»Wohnen minus Freiheit« - zynischer O-Ton von Schleswig-Holsteins Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) zur neuen Abschiebehaftanstalt
16. August 2021 “Wohnen minus Freiheit”: Schleswig-Holstein eröffnet Abschiebungsgefängnis in Glückstadt – auch für Frauen und Kinder
“Passend zum 60. Jahrestag des Berliner Mauerbaus wird die Landesregierung Schleswig-Holstein am Montag, den 16. August, das neue norddeutsche Abschiebungsgefängnis in Glückstadt in Betrieb nehmen. Die Anlage, eingebettet in ein 1936 für eine geplant tausendjährige Zukunft von Gewalt und Unterdrückung erbautes Kasernenareal, ist mit einer 6 Meter hohen Mauer umgeben, die an Höhe und Betoniertheit alles übertrifft, was je durch Berlin oder zwischen Süd- und Nordamerika durch die Wüste gezogen worden ist. Damit nicht genug, wird auch innerhalb des Geländes der natürliche Freiheitsdrang der betroffenen Inhaftierten durch ein martialisches System zahlreicher 5 Meter hoher mit diversen schwerstverletzungsintensiven NATO-Draht-Rollen gekrönten Metallgitterzaunbarrieren klein gehalten. Abschiebungshaft ist ein anachronistisches Instrument rückwärtsgewandter nationalistischer Migrationskontrollpolitik, das abgeschafft gehört. Dass es stattdessen grundsätzlich möglich sein soll, unter 60 Abschiebungshäftlingen in Glückstadt sogar Frauen und Kinder einzusperren, ist für den Flüchtlingsrat besonders kritikwürdig. Weder mit noch so viel Sportgeräten, Internetzugängen, vermeintlicher Souveränität der Betroffenen beim Selbsteinschluss, noch mit dem euphemistischen Wording vom “Wohnen minus Freiheit” können die drei beteiligten Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg und Schleswig-Holstein darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier um einen Freiheitsentzug ohne Straftatbestand handelt. Denn inhaftiert werden nun künftig auch in Glückstadt nur solche Menschen, denen nichts weiter vorgeworfen wird, als dass sie an dem Ort, wo sie leben, gern bleiben wollen…” Pressemitteilung vom 13.08.2021 beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein
aus den News von Pro Asyl
13.08.2021 Am 16. August geht die Abschiebehaftanstalt von Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern in Betrieb. In der ehemaligen Marinekaserne sollen bis zu 60 Geflüchtete unterkommen; 18 Mio. Euro zahlen die drei Länder jährlich dafür. Rechtsanwalt Peter Fahlbusch kritisiert im Interview die strukturellen Missstände in Abschiebehaftanstalten.
Es werden überall Abschiebegefängnisse gebaut. Peter Fahlbusch
Herr Fahlbusch, am kommenden Montag wird in Glückstadt an der Elbe eine neue Abschiebehaftanstalt eröffnet. Zunächst sollen 12 ausreisepflichtige Menschen dort untergebracht werden. Was ist daran besonders problematisch?
Peter Fahlbusch: Problematisch ist das Konzept, das dahinter steht: Menschen, die keine Straftat begangen haben, werden in einer ehemaligen Kaserne eingesperrt, nur um sie von A nach B zu bringen. Was diese Menschen anstellen, um nicht rückgeführt zu werden, ist furchtbar. Sie laufen buchstäblich mit dem Kopf gegen die Wand. Manche treten in den Hungerstreik, andere versuchen, sich aufzuhängen. Und wieder andere schlucken alles, was ihnen zur Verfügung steht – vom Shampoo bis zu Rasierklingen. Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst Europa hat schon 2010 eine Untersuchung veröffentlicht, die eindeutig zeigt: Abschiebungshaft macht krank. Das deckt sich mit meinen eigenen Erfahrungen. Wenn ich Menschen treffe, die in Abschiebehaft kommen, und ich sie vier Wochen später wiedersehe, sind sie grau im Gesicht, lethargisch und apathisch. Und als Gesellschaft nehmen wir das einfach so hin.
»Mit »unseren« Kindern würden wir so nicht umgehen!«
Werden auch Minderjährige oder traumatisierte Menschen eingesperrt?
Kinder im Knast gibt es mittlerweile nur noch selten, aber auch das kommt vor. Und Bayern hat ein besonders perfides System entwickelt: Da werden Familien, die der Staat abschieben will, einfach getrennt. Ein Elternteil landet in der Abschiebehaft – bei Alleinerziehenden dann die Bezugsperson der Kinder – während die Kinder ins Jugendheim gesteckt werden. Mit »unseren« Kindern würden wir so nicht umgehen!
