Abschiebungen nach Afghanistan: Wüst fordert Verhandlungen mit den Taliban

13.6.2024 Nach dem schrecklichen Ereignis in Mannheim, bei dem ein jungen Polizeibeamter zu Tode kam, wurde die unsägliche Debatte um Abschiebungen erneut angefacht. Die sofortigen Reaktionen von Landes- und Bundespolitiker*innen waren überwiegend durch Populismus geprägt, dem u. a. Pro Asyl eine klare Position entgegen setzte (s. Pro Asyl: Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien sind menschenrechtswidrig)

Doch auch nach einigen Tagen wird weiter für Abschiebung ins Land der Taliban gesprochen. In seiner Regierungserklärung am 6. Juni vor dem Bundestag machte Bundeskanzler Scholz seine Position deutlich: "Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich im Bundestag dafür ausgesprochen, Schwerstkriminelle und Gefährder auch in unsichere Länder wie Afghanistan und Syrien abzuschieben. "Solche Straftäter gehören abgeschoben - auch wenn sie aus Syrien und Afghanistan stammen", sagte Scholz in seiner Regierungserklärung. Das Sicherheitsinteresse Deutschlands wiege in solchen Fällen schwerer als das Schutzinteresse des Täters. Über die praktische Umsetzung verhandele das Bundesinnenministerium mit den Nachbarländern Afghanistans. Schwerstkriminelle und terroristische Gefährder hätten hierzulande nichts verloren. Man werde auch nicht länger dulden, dass terroristische Straftaten verherrlicht und gefeiert werden, betonte der Kanzler. Er kündigte an, die Ausweisungsregelungen so zu verschärfen, "dass aus der Billigung terroristischer Straftaten ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse folgt". "Wer Terrorismus verherrlicht, wendet sich gegen alle unsere Werte - und gehört auch abgeschoben", sagte Scholz weiter. (zitiert aus Tagesschau, wo auch die Positionen von Seiten der Grünen berichtet werden: Grüne bei Abschiebungen skeptisch).

Nun mischte sich auch NRW-Landeschef H. Wüst in die Debatte ein.

Die Bundesregierung werde „in den sauren Apfel beißen müssen und Kontakt aufnehmen müssen mit den Taliban, um eine Rückkehr solcher Menschen zu gewährleisten“, sagte der Ministerpräsident. „Das ist eine Zumutung. Völlig klar.“ Aber dem müsse man sich stellen, „bevor es uns hier unsere Gesellschaft auseinanderhaut“, so Wüst. ...  und weiter:

„Wir müssen irreguläre Migration beenden“, forderte Wüst in Richtung der Bundesregierung. Jeden Monat kämen 4000 bis 5000 Menschen nach Nordrhein-Westfalen, im Mai seien es 4500 gewesen – knapp 2000 aus der Ukraine, die übrigen seien Asylsuchende aus verschiedenen Ländern. In den Städten und Gemeinden, die die Schutzsuchenden aufnehmen, könne von Entspannung keine Rede sein, und zum Sommer hin würden die Zahlen eher weiter steigen. „Wenn das so weitergeht, dann wird irgendwann Integration kaum noch eine Rolle spielen. Dann geht es nur noch um Versorgung und Unterbringung“, warnte er vor sozialen Verwerfungen.

Der Ministerpräsident wiederholte seine Forderung nach Fortschritten bei Rückführungsabkommen, damit mehr Abschiebungen möglich werden, und Asylverfahren außerhalb der Europäischen Union. Das werde man zwar nicht kurzfristig umsetzen können, umso wichtiger sei es aber, jetzt daran zu arbeiten. (RP)

Sofort erhielt er Widerspruch vom Koalitionspartner:

Der Grünen-Koalitionspartner in Nordrhein-Westfalen hat Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) bei dessen Forderung nach Abschiebung von Schwerkriminellen nach Afghanistan widersprochen. "Nach der aktuellen Lagebewertung des Bundesinnenministeriums sind Abschiebungen nach Afghanistan aufgrund der dortigen Menschenrechts- und Sicherheitslage rechtsstaatlich nicht zulässig", sagte die Grünen-Landtagsfraktionschefin Verena Schäffer am Donnerstag.... (n-tv)

 

Wir zitieren aus der Rheinischen Post vom 13.06.2024 und anschließend n-tv:

Wüst fordert Verhandlungen mit Taliban „Bevor es uns hier unsere Gesellschaft auseinanderhaut“

Düsseldorf · Deutschland streitet über das Thema Abschiebung. Es sei eine „Zumutung“, aber man werde „in den sauren Apfel beißen müssen“ und mit den Taliban Kontakt aufnehmen müssen, sagte NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU). Ziel wäre es, Schwerstkriminelle und Gefährder loszuwerden. Gegenwind kommt von den Grünen.

NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) dringt auf Verhandlungen mit dem Taliban-Regime, um Straftäter und Gefährder nach Afghanistan abschieben zu können. Die Bundesregierung werde „in den sauren Apfel beißen müssen und Kontakt aufnehmen müssen mit den Taliban, um eine Rückkehr solcher Menschen zu gewährleisten“, sagte der Ministerpräsident. „Das ist eine Zumutung. Völlig klar.“ Aber dem müsse man sich stellen, „bevor es uns hier unsere Gesellschaft auseinanderhaut“, so Wüst.

Hintergrund ist der wohl islamistisch motivierte tödliche Angriff auf einen Polizisten in Mannheim. Der mutmaßliche Täter war ein 25-jähriger Mann afghanischer Herkunft. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte sich bereits in einer Regierungserklärung für Rückführungen Schwerstkrimineller nach Afghanistan ausgesprochen. Man suche nach rechtlichen Wegen, um das zu ermöglichen, und sei mit Nachbarländern Afghanistans im Gespräch. „Ich will ihn da gerne beim Wort nehmen“, sagte Hendrik Wüst.

Gegenwind bekam er von seinem eigenen Koalitionspartner in NRW. Generell schiebt Deutschland seit der Machtübernahme der Taliban nicht nach Afghanistan ab. Nach aktueller Lagebewertung sei das wegen der Menschenrechts- und Sicherheitslage dort auch rechtsstaatlich nicht zulässig, stellte Grünen-Fraktionschefin Verena Schäffer fest. „Wer mit den Taliban über die Rücknahme von Straftätern verhandelt, der stärkt zudem ein brutales islamistisches Terrorregime und unterstützt es womöglich auch finanziell“, sagte sie. „Das ist auch mit Blick auf die von dort ausgehende Terrorgefahr falsch."

Die Debatte entwickelt sich eine Woche vor den nächsten Bund-Länder-Gesprächen in Berlin. Bei der Zusammenkunft der Regierungschefs der Bundesländer mit dem Bundeskanzler soll neben der militärischen Sicherheitslage auch das Thema Migration im Fokus stehen.

„Wir müssen irreguläre Migration beenden“, forderte Wüst in Richtung der Bundesregierung. Jeden Monat kämen 4000 bis 5000 Menschen nach Nordrhein-Westfalen, im Mai seien es 4500 gewesen – knapp 2000 aus der Ukraine, die übrigen seien Asylsuchende aus verschiedenen Ländern. In den Städten und Gemeinden, die die Schutzsuchenden aufnehmen, könne von Entspannung keine Rede sein, und zum Sommer hin würden die Zahlen eher weiter steigen. „Wenn das so weitergeht, dann wird irgendwann Integration kaum noch eine Rolle spielen. Dann geht es nur noch um Versorgung und Unterbringung“, warnte er vor sozialen Verwerfungen.

Der Ministerpräsident wiederholte seine Forderung nach Fortschritten bei Rückführungsabkommen, damit mehr Abschiebungen möglich werden, und Asylverfahren außerhalb der Europäischen Union. Das werde man zwar nicht kurzfristig umsetzen können, umso wichtiger sei es aber, jetzt daran zu arbeiten.

Der Landesintegrationsrat NRW kritisierte die Linie. „Flüchtende aus der EU herauszuhalten, das wird uns eine Weile helfen, ist aber langfristig keine Lösung für dieses globale Problem“, sagte der Vorsitzende Tayfun Keltek. „Es gibt einen Rechtsruck in unserer Gesellschaft, der uns veranlasst, unsere Werte infrage zu stellen, und das bedaure ich sehr.“

Der Städte- und Gemeindebund bestätigte aber Wüsts Schilderung der Problemlage. „Der Befund ist richtig: Wir haben keinen Platz mehr. Die meisten Kommunen sind schon jetzt nur noch damit beschäftigt, den Menschen ein Dach über dem Kopf zu verschaffen“, sagte der Beigeordnete Andreas Wohland. „Die Zugangszahlen sind zwar niedriger als im Herbst und Winter letzten Jahres, treffen aber auf die Situation, dass keine Unterbringungskapazitäten mehr frei sind. Jeder, der dazukommt, überlastet das System.“ Auch Schulen und Kitas seien einfach voll. Der Städte- und Gemeindebund sieht allerdings die Landesregierung in der Verantwortung, kurzfristig für Entlastung zu sorgen. Etwa, indem Geflohene länger in Sammelunterkünften behalten würden, und durch mehr Geld für die Kommunen.

