70 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention - ein Feiertag oder Anlass zur Aktualisierung??

Mit Aussagen der Vorsitzenden des Sachverständigenrats für Integration und Migration, Petra Bendel, und des Migrationsforschers Gerald Knaus

28.07.2021 Heute wurde die Genfer Flüchtlingskonvention 70 Jahre alt. Ein Anlass für Medien und Politiker:innen, Bilanz zu ziehen. Dabei wird deutlich, dass diese wesentliche Grundlage für den Schutz Flüchtender nicht mehr zeitgemäß ist. Denn heute kommen zu den damals definierten Fluchtgründen der Verfolgung im Herkunftsland wesentliche weitere Gründe für die Flucht dazu. Das sind die Kriege und militärisch ausgetragenen Konflikte, die in vielen Regionen zu Lasten der Zivilbevölkerung geführt werden (auch wegen eines Übermaßes an Waffen und Waffenhandel), aber auch und immer häufiger die Zerstörung der Lebensgrundlagen in der Heimat. Mehr und mehr wird gefordert, dass auch diese Gründe für die Flucht in den Kanon der Genfer Konvention aufgenommen werden müssen, die Menschen nicht länger als "Wirtschaftsflüchtlinge" weggejagt werden dürfen. Egal, ob Verwüstung oder Überschwemmungen, Umweltzerstörung durch Bergbau oder Abholzung, Vertreibung von Ackerflächen oder Fischgründen: All dies sind mittlerweile ebenso schwer wiegende Fluchtgründe wie die politische, religiöse oder ethnische Verfolgung im Herkunftsland, die vor 70 Jahren mit Blick auf die vorangegangene Geschichte mit Recht den besonderen Schutz durch die internationale Staatengemeinschaft begründet hatte.

Tagesschau-Beitrag:

Meilenstein internationaler Politik - 70 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention

... Für die UN ist die Genfer Flüchtlingskonvention eine Erfolgsgeschichte. "Mit Blick auf die enormen Flüchtlingszahlen ist die Konvention heute noch bedeutender und gewichtiger, als sie es jemals war. Und sie hat die Fähigkeit und die Flexibilität, sich an die heutigen Herausforderungen anzupassen,"  sagt Gillian Triggs, Hochkommissariat für Flüchtlinge. Klimawandel und die Zerstörung wirtschaftlicher Grundlagen sind in den letzten Jahren als Ursachen für die Flucht von Menschen aus ihren Heimatländern dazugekommen. Da bemängeln Kritiker, dass ein Papier, das 70 Jahre alt ist, der heutigen Zeit nicht gerecht wird. In der Konvention gehe es um Religion, Nationalität, soziale Gruppen und politische Überzeugung, aber eben nicht um die Zerstörung der Lebensgrundlage. So steht die Forderung im Raum die Schutzgründe auszudehnen. Viele Staaten tun sich derweil schwer mit den neuen Ursachen, ungeprüfte Zurückweisungen sind die Folge...

Bereits am 26. Juli hatte die Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration, Petra Bendel, anlässlich des 70. Jahrestags der Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention unmissverständlich klargemacht: «Der Anlass muss Mahnung und Ansporn sein und sollte die Europäerinnen und Europäer daran erinnern, dass sie eine Verpflichtung gegenüber Flüchtlingen haben», sagte Bendel, Politikwissenschaftlerin an der Universität Erlangen-Nürnberg, der Deutschen Presse-Agentur. «Und man muss den Finger in die Wunde legen: Diese Verpflichtung wird vielfach gebrochen.»

Die Konvention ist der Grundpfeiler des internationalen Flüchtlingsrechts. Sie garantiert Menschen Schutz, die in ihrer Heimat verfolgt werden wegen ihrer «Rasse, Religion, Nationalität», der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer
politischen Überzeugung. Sie wurde am 28. Juli 1951 verabschiedet.

