Afghanistan-Aufnahmeprogramm: Gebrochenes Versprechen. Keine Haushaltsmittel mehr dafür?

06.07.2024 Nach längerer Zeit wurde endlich einmal wieder der Stand des Afghanistan-Aufnahmeprogramms thematisiert. Die Bilanz ist erschreckend. Und jetzt droht die Streichung der Gelder dafür im künftigen Haushalt. 

Wir zitieren den aufschlussreichen Bericht von Panorama vom 4. 7. 2024 Rettung von Afghanen: Wieder ein gebrochenes Versprechen und ergänzen aktualisierend durch Berichte aus Bremen (Tagesschau 11.07.2024 Familie aus Afghanistan nachholen? Bremen lehnt etliche Anträge ab  und 12.07.2024 Buten und binnen: Bremens Innensenator weist Kritik wegen Afghanistan-Programm zurück)

Noch einmal akualisiert durch eine

Am Freitag wurde bekannt, dass die Bundesregierung keine Gelder mehr für das für schutzbedürftige Afghan*innen eingerichtete Bundesaufnahmeprogramm im künftigen Haushalt einplant. 

Das Aufnahmeprogramm wurde 2022 eingerichtet, um die Menschen zu schützen, die seit dem chaotischen Rückzug der Bundeswehr (NATO), in akuter Lebensgefahr durch die Herrschaft der islamistischen Taliban sind.

Dazu Maria Sonnek von der Seebrücke: "Als 2022 die Truppen aus Afghanistan abgezogen wurden, wurde schnell klar, dass wir Verantwortung für die Menschen übernehmen müssen, die wir zurückgelassen haben. Expert*innen erarbeiteten mit den Parteien ein Bundesaufnahmeprogramm, welches jetzt abgesägt werden soll. Vor diesem Schritt warnen wir die Bundesregierung deutlich!"

„Bisher sind durch das Bundesaufnahmeprogramm schon bereits deutlich weniger Menschen aufgenommen worden als geplant und versprochen. So wurden insgesamt gerade einmal 533 Menschen evakuiert - angekündigt waren 1000 pro Monat!“ kritisiert Maria Sonnek weiter. „Das ist ein Komplettversagen und der erneute Verrat an den Verfolgten!“

Seit dem Abzug der Truppen, sind viele Menschen in Afghanistan in akuter Lebensgefahr. Insbesondere gefährdet sind beispielsweise Personen, die für die Bundeswehr und in Behörden gearbeitet oder sich für Menschenrechte und Demokratie eingesetzt haben. Die Rechte von Frauen und Mädchen wurden eingeschränkt, sie wurden aus dem alltäglichen Leben verbannt. Queere Menschen und Angehörige von religiösen oder ethnischen Minderheiten sind ebenfalls in großer Gefahr.

„Trotz der noch immer katastrophalen Lage will die Bundesregierung die Betroffenen nun erneut im Stich lassen. Wiederholt zeigt sich, wie weit unsere Minister*innen von einem demokratischen Menschenrechtskompass entfernt sind“, kritisiert Johannes Rückerl und stellt klar: „Man kann keine Unterstützung versprechen und dann Zehntausende ihrem Schicksal überlassen! Wir warnen die Parteien inständig davor, dieses Bundesaufnahmeprogramm aufzugeben. Stattdessen müssen Versprechen endlich gehalten werden. Sorgt endlich dafür, dass Menschen Schutz und Frieden finden!"

Die Seebrücke ist eine breite zivilgesellschaftliche und antirassistische Bewegung, die sich für Seenotrettung, für sichere Fluchtwege und die dauerhafte Aufnahme von geflüchteten Menschen in Deutschland einsetzt.