Den Inhaftierten in Glückstadt stehen ein Kickertisch, Gebetsräume, Sportgeräte und Computer zur Verfügung. Das klingt zynisch – noch ne Runde kickern, bevor man zwangsweise zurückgebracht wird in ein Land, das man hinter sich lassen wollte…
Die neue Abschiebehaft in Glückstadt ist um Lichtjahre besser als das, was wir aus Bayern kennen. Aber es gibt keine ‚gute‘ Haft. Man kann sich das nicht schönreden oder schön bauen. In der Praxis ist es für die allermeisten Menschen brutal belastend, eingesperrt zu sein – mit dem Wissen, zurück geschickt zu werden in ein Land, in das sie nicht wollen. Da ist ein Kickertisch nett, aber die Leute denken deshalb noch lange nicht, sie seien in der Jugendherberge im Urlaub.
Schleswig-Holsteins Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) betont, dass die Abschiebungshaft keine Strafhaft sei. Was ist der Unterschied, wenn hohe Stacheldrahtzäune das Gebäude abschirmen und die Bewohner die Einrichtung nicht verlassen dürfen?
Ja, das ist ein ganz tolles Gefängnis… Sie hören meinen Zynismus. Das Motto von Glückstadt »Wohnen minus Freiheit« klingt fast nach IKEA-Katalog – und ist ein Widerspruch in sich. Es ist kein normales Leben, wenn man von Stacheldrahtzäunen und Mauern umgeben ist und das Gebäude nicht verlassen darf; da kann man noch so viele Sportgeräte hinstellen. De facto ist auch die Einrichtung in Glückstadt ein hochgesichertes Gefängnis. Da kommst du nicht raus.
»Obwohl ja nur Menschen in Abschiebehaft festgehalten werden dürfen, bei denen die Gefahr besteht, dass sie untertauchen, landen auch Alte, Kranke, Schwangere oder Mütter mit Kleinkindern in Abschiebeknästen. Da frage ich mich: Wohin sollen die denn bitte schön abhauen?« Peter Fahlbusch
Wann landet denn überhaupt jemand in Abschiebehaft?
In Abschiebehaft kommt nur jemand, der ausreisepflichtig ist und bei dem die Sorge einer Fluchtgefahr besteht. Das bietet viel Interpretationsspielraum, da kommt das ins Spiel, was ich »Gefühlsjura« nenne: Ob Fluchtgefahr vermutet wird oder nicht, ist sehr subjektiv und hängt auch mit den persönlichen und politischen Einstellungen derjenigen zusammen, die das entscheiden. Die zuständige Kommune kann dann einen Haftantrag stellen. Keine Kommune ist jedoch verpflichtet, das zu tun. Wenn die zuständigen Beamt*innen in der Ausländerbehörde oder im Regierungspräsidium diesen Antrag stellen, hat ein Richter im nächsten Schritt das Ganze zu überprüfen. Obwohl ja nur Menschen in Abschiebehaft festgehalten werden dürfen, bei denen die Gefahr besteht, dass sie untertauchen, landen auch Alte, Kranke, Schwangere oder Mütter mit Kleinkindern in Abschiebeknästen. Da frage ich mich: Wohin sollen die denn bitte schön abhauen?
Nun sollen ja »nur« Menschen, die nicht freiwillig ausreisen wollen und sich ihrer Abschiebung entzogen haben, in Glückstadt untergebracht werden. Viele würden sagen: »Irgendwie muss der Staat doch dafür sorgen, dass die Gesetze eingehalten werden und diejenigen, die gehen müssen, das Land verlassen« – oder?
Wenn man als Gesellschaft akzeptiert, dass Abschiebungen nötig sind, ist das so, ja. Nur gilt die Abschiebehaft laut Europarecht als ultima ratio, als letztes Mittel also. Zunächst müssen alle anderen Wege ausgeschöpft werden. Und interessanterweise ist es ja nicht so, dass mehr Haft zu mehr Abschiebungen führt. Berlin zum Beispiel stellt fast nie Haftanträge, die haben momentan gar keine Abschiebegefängnisse – sind aber, was die Abschiebequoten angeht, ganz vorne mit dabei. Die Bundesregierung hat vor wenigen Tagen auf eine Große Anfrage der Linken im Bundestag geantwortet. Daraus geht hervor, dass die Abschiebungshaft seit 2016 im Vergleich zu den Abschiebungszahlen deutlich zugenommen hat. Das Mittel der Haft wird bei Abschiebungen also immer stärker eingesetzt.
78 Jahre saßen Fahlbuschs Mandanten zusammengerechnet rechtswidrig in Haft
Welche Alternativen zu Abschiebehaft gibt es denn?