Bendel verweist darauf, dass vor den griechischen Inseln Flüchtlingsboote Richtung Türkei zurückgedrängt werden. Die von der EU finanziell unterstützte libysche Küstenwache fängt Flüchtlingsboote ab und bringt Menschen zurück nach Libyen. «Es ist ein Kernelement der Konvention, dass Menschen nicht zurückgewiesen werden dürfen in Länder, in denen sie nicht sicher sind», sagt Bendel. «Es darf nicht sein, dass EU-Länder dagegen verstoßen.» Ein Verstoß sei auch die Unterbringung der Menschen in Lagern mit menschenunwürdigen Zuständen wie auf der griechischen Insel Lesbos. Quelle: dpa, info-eu

Deutschlandfunk:

70 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention„Die Angst vor einer Massenmigration ist völlig irrational“

Es gelänge derzeit kaum noch jemandem, Schutz in einem anderen Land zu finden, sagt der Migrationsforscher Gerald Knaus im Dlf. Die Genfer Flüchtlingskonvention sei im Koma. Stattdessen suggerierten „irreführende“ Zahlen, dass Millionen Menschen auf der Flucht seien. Diese Zahlen würden politisch ausgenutzt.

Interview mit Gerald Knaus:

Moritz Küpper: 70 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention, ist das heute ein besonderer Tag, ein Tag, auf den man stolz zurückschauen kann?

Gerald Knaus: Ein besonderer Tag ist das auf jeden Fall, denn diese Konvention hat etwas in die Welt gesetzt, das tatsächlich bis dahin nicht bestand: ein Recht, das nicht davon abhängig war, ob es ein Jude oder Christ, ein Europäer oder Afrikaner war, der Schutz sucht, sondern ob es sich um einen Menschen handelt, der begründete Furcht vor Verfolgung hat, also universelle Kriterien. 

Das echte Problem ist  ..., dass sie von den meisten Staaten der Welt heute nicht angewendet wird, dass es Staaten gibt, die sie unterschrieben haben, aber trotzdem keinen Schutz vergeben seit Jahrzehnten wie Japan, dass es Staaten gibt, die Menschen trotzdem an den Grenzen ohne jedes Verfahren zurückstoßen, mittlerweile auch einige Länder in der EU, und dass die Zahl der Länder, die sie tatsächlich auch anwenden und Schutz vergeben nach diesen Kriterien, in den letzten Jahren immer kleiner geworden ist. Das ist die wahre Krise.

Knaus: Flüchtlingskonvention liegt im Koma

Küpper: Zum Feiern ist nicht zumute?

Knaus: Leider nicht. Und was beunruhigend ist, ist die Konzeptlosigkeit von vielen, die eigentlich Flüchtlingsrechte verteidigen wollen, denen aber nicht mehr sehr viel mehr einfällt derzeit als zu beklagen, dass immer mehr Staaten – und im letzten Jahr haben wir es gesehen – auch immer mehr der europäischen Gründerväter und Mütter der Flüchtlingskonvention sich davon abwenden.

Wir hören in Österreich einen Innenminister, der sagt, das Ziel ist null Asylsuchende in Österreich. Wir hören das gleiche aus Dänemark. Wir hören das gleiche aus dem Vereinigten Königreich. Australien hat seit acht Jahren, genau acht Jahren jetzt eine sehr harte Politik, wo niemand mehr Australien irregulär erreichen kann. In den Vereinigten Staaten wird die Politik von Donald Trump an der Grenze zu Mexiko de facto weitergeführt. 

Die Gründerstaaten, die diese Konvention mit ins Leben gerufen haben, wenden sich ab, und darauf muss man Antworten finden und diese Antworten müssen politisch sein, denn ohne Mehrheiten in Demokratien, die sehen, wie wichtig es wäre und dass es möglich ist, diese Konvention zu schützen, wird sie, so wie leider derzeit, weiterhin im Koma liegen. ....

Pro Asyl: Zum Jubiläum: Die Genfer Flüchtlingskonvention unter Dauerbeschuss

Feiertag, Trauertag, Todestag? Ein Blick in die Berichterstattung zeigt, mit welch gemischten Gefühlen der 70. Geburtstag der Genfer Flüchtlingskonvention begangen wird. Am Lautesten feiern pflichtgemäß die Regierungen in Europa, die morgen den Kern der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) wieder vergessen haben und ihn mit Füßen treten werden.

Die Genfer Flüchtlingskonvention wird täglich an Europas Grenzen verletzt – deshalb ist dieser Jahrestag auch ein Trauertag. Aber dennoch gilt: Die »Magna Charta« des Flüchtlingsrechts, die GFK, war eine Antwort auf die Barbarei, den Nationalsozialismus und den Holocaust. Sie steht für den damaligen Willen der internationalen Staatengemeinschaft, Konsequenzen aus ihrem desaströsen Versagen zu ziehen.

