Abschottung fördert hochriskante Migrationswege - 2023 mehr Ankünfte auf den Kanaren und in Italien

06.01.2024 Dass sich die Migration nicht stoppen lässt, sondern auf immer gefährlichere Wege verlagert, zeigen die Zahlen, die jetzt für das abgelaufene Jahr veröffentlicht wurden. "Wenn es noch einen Beleg dafür braucht, dass sich Migration und Flucht nicht aufhalten lassen, dann ist dieser mit den jüngsten Zahlen aus Italien und Spanien erbracht: Nachdem die libysche Küstenwache im EU-Auftrag immer mehr Geflüchtete auf dem Weg nach Europa abfing, wichen diese für ihre Abfahrten nach Tunesien aus. Weil die dortige Regierung Pogrome gegen die Menschen auslöste, verlagerte sich die Route im Sommer wieder nach Libyen. Gestiegen sind die Gesamtzahlen im vergangenen Jahr trotzdem. Auch die Zunahme der Ankünfte von Booten auf den Kanaren im Atlantik kann durch die europäisch-libysch-tunesische Migrationsabwehr im Mittelmeer erklärt werden. Es ist eine noch tödlichere Route, denn Überfahrten dauern länger und das Meer ist rauer," schreibt dazu Mathias Monroy in einem Kommentar und fragt: "Wie viele Tausend Ertrunkene braucht es noch, bis die EU-Staaten ihre Migrationspolitik ändern und mit den jährlich ausgegebenen Milliarden zur Migrationsabwehr lieber einen würdevollen Umgang mit Schutzsuchenden finanzieren?"

Wir zitieren zwei Beiträge:

AFP-Meldung am 3. Januar 2024 im Stern:

Die Zahl der illegal in Spanien ankommenden Migranten hat sich im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2022 fast verdoppelt. Wie aus am Mittwoch veröffentlichten Daten des Innenministeriums hervorgeht, stieg die Zahl um 82,1 Prozent auf 56.852 Menschen. Es ist der höchste Jahreswert seit 2018, damals waren 64.298 illegal eingereiste Flüchtlinge gezählt worden.

Der deutliche Zuwachs im vergangenen Jahr ist vor allem auf den erheblichen Anstieg auf den Kanaren ankommender Flüchtlinge zurückzuführen. 39.910 Migranten erreichten den Angaben zufolge im vergangenen Jahr die Inseln vor der Nordwestküste Afrikas - ein Anstieg um mehr als 154 Prozent im Vergleich zu 2022 und mehr als im bisherigen Rekordjahr 2006.

Infolge verstärkter Kontrollen im Mittelmeer hat die Migrationsroute über die Kanarischen Inseln in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen, obwohl sie lang und gefährlich ist. Die etwa 1600 Kilometer lange Überfahrt beispielsweise von Senegal zu den Kanaren dauert rund eine Woche unter oft schwierigen Wetter- und Meeresbedingungen. Nach Angaben der Nichtregierungsorganisation Caminando Fronteras kamen zwischen 2018 und 2022 mehr als 7800 Menschen ums Leben oder gelten als vermisst.

Auch die Zahl der Menschen, die über das Mittelmeer nach Spanien kamen, stieg im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2022. Den Angaben zufolge erhöhte sich der Wert um 19,1 Prozent auf 15.435 Menschen. Die Zahl der in den spanischen Exklaven Ceuta und Melilla ankommenden Menschen sank hingegen um rund 46 Prozent auf 1234.

Melilla und Ceuta haben die einzige Landgrenze der EU mit Afrika. Die Gebiete sind deshalb regelmäßig Ziel von Menschen, die sich ein besseres Leben in Europa erhoffen.

nd-Bericht von Matthias Monroy am 4. Januar 2024:

Ankünfte von Geflüchteten in Italien um die Hälfte gestiegen, viele Abfahrten derzeit aus der Türkei Trotz einer rigiden Politik zur Migrationsabwehr hat Italiens Regierung ihre Ziele im Hinblick auf Fluchten über das Mittelmeer nicht erreicht. Das hat der Innenminister Matteo Piantedosi der italienischen Zeitung »La Stampa« am Sonntag in einer Bilanz bestätigt. Im vergangenen Jahr haben demnach mehr als 155 750 Migranten das Land auf dem Seeweg erreicht, gegenüber dem Vorjahr (103 850) ein Anstieg um rund die Hälfte.

»Die Zahl der Ankünfte in diesem Jahr entspricht sicherlich nicht dem Ziel der politischen Maßnahmen, die die Regierung in verschiedenen Richtungen eingeleitet hat, um den Menschenhandel zu bekämpfen und zu besiegen«, sagte der parteilose Regierungspolitiker dazu der Zeitung.