Berlin schiebt häufig direkt aus der jeweiligen Wohneinrichtung heraus ab. Auch wenn Menschen aus der eigenen Wohnung oder einem Flüchtlingsheim abgeholt und abgeschoben werden, ist das für die Betroffenen tragisch, aber immerhin setzt man sie dann nicht vorher der zusätzlichen psychischen Belastung des wochen- oder monatelangen Eingesperrt-Seins aus. Oder man macht es wie Belgien, das Ausreisecenter hat, in denen insbesondere Familien engmaschig begleitet werden. Auch eine vernünftige Rückkehrberatung und Starthilfe im Herkunftsland können Alternativen sein zur Abschiebehaft. Und wieso arbeitet der Staat nicht viel stärker mit Meldeauflagen und Kautionen? Menschen, die abgeschoben werden sollen, könnte man verpflichten, sich alle zwei Tage bei der Ausländerbehörde zu melden.
»Im Durchschnitt befand sich jede*r Mandant*in knapp vier Wochen zu Unrecht in Haft. Das ist zutiefst bedenklich und erschüttert mich in meinen Grundfesten.«
An welchem europäischen Nachbarland könnte Deutschland sich orientieren?
Zum Beispiel an der Schweiz! Dort wird ja schon jedem, der ins Land kommt, ein Anwalt zugeordnet. Es ist erbärmlich, dass bei uns hingegen noch nicht mal diejenigen, die in Abschiebehaft gesteckt werden, einen Anwalt bekommen. Das sagt im Übrigen sogar eine engagierte Richterin am Bundesgerichtshof. In einem Aufsatz für das Asylmagazin schrieb sie im vergangenen Jahr, es sei »eines Rechtsstaats nicht würdig«, dass Menschen ohne Anwalt in die Haft geschickt würden.
1.089
rechtwidrig inhaftierte Mandanten
Seit 2001 haben Sie bundesweit 2.141 Menschen in Abschiebungshaftverfahren vertreten. Wie viele Ihrer Mandanten waren zu Unrecht inhaftiert?
1.089 dieser Menschen wurden nach den hier vorliegenden rechtskräftigen Entscheidungen rechtswidrig inhaftiert – das sind 50,9 Prozent (Stand: 6.8.2021). Manche von ihnen nur einen Tag, andere wochen- oder gar monatelang. Zusammengezählt kommen auf die 1.089 Gefangenen 28.670 rechtswidrige Hafttage. Das sind gut 78 Jahre rechtswidrige Inhaftierungen – länger, als der Zweite Weltkrieg zurückliegt. Im Durchschnitt befand sich jede*r Mandant*in knapp vier Wochen zu Unrecht in Haft. Das ist zutiefst bedenklich und erschüttert mich in meinen Grundfesten.
Wie ist das möglich? Wir leben doch in einem Rechtsstaat!
Wie so etwas in einem Rechtsstaat möglich sein kann, frage ich mich auch. Noch dazu gibt es gar keine offiziellen Zahlen dazu. Die Linke hat in der erwähnten Großen Anfrage erneut nach den Zahlen gefragt, aber die Bundesländer behaupten, sie würden das nicht erfassen. Das macht mich schon stutzig. Wir sind doch das Statistik-Weltmeisterland.…! Also kann ich mich nur auf meine eigenen Berechnungen verlassen. Fünfzig Prozent zu Unrecht Inhaftierte – das ist eine absurd hohe Zahl. Aber selbst wenn es nur fünf Prozent wären, wäre es zu viel.
»Im Zweifel für die Freiheit«, lautet ein Grundsatz unseres Rechtsstaats. In puncto Abschiebehaft trifft das aber anscheinend nicht zu. Da sperrt man lieber einmal zu viel ein als einmal zu wenig.« Peter Fahlbusch
Einen großen gesellschaftlichen Aufschrei gibt es nicht. Führen Sie das Desinteresse darauf zurück, dass es sich hier um Menschen ohne deutschen Pass handelt, deren Rechte missachtet werden?
Ja, in der Wahrnehmung gehören diese Menschen nicht zu »uns«. Ich behaupte, wenn herauskäme, dass fünfzig Prozent unserer biodeutschen Wohlstandskinder zu Unrecht kein Bafög bekommen und deshalb ihr Studium abbrechen mussten, wäre was los. Oder wenn man sich vorstellt, dass jede zweite Abrissverfügung eines Hauses fehlerhaft wäre. Das würden die Verantwortlichen politisch nicht überleben. Aber die Menschen in Abschiebehaft haben keine Lobby, das ist das Bittere. Für sie interessiert sich niemand. Außer, es hängt sich jemand auf – dann ist der Medienrummel vorübergehend groß. Es geht aber nicht um Einzelne. Die weinende Frau mit dem Kind auf dem Arm in der Abschiebehaft ist nicht das Problem. Die Abschiebehaft ist ein systemisches Problem, über Jahre und Jahrzehnte gewachsen. Wir sprechen hier nicht von einzelnen, bedauerlichen Fehlern, die gemacht werden – sondern von strukturellen Missständen.