Nie wieder sollten Schutzsuchende wie Stückgut an den Grenzen abgewiesen werden, zurück in die Folter und den Tod. Mit der GFK wurde 1951 ein Schutzinstrument geschaffen, das die Rechte und die Würde jedes Schutzsuchenden zur unumstößlichen Verpflichtung macht.

Mit Bitternis erinnern wir heute die Europäische Union daran, dass sie sich auf dem Sondergipfel von Tampere Oktober 1999 feierlich verpflichtete, ein »gemeinsames Asylsystem auf der vollständigen und allumfassenden Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention« aufzubauen und den »absoluten Respekt vor dem Recht Asyl zu suchen« zu gewährleisten....

 

Sea-Watch  @seawatchcrew  auf Twitter:

Europa bricht regelmäßig die #GenferFlüchtlingskonvention, feiert heute aber scheinheilig ihr 70-Jähriges. Statt die sog. Libysche Küstenwache bei Menschenrechtsverletzungen zu unterstützen, sollte sich #Europa an die Verpflichtung erinnern, Schutzsuchenden Hilfe zu gewähren.

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Weitere Stimmen:

Filippo Grandi, UNHCR

Zum 70. Jahrestag der Genfer Flüchtlingskonvention erinnerte Filippo Grandi, der UNHCR-Chef, an die Prinzipien der Vereinbarung. Gegen diese sei in der Vergangenheit zu oft verstoßen worden, kritisierte er.

Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi, ist alarmiert über Verstöße gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Europäische und andere Länder versuchten teils, sich ihren Verpflichtungen zu entziehen, sagte Grandi am Mittwoch, dem 70. Jahrestag der Unterzeichnung der Konvention. Er rief alle Länder auf, die Prinzipien der Konvention zu verteidigen. Mehr Einsatz im Kampf gegen Fluchtursachen forderte der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU).

"Die Konvention ist heute so relevant wie 1951", sagte Grandi der Deutschen Presse-Agentur. Sie habe Millionen Menschen das Leben gerettet. "Die größte Herausforderung für den Flüchtlingsschutz ist, sicherzustellen, dass Staaten in allen Regionen der Welt sie in der Praxis umsetzen."

Kritik an der Konvention

Die Genfer Flüchtlingskonvention ist ein Grundpfeiler der internationalen humanitären Zusammenarbeit. Sie wurde am 28. Juli 1951 verabschiedet. Sie garantiert Menschen Schutz und Aufnahme, die in ihrem Land etwa wegen ihrer Religion oder politischen Überzeugung verfolgt werden. Aufnahmeländer dürfen Menschen nicht dorthin zurückzuschicken, wo ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht sind.

Wegen der hohen Zahl von Migranten und Flüchtlingen wurde die Konvention in letzter Zeit oft kritisiert. Sie bezieht sich aber nur auf Verfolgte, nicht auf Menschen, die frustriert über die Zustände in ihrem Heimatland anderswo ein besseres Leben suchen. Mehr als die Hälfte der Menschen, die Anträge auf Schutz stellen, werden im Allgemeinen abgelehnt.

Grandi nannte kein Land beim Namen. Als Verstöße gegen die Konvention kritisierte er aber etwa die Praxis der griechischen Küstenwache, Flüchtlingsboote in Richtung Türkei  zurückzudrängen, oder das Vorgehen Chiles, das Venezolaner ausgewiesen hat, ohne ihren Anspruch auf Asyl individuell zu prüfen. Auch Pläne wie etwa in Großbritannien oder Dänemark, Asylsuchende in Drittländer zu schaffen, um dort ihre Anträge zu prüfen, kritisierte er. Grandis Behörde, das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR), wacht über die Einhaltung der Konvention und kümmert sich um Flüchtlinge weltweit.

Müller: Jahrestag sollte eine Mahnung sein

Entwicklungsminister Müller forderte, dass die EU die Ursachen von Flucht und Vertreibung stärker bekämpft. "Sonst werden wir auch in Europa noch stärker mit den dramatischen Konsequenzen der globalen Flüchtlingskrisen konfrontiert sein", sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Der 70. Jahrestag der Genfer Flüchtlingskonvention müsse Mahnung sein, "nicht nachzulassen im humanitären Engagement". Die EU habe ihre Mittel für die Entwicklungspolitik für die kommenden Jahre gekürzt, das sei kurzsichtig.

Quelle: t-online Umgang mit Flüchtlingen. UNHCR-Chef kritisiert Europäische Union scharf