 

Textmanuskript: Rettung von Afghanen: Wieder ein gebrochenes Versprechen

Anmoderation Anja Reschke: "Wir waren erstmal entsetzt, dass es so menschenunwürdig da drinnen zugegangen ist, hat Herr Wimmer gerade in unserem Beitrag erzählt. Nur durch die furchtbaren Erlebnisse dieses Ehepaars kriegt man überhaupt mal einen Eindruck, was da passiert. Wer guckt denn dahin? Denn am Ende, seien wir ehrlich, will das in Deutschland auch keiner wissen. Wen interessiert es hier gerade, wie es Menschen auf der Flucht geht. Auf Menschenrechte aufmerksam zu machen, das Recht auf Asyl und Schutz, immerhin verankert in unserem Grundgesetz, scheint eher lästig. Hier übertrumpft man sich gerade, wie man im großen Stil abschieben kann. Wie man Deutschland so unattraktiv macht, dass am besten gar keiner mehr kommt. Dabei sind wir sogar Verpflichtungen eingegangen. Etwa in Afghanistan. Wir haben versprochen: Wir bringen euch die Demokratie. Das ist nicht gelungen. Dann haben wir gesagt: Wir helfen denen, die uns in Afghanistan unterstützt haben. Wir haben Menschen sogar bereits die Zusage gegeben, zu uns kommen zu können. Um diese dann im Nachhinein wieder mit neuen Hürden zu kassieren. Armin Ghassim und Andrea Brack Pena."

Islamabad in Pakistan - hier sind viele geflüchtete Afghanen auf dem Weg nach Deutschland gestrandet. Auch Familie Mohammadi. Sie sind vor 3 Jahren aus Afghanistan geflüchtet. In seiner Heimat setzt sich Vater Abdul Khaliq Mohammadi jahrelang für den demokratischen Aufbau ein. Er ist Militärstaatsanwalt. Bis die Taliban 2021 an die Macht kommen - und er fliehen muss.

O-Ton Abdul Khaliq Mohammadi: "Sie wollten, dass ich mich ihnen anschließe. Aber ich sagte nein, ich bin für Freiheit und Menschenrechte."

Menschen wie den Mohammadis verspricht die Bundesregierung damals Schutz vor den Taliban.

O-Ton Annalena Baerbock, Bündnis 90/ Die Grünen, Bundesaußenministerin (23.12.2021): "Sie sind nicht vergessen. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, alle in Sicherheit zu bringen."

Besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen sollen ein Visum für Deutschland erhalten. Die Mohammadis sind ein klarer Fall: Sie werden offiziell als schutzbedürftig anerkannt. Und bekommen eine Aufnahmezusage von Deutschland.

O-Ton Abdul Khaliq Mohammadi: "Wir waren sehr glücklich, dass wir endlich nach Deutschland reisen. Alles, was wir hatten, haben wir verkauft, und die restliche Reise durch Schulden zu finanziert."

Die Familie hat alles vorbereitet. Jetzt fehlt nur noch das Visum, eigentlich eine Formsache. Doch das dauert Monate. Zeit, in der sich die politische Lage in Deutschland ändert. Das Motto jetzt: ‚Wir müssen endlich in großem Stil abschieben!‘ Die Behörden führen eine neue, zusätzliche Hürde ein: Sogenannte "Sicherheitsinterviews", durchgeführt von Bundespolizei und Verfassungsschutz - noch vor dem Abflug. Mit den Fragen an die ganze Familie soll offenbar geklärt werden, ob unter ihnen ein islamistischer Gefährder ist.

O-Ton Shirzad Mohammadi: "Sie fragten, ob ich bisher von meinem Vater geschlagen wurde, auch wenn es nur ganz leicht war. Ich sagte ihnen, dass ich mich nicht erinnern kann, dass mein Vater mich auch nur ansatzweise berührt hat. Die Frage haben sie 2, 3-mal wiederholt. Dann meinten sie plötzlich, wir geben Millionen aus, um hierher zu kommen und euch anzuhören und dann nimmst du das hier so locker?"

