09.01.2022 Endlich gibt es einmal gute Nachrichten. Pro Asl berichtet heute:
Gutes Ende nach über vier Jahren Flucht
Eine Familie flieht aus Afghanistan, lebt im Elendscamp Moria und erfährt gewalttätige Pushbacks an der kroatischen Grenze. Sie schaffen es nach Deutschland und sollen zurück nach Kroatien. Durch den Mut der Familie sich an die Öffentlichkeit zu wenden und den Einsatz vieler Unterstützer*innen können sie nun doch bleiben. Das ist ihre Geschichte.
Verfolgung in Afghanistan wegen Tätigkeit für die Bundeswehr
Herr Jacobi floh bereits 1996 nach Deutschland. Er lebte damals in Norddeutschland und ging einer Beschäftigung nach. Mit der damaligen Aufenthaltserlaubnis hatte er keine Möglichkeit, seine Ehefrau nach Deutschland nachzuholen, weshalb er 2003 Deutschland freiwillig wieder verließ. Nach seiner Rückkehr nach Afghanistan begann er für die Bundeswehr zu arbeiten, im in Kabul erbauten ISAF-Camp. Als Dolmetscher war er in der Küche angestellt.
Herr Jacobi zieht mit seiner Frau nach der Tätigkeit bei der Bundeswehr in sein Heimatdorf. Alle im Dorf wissen von seiner Arbeit für die Deutschen. Jahre später, als die Amerikaner den Ort verlassen, erhält er Warnungen, dass die Taliban nach ihm suchen. Bei einer Kontrolle wird er von den Taliban entführt und über zwei Tage gefoltert. Mithilfe eines Bekannten gelingt ihm die Flucht. Die mittlerweile fünfköpfige Familie verlässt das Dorf und flieht nach Kabul.
Kein Visum für die ehemalige Ortskraft: Familie Jacobi muss vor Taliban fliehen
Herr Jacobi versucht daraufhin über die Deutsche Botschaft in Afghanistan ein Visum über die Ortskräfteregelung zu erhalten, vergeblich. Eine Aufnahme nach Deutschland über das Ortskräfteverfahren ist nicht möglich, da dieses lediglich Personen berücksichtigt, die ab 2013 für deutsche Institutionen gearbeitet haben. Herr Jacobis Anstellung endete bereits 2003. Allerdings wird an seinem Schicksal deutlich, dass die Taliban sich nicht für die von der deutschen Bundesregierung eingeführten Stichtagsregelung orientieren, wen sie verfolgt. Wer für »den Westen« gearbeitet hat, bleibt Feind. Dafür gibt es keine Verjährungsfrist.
Darüber hinaus hat PRO ASYL auch schon mehrfach die Eingrenzung der nachzugsberechtigten Personen auf die Kernfamilie kritisiert. Auch hier wird in vielen Fällen deutlich, dass der Kreis zu eng gezogen wurde, da auch volljährige Kinder oder andere im Haushalt lebende Familienmitglieder oder Verwandte, von der Taliban verfolgt werden. Diese werden aufgrund von formalen Kriterien aus dem Verfahren ausgeschlossen und sind somit weiterhin der Gefährdung in Afghanistan ausgesetzt.
Nach einem weiteren Angriff auf Herrn Jacobi durch die Taliban, im Jahr 2018 in Kabul, bleibt als einziger Ausweg, um das Leben der Familie zu retten, die Flucht aus dem Land. Auf der Flucht erfährt die Familie, dass Herr Jacobis Bruder von der Taliban ermordet wurde.
Vier Jahre lebensgefährliche Flucht: Mit dem Schlauchboot nach Moria …
Aus Afghanistan geht es in den Iran, dann in die Türkei und mit dem Schlauchboot nach Griechenland. Dort lebt die sechsköpfige Familie zwei Jahre, acht Monate davon im EU-Hotspot-Lager Moria auf der Insel Lesbos. Die menschenunwürdigen Lebensbedingungen in dem Lager auf Lesbos und anderen Inseln in der Ägäis sind vielfach dokumentiert.
Doch auch die Lager für Asylsuchende auf dem griechischen Festland geraten seit Jahren regelmäßig aufgrund ihrer schlechten Unterbringungsbedingungen in die Schlagzeilen. Ein Leben in der Prekarität erwartet auch international Schutzberechtigte in Griechenland, wie ein Bericht über die »Cartoneros« in Athen zeigt.
Diese extrem schlechten Lebensbedingungen zwingen Asylsuchende dazu, aus Griechenland weiter in ihre Zielländer zu fliehen. Da für sie jedoch keine legalen Reisemöglichkeiten bestehen, müssen sie die gefährliche Balkanroute nehmen.
… über die Balkanroute nach unzähligen Pushbacks in Kroatien weiter nach Deutschland
Die Familie Jacobi flieht Anfang 2021 aus Griechenland über Albanien und Montenegro nach Bosnien. In Bosnien lebt die Familie etwa acht Monate in einem Zelt im Wald. Die Familie berichtet, 20–30 Mal versucht zu haben, Kroatien zu erreichen. Doch jedes Mal wurden sie Opfer von Pushbacks, also illegalen Zurückweisungen, durch die kroatische Polizei.