Nach Informationen des »nd« stammten die meisten der in Italien ankommenden Migranten in 2023 aus Guinea, Tunesien, der Elfenbeinküste und Bangladesch. Die meisten Abfahrten nach Italien erfolgten im vergangenen Jahr aus Tunesien (rund 100 000). Nachdem die dortige Regierung jedoch im Februar Pogrome gegen afrikanische Geflüchtete ausgelöst und in der Hafenstadt Sfax verstärkt Razzien durchgeführt hatte, verlagerte sich die Hauptfluchtroute im Sommer wieder nach Libyen. Zum Ende des Jahres kamen deutlich vermehrte Abfahrten aus der Türkei hinzu, die Zahl dort nach Italien startender Boote ist derzeit in etwa so hoch wie jene aus Nordafrika.

Im April hatte die italienische Regierung wegen in großer Zahl ankommender Asylsuchender einen sechsmonatigen »Notstand« ausgerufen. Im Sommer war dann das Erstaufnahmelager auf der Insel Lampedusa zeitweise überfüllt. Inzwischen ist die Situation jedoch wieder entspannt. In Lampedusa lag die Belegung zuletzt bei rund einem Fünftel der Kapazität, in Pozzallo auf Sizilien bei einem Drittel, in Taranto in der Region Apulien bei der Hälfte. Ein weiteres Aufnahmelager in Messina im Nordosten Siziliens mit einer Kapazität von 200 Personen ist komplett leer.

Die undokumentierte Migration übers Mittelmeer einzuschränken war ein zentrales Wahlversprechen der seit Oktober 2022 regierenden Rechtsallianz von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Hierzu hatte die Regierung nach zwei Monaten ein Dekret erlassen, das auf Schiffe der zivilen Seenotrettung zielt. Ein später auch vom Parlament ratifiziertes Gesetz bestimmt, dass nur eine einzige Rettung durchgeführt und danach sofort ein von den Behörden zugewiesener Hafen angesteuert werden muss. Dieser liegt oft Hunderte oder sogar Tausende Kilometer entfernt. Verstoßen Kapitäne gegen die Anweisung, wird ihr Schiff für drei Wochen festgesetzt. Von einer solchen Strafe waren bereits zahlreiche Organisationen betroffen. Zuletzt wurde am Mittwoch das Schiff »Ocean Viking« von Ärzte ohne Grenzen an die Kette gelegt.

Italiens Innenminister Piantedosi betonte gegenüber »La Stampa«, dass noch mehr Menschen an den Küsten Italiens angekommen wären, wenn die Regierung derartige Maßnahmen nicht eingeleitet hätte. Nach seinen Schätzungen seien 121 883 Menschen auf ihrem Weg nach Europa aufgehalten und Hunderte unter dem Vorwurf der »Schlepperei« verhaftet worden.

Damit meint Piantedosi vor allem Bootsinsassen, die von nordafrikanischen Küstenwachen gestoppt und zurückgeholt wurden. Italien hat hierzu ein Abkommen mit Libyen geschlossen, das die Einrichtung eines Lagezentrums und Bereitstellung von Such- und Rettungsschiffen und vorsieht. Die Europäische Union finanziert diese Infrastruktur mit fast 60 Millionen Euro aus Mitteln der Entwicklungshilfe, weitere Gelder, etwa für Ausbildungsmaßnahmen für bislang 500 Angehörige der Küstenwachen, kommen aus anderen EU-Programmen.

Libyen werden jedoch schwere Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen, in Flüchtlingsgefängnissen von Milizen sind die Insassen lebensbedrohlichen Bedingungen ausgesetzt. Im Dezember hatte der Europarat, dem 46 Mitgliedstaaten angehören, die Migrationspolitik der Regierung in Rom scharf kritisiert und ein Ende der Zusammenarbeit mit Libyen, aber auch mit Tunesien gefordert. Die Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic, forderte die italienischen Behörden auf, zivile Such- und Rettungsaktionen nicht zu behindern und die Repressalien gegen die Organisationen einzustellen.

Bei den Versuchen der Menschen, ohne Visum über das Mittelmeer nach Italien zu gelangen und dort Asyl zu bekommen, kam es auch 2023 wieder zu vielen Unglücken. Mindestens 2750 Menschen wurden nach Zahlen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) im vergangenen Jahr im gesamten Mittelmeer vermisst und tot vermutet.

Eine der Organisationen, die im Mittelmeer die Seenotrettung mit einer Notrufnummer unterstützt, ist das Alarm Phone. Nach eigenen Angaben hat das Netzwerk im vergangenen Jahr allein 1203 Fälle im zentralen Mittelmeer bearbeitet. Nach einer festgelegten Routine werden jeweils die zuständigen staatlichen Leitstellen über die Boote in Seenot informiert. Sogar die italienische Küstenwache bestätigt in einer EU-Arbeitsgruppe, dass das Alarm Phone, aber auch die zivilen Rettungsschiffe wichtige Informationsquellen zu Booten in Seenot sind.