O-Ton Shah Bobo Mohammadi: "Sie fragten, ob mein Mann mich zwingt, ein Kopf zu tragen. Nein, das hat er nie getan."

O-Ton Masouda Mohammadi: "Sie fragten, wer von meinen Eltern die meisten Entscheidungen trifft? Ich sagte, meine Mutter trifft die meisten Entscheidungen bei uns und mein Vater stimmt dann meistens zu. Sie lachten dann. Mein Vater hat so lange gedient, dafür dass Menschen gleichberechtigt und in Freiheit leben. Er hat uns Töchtern Freiheit gelassen und wollte, dass wir studieren."

Nichts bei den Mohammadis klingt islamistisch, doch nach dem "Sicherheitsinterview" der Schock:

O-Ton Abdul Khaliq Mohammadi: "Sie sagten nichts, sie brachten uns unsere Dokumente zurück und teilten uns mit, dass die deutsche Regierung uns nicht mehr aufnehmen möchte. Wir haben nach den Gründen gefragt, aber sie konnten uns keine nennen."

Erst auf Nachfrage eines Anwalts kommt später heraus: das Bundesinnenministerium stuft den Familienvater als Sicherheitsrisiko für Deutschland ein. Abdul Khaliq Mohammadi, ein Gefährder?

O-Ton Abdul Khaliq Mohammadi: "Ich möchte nur sagen, dass ich 30 Jahre lang gedient habe. Für die Freiheit und Menschenrechte."

Haben sie irgendeine "falsche" Antwort gegeben? Sie wissen es nicht - und auch wir nicht. Die Akten sind Verschlusssache und damit nicht einsehbar. Jetzt kann die Familie jeden Moment nach Afghanistan abgeschoben werden.

O-Töne Shah Bobo Mohammadi: "Alles, was wir hatten, haben wir verkauft. Wir haben keinen Ort, wo wir bleiben können und keinen Ort, wo wir hingehen können."

Masouda Mohammadi: "Ich hatte schon meine Kleidung für die Ausreise zusammengelegt. Wir dachten, dass es jederzeit losgeht und wir endlich ankommen. Es ist wirklich schwer."

Hans-Hermann Dube ist im Bundestag Sachverständiger in der Enquete-Kommission zu Afghanistan. Dort war er zwölf Jahre lang für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit zuständig. Die Bundesregierung wolle ihr Versprechen gar nicht mehr einhalten, sagt er.

O-Ton Hans-Hermann Dube, Ehem. Leiter GIZ-International Services Afghanistan/Pakistan: "Es war gewollt, es ist nicht mehr gewollt. Und jetzt versucht man es darüber zu diskreditieren, indem man feststellt, dass ganz viele Gefährder sind, die garantiert keine Gefährder sind. Um zu zeigen, wir sorgen dafür, dass wir hier nicht allzu viele Asylbewerber nach Deutschland bekommen.  Aber im internen Gespräch mit Beamten in verschiedenen Ministerien höre ich immer wieder heraus, dass die sich eher dafür schämen, wie wir uns derzeit den z.B. Afghanen gegenüber benehmen."

Gefährdete, die Gefährder, sind? In Pakistan warten tausende Afghanen, die eine Aufnahmezusage haben. Insgesamt 20.000 sollten bisher im Rahmen des Bundeaufnahmeprogramms kommen. Doch erst 533 von ihnen durften real nach Deutschland, also nicht einmal 3%. Mittlerweile zuständig, ist die Bundesinnenministerin Nancy Faeser.

O-Töne: Panorama: "Haben Sie Ihr Versprechen gehalten?"

Nancy Faeser, SPD, Bundesinnenministerin: "Jetzt über das Bundesaufnahmeprogramm, speziell, das stimmt. Da sind nicht so viele gekommen wie gedacht. Da geht es aber auch darum, dass die Menschen einer Sicherheitsüberprüfung unterliegen, danach, wird nach Sicherheitslage entschieden. Ich verantworte die Sicherheitslage in Deutschland, deswegen hat es für mich Priorität."

