Libyen und Tunesien sollten dabei künftig ausgeschlossen sein. Wichtig sei dabei die klare Trennung von Rettung und Strafverfolgung: Rettung sei künftig als Aufgabe des Zivilschutzes zu sehen und könne von zivilen Einheiten aus nationalen Katastrophenschutzeinrichtungen übernommen werden, koordiniert durch Maritime Rescue Coordination Centres (MRCCs).

Erstaufnahmezentren in EU-Küstenländern sollen danach die medizinische Versorgung und Registrierung übernehmen. Ein temporären Schutzstatus über drei Monate soll dem Konzept zufolge Bewegungsfreiheit innerhalb der EU erlauben. Danach könnten Anträge auf Asyl, Familienzusammenführung oder andere Aufenthaltsrechte gestellt werden.  Die Kosten würden sich auf ein Jahresbudget von ca. 240 Millionen Euro (0,13 % des EU-Haushalts 2023) belaufen, rechnen die Hilfsorganisationen vor. Weitere Einsparungen würden sich durch bessere Integration, reduzierte Abschiebungskosten und geringere humanitäre Folgekosten ergeben.