Auf Fotos, die die Familie gemacht hat, sind kroatische Polizist*innen zu sehen, die die Sachen der Schutzsuchenden durchsuchen. Laut der Familie klaut die Polizei ihnen dabei ihre letzten Ersparnisse. Die Familie ist kein Einzelfall: Pushbacks sind das Fundament des kroatischen Grenzschutzes der letzten Jahre. Diese illegalen Polizeiaktionen sind von diversen weiteren Menschenrechtsverletzungen begleitet.
Die kroatischen Einheiten sind für ihr gewaltsames Vorgehen mittlerweile berüchtigt: Berichte von Schutzsuchenden, Medien, Menschenrechtsorganisationen und dem Anti-Folter-Komitee des Europarats dokumentieren seit Jahren die Misshandlungen von Schutzsuchenden an der bosnisch-kroatischen Grenze. 2021 hat der EGMR Kroatien in einem Pushback-Fall, bei dem ein sechsjähriges Mädchen ums Leben kam, verurteilt.
Doch obwohl Kroatiens Grenzschutz nicht einmal rechtsstaatliche Mindeststandards einhält, stimmen die EU-Innenminister*innen am 08. Dezember 2022 für die Aufnahme Kroatiens in den Schengenraum. Mit dem schrittweisen Wegfall der Binnengrenzkontrollen ab dem 01. Januar 2023 hat die kroatische Regierung eines ihrer größten Ziele erreicht. Möglich wurde dies auch durch jahrelange politische und logistische Unterstützung des kroatischen Grenzschutzes aus Deutschland.
Als die Jacobis es nach den unzähligen Pushbacks endlich nach Kroatien schaffen, fliehen sie weiter über Slowenien, Italien und die Schweiz, bis sie schließlich im Februar 2022 Deutschland erreichen.
Kein Ankommen in Deutschland: Angedrohte Dublin-Abschiebung nach Kroatien
Nach dem Asylantrag in Deutschland erhält die Familie die Unzulässigkeits-Ablehnung durch das BAMF. Aufgrund des mehrmonatigen Aufenthalts in Bosnien und eines unfreiwilligen Asylantrags in Kroatien wurde in Deutschland ein Dublin-Verfahren eingeleitet. Die Familie soll zurück nach Kroatien, wo sie massive Gewalt erlebt hat, und dort das Asylverfahren durchlaufen.
Die durch den Rechtsanwalt eingelegten Rechtsmittel bleiben erfolglos, obwohl es Verwaltungsgerichte in Deutschland gibt, die Abschiebungen verhindern, weil sie aufgrund der Pushbacks systemische Mängel im kroatischen Asylsystem sehen (siehe VG Hannover, VG Stuttgart, VG Freiburg, VG Braunschweig).
Für die Familie und Unterstützer*innen ist es nicht nachvollziehbar, dass für das Dublin-Verfahren, also welches Land für das Asylverfahren im Schengen-Raum zuständig ist, völlig irrelevant ist, dass Herr Jacobi für die Bundeswehr gearbeitet hat und dadurch in der Folge sein und das Leben seiner Familie aufs Spiel setzte. Frau Jacobi ist auf Grund der Erlebnisse in Afghanistan und der jahrelangen Flucht schwer traumatisiert. Auch ihre schwere Erkrankung bleibt bei der Entscheidung unbeachtet.
Aufgrund der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im vergangenen Jahr ist es eindeutig, dass die Familie in Europa bleiben wird. Wieso sollte Sie nach Kroatien müssen, wo doch Hr. Jacobi für die Bundeswehr gearbeitet hat, Deutsch spricht, sich ehrenamtlich im lokalen Fußballverein engagiert und auch bereits als Hausmeisterhelfer in der Flüchtlingsunterkunft aushilft? Diese Aspekte sind aber für das Dublin-Verfahren leider völlig unbeachtlich.
Das gute Ende: Selbsteintritt durch das BAMF
Anfang Dezember kommt die erlösende Nachricht. Das BAMF hat sein Selbsteintrittsrecht ausgeübt. Die Jacobis dürfen bleiben und ihr Asylantrag wird jetzt im nationalen Verfahren in Deutschland geprüft. Dass das BAMF den Selbsteintritt ausgeübt hat, liegt am Mut der Familie durch viele Interviews und Berichte auf Ihre Situation aufmerksam zu machen, an der Unterstützung von Ehrenamtlichen, Bekannten und dem Rechtsanwalt. Der Fußballverein, in dem der älteste Sohn der Familie spielt, veranstaltete beispielsweise eine Solidaritätsveranstaltung für die Familie. Auch die SPD-Vorsitzende Saskia Esken, die in der gleichen Stadt wie die Jacobis lebt, hat sich für die Familie eingesetzt.
Es ist beeindruckend, wie sehr die Familie für ihre Rechte gekämpft und welche Unterstützung sie erfahren haben. Die Jacobis haben Glück, so engagierte Leute an ihrer Seite zu wissen, die sich für sie einsetzen und die Abschiebung nach Kroatien verhindern konnten. Doch warum braucht es dieses Engagement, wenn klar ist, dass die Familie an der kroatischen Grenze Menschenrechtsverletzungen erlebt hat und dort seit Jahren internationales Recht gebrochen wird?
Der nun erfolgte Selbsteintritt zeigt, dass sowohl die ursprüngliche Entscheidung des BAMFs als auch des Verwaltungsgerichts Fehlentscheidungen waren.
PRO ASYL unterstützt die Familie durch das Beratungsteam sowie Mitteln des Rechtshilfefonds.
(ie,dm)