Das bekräftigte die Opposition im NRW-Landtag. „Die Landeseinrichtungen sind zurzeit alles andere als ausgelastet, und dennoch bekommen die Kommunen aktuell zahlreich Geflüchtete zugewiesen“, kritisierte SPD-Fraktionschef Jochen Ott. So waren Zentrale Unterbringungen im Mai zu 70 Prozent belegt, Erstaufnahmeeinrichtungen sogar nur zu 44 Prozent.

FDP-Fraktionschef Henning Höne forderte, der Ministerpräsident müsse „endlich konkrete Maßnahmen zur Bewältigung der Migrationssituation in NRW umsetzen“. Unter anderem die Beschleunigung von Asylgerichtsverfahren, und die Ausländerbehörden bräuchten mehr Kompetenzen.

Derzeit sind Syrien, Afghanistan und die Türkei die Herkunftsländer, aus denen die meisten Menschen in Deutschland Asyl suchen. Nach Zahlen des Bundes gab es von Januar bis Mai deutschlandweit rund 32.000 Erstanträge von Geflohenen aus Syrien, mehr als 16.000 Erstanträge von Afghanen und fast 14.000 von Menschen aus der Türkei. Mit weitem Abstand folgt das Herkunftsland Irak mit rund 4500 Anträgen. Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine fallen nicht unter die Statistik – sie müssen keine Asylanträge stellen. Im vergangenen Jahr wurden bundesweit rund 16.400 Menschen abgeschoben, davon fast 3700 aus NRW.

 

Die Grünen, der Koalitionspartner in NRW, widersprachen Wüst. Dazu n-tv vom selben Tag:

Nordrhein-Westfalen Grüne widersprechen Wüst bei Abschiebung nach Afghanistan

Die schwarz-grüne Koalition in NRW rühmt sich in der Regel für ihre geräuschlose Arbeit. Umso auffälliger ist es, wenn die Grünen dem CDU-Regierungschef öffentlich Kontra geben - wie jetzt geschehen.

Düsseldorf (dpa/lnw) - Der Grünen-Koalitionspartner in Nordrhein-Westfalen hat Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) bei dessen Forderung nach Abschiebung von Schwerkriminellen nach Afghanistan widersprochen. "Nach der aktuellen Lagebewertung des Bundesinnenministeriums sind Abschiebungen nach Afghanistan aufgrund der dortigen Menschenrechts- und Sicherheitslage rechtsstaatlich nicht zulässig", sagte die Grünen-Landtagsfraktionschefin Verena Schäffer am Donnerstag.

"Wer mit den Taliban über die Rücknahme von Straftätern verhandelt, der stärkt zudem ein brutales islamistisches Terrorregime und unterstützt es womöglich auch finanziell", betonte sie. "Das ist auch mit Blick auf die von dort ausgehende Terrorgefahr falsch." Politik sollte nach Worten Schäffers nur versprechen, was auch in der Praxis eingehalten werden könne, sonst schwinde das Vertrauen in Politik und staatliche Institutionen weiter.

Mit Blick auf die tödliche Messerattacke auf einen Polizisten in Mannheim durch einen 25-jährigen Afghanen hatte Wüst sich zuvor für dessen Abschiebung nach Afghanistan und Gespräche mit den dort herrschenden Taliban ausgesprochen. Die Bundesregierung werde dafür "in den sauren Apfel beißen und Kontakt aufnehmen müssen mit den Taliban, um eine Rückkehr solcher Menschen zu gewährleisten", sagte Wüst vor Journalisten in Düsseldorf.

Nach der Mannheimer Messerattacke hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) angekündigt, die Abschiebung von Schwerstkriminellen nach Afghanistan und Syrien wieder ermöglichen zu wollen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) prüft das derzeit. Seit der erneuten Machtübernahme der Taliban in Kabul im August 2021 gilt in Deutschland ein Abschiebestopp für Afghanen.

Öffentlicher Widerspruch der Grünen ist in der NRW-Koalition äußerst selten. Das schwarz-grüne Bündnis rühmt sich in der Regel für seine geräuschlose Arbeit. Mögliche Konflikte dringen fast nie an die Öffentlichkeit.