Auch sie ist angeblich eine Gefahr für Deutschland. Fatima Ahmadi war vor der Taliban-Herrschaft Regierungsbeamtin in der Provinz Bamyán - und für die Koordination von Hilfsorganisationen zuständig. Auch sie ein klarer Fall: bekommt eine Aufnahmezusage. Lernt bereits Deutsch. Doch auch bei ihr dauert es mit dem Visum, auch sie muss plötzlich noch zum "Sicherheitsinterview" in Pakistan.  Hat sie da etwas Falsches gesagt?

O-Ton Fatima Ahmadi: "Sie haben mir überhaupt keinen Grund genannt. Ich dachte, ich würde niemals abgelehnt werden."

Auf Anfrage nennt das Bundesinnenministerium in diesem Fall auch gegenüber einem deutschen Anwalt keinerlei Gründe für die Ablehnung. Klar ist aber: sie wird in Deutschland als Islamistin, als Gefahr gesehen. Eine alleinstehende Frau, die im demokratischen Afghanistan einen Regierungsposten hatte? Eine Frau, die vor einem männlichen Journalisten nicht einmal Kopftuch trägt?

O-Ton Fatima Ahamdi: "Ich habe immer davon geträumt meinem Land bei der Entwicklung zu helfen, wenn Sie mich heute anschauen. Die Person, die Sie auf den Fotos sehen, die bin ich nicht mehr."

Seit der Rücknahme ihrer Aufnahmezusage hat Fatima Ahmadi in 4 Monaten 20 Kilogramm abgenommen, wiegt nur noch rund 40 Kilogramm. Elaha Hakim arbeitet für eine deutsche Hilfsorganisation in Islamabad. Sie unterstützt Hunderte afghanische Flüchtlinge, die hier gestrandet sind - vor allem Frauen.

O-Ton Elaha Hakim: "Ich würde gerne BMI und das Auswärtige Amt gerne hierhin bestellen. Und Sie sollen sich das mal angucken. Ich würde gerne wissen, auf welcher Lage sie eine Ablehnung bekommen hat. Eine Frau, die für die Regierung gearbeitet hat, die tapfer war. Und jetzt ziemlich zerbrochen. Man hat ihr eine Hoffnung gegeben, hierher bestellt und sie zerbrechen lassen."

Ein gebrochenes Versprechen, Tausende Kilometer weit weg, das die Politik in Deutschland wohl am liebsten vergessen möchte.

 

Ein Landesaufnahmeprogramm erlaubt es afghanischen Geflüchteten, ihre Verwandten nach Bremen zu holen. In der Praxis lehnt die Behörde allerdings neun von zehn Anträgen ab.

Nur wenige afghanische Geflüchtete, die in Bremen leben, konnten bisher ihre Angehörigen nachholen. Im Rahmen eines Landesaufnahmeprogramms lehnten die Behörden rund 90 Prozent der Anträge ab. Laut Bremer Innenbehörde wurden seit Beginn des Landesaufnahmeprogramms vor knapp einem Jahr Anträge für mehr als 400 Personen gestellt. 23 von ihnen durften seitdem aus Afghanistan zu ihren Verwandten nach Bremen kommen. Die meisten Anträge wurden aber abgelehnt.

Die Antragsteller konnten laut Behörde nicht nachweisen, dass sie genug Geld haben, um in Bremen für ihre Angehörigen aufzukommen. In vielen weiteren Fällen reichten die verwandtschaftlichen Bindungen nicht aus, um den Anträgen zuzustimmen.

Der Flüchtlingsrat wirft dem Innenressort vor, das Aufnahmeprogramm zum Familiennachzug gegen die Wand gefahren zu haben. Die Behörde verweist auf die Gründe für die Ablehnungen.

Bremens Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) hat die Kritik am Aufnahmeprogramm des