Was sagt der Umgang mit Abschiebekandidaten über unseren Rechtsstaat aus?
In dubio pro libertate, »Im Zweifel für die Freiheit«, lautet ein Grundsatz unseres Rechtsstaats. In puncto Abschiebehaft trifft das aber anscheinend nicht zu. Da sperrt man lieber einmal zu viel ein als einmal zu wenig. Warum? Weil viele mit den Verfahren befassten Personen eher konservativ eingestellt sind? Weil vielen das Vorverständnis fehlt? Weil wir es mit einem mangelnden Kenntnisstand in Behörden und Gerichten zu tun haben? Ich weiß es nicht genau, das müsste dringend mal untersucht werden. Ich sehe das mit großer Sorge. Unser Rechtsstaat zeichnet sich auch dadurch aus, dass wir keine hundertprozentige »Einsperrgarantie« haben – sonst wären wir eine Diktatur. Stellen Sie sich vor, Aldi würde Nacktscanner am Eingang montieren, um Ladendiebstähle komplett ausschließen zu können. Auch das würden wir als freie Gesellschaft ablehnen. Klar, dann bleibt ein Restrisiko, dass man nie »alle« kriegt. Aber wenn am Tag der Abschiebung tatsächlich mal einer nicht da sein sollte – das hält unsere Gesellschaft doch aus.
Befürchten Sie, dass die Abschiebehaft in Glückstadt Vorbild für andere sein wird?
Die braucht es dafür gar nicht. Es werden überall Abschiebegefängnisse gebaut, nicht nur in Glückstadt. Im bayerischen Hof sind gerade 200 neue Plätze geschaffen worden, auch in Passau soll eine neue Haftanstalt entstehen. Und klar ist: Je mehr Plätze, desto mehr Inhaftierte, denn die Einrichtungen sollen ja nicht leer stehen… Vom persönlichen Leid der Menschen einmal abgesehen – was das alles kostet, ist auch interessant. Für die Einrichtung in Glückstadt zahlt jedes der drei beteiligten Bundesländer jährlich sechs Millionen Euro. Und laut der aktuellen Großen Anfrage der Linken im Bundestag liegt zum Beispiel der Tagessatz von Abschiebehaft im hessischen Darmstadt pro Person bei stolzen 445,28 €. Meines Erachtens ist die ganze Abschiebepolitik vor allem Symbolpolitik. Denn mit dem Geld, das der Staat ausgibt, um die Abschiebekandidaten einzusperren, könnte man sie auch ein Leben lang auf Hartz-IV-Niveau hier versorgen. Glaubt denn ernsthaft irgendjemand da draußen, dass Zehntausende Menschen mehr zu uns kommen würden, wenn es keine Abschiebegefängnisse gäbe?
Was fordern Sie, was wäre jetzt nötig?
Von den Parteien, die die neue Abschiebehaft in Glückstadt nur »mit Bauchschmerzen« mittragen – den Grünen etwa – würde ich erwarten, dass sie sich endlich dafür einsetzen, dass jedem, der in Abschiebehaft sitzt, automatisch ein Anwalt zugeordnet wird. Ein Anwalt ist ein zwingend notwendiges Korrektiv. Aber in diesem Punkt eiern alle Parteien rum. Und so ähnelt die Abschiebehaft nach wie vor einer Blackbox. Aber wenn wir als Gesellschaft schon meinen, wir müssten Geflüchtete einsperren, dann müssen wir dafür sorgen, dass diese Menschen anwaltliche Unterstützung bekommen.
Peter Fahlbusch ist seit 1998 als Rechtsanwalt mit dem Schwerpunkt Migrationsrecht tätig, insbesondere in Abschiebungshaftverfahren. Die Stiftung PRO ASYL zeichnete ihn 2019 mit ihrem Menschenrechtspreis aus. Laudatorin Filiz Polat (MdB, Die Grünen) sagte anlässlich der Verleihung: »Es müsste eigentlich einer der größten Justizskandale in unserem Rechtsstaat sein, den Peter Fahlbusch als massenhaften Rechtsbruch so systematisch offengelegt und dokumentiert hat.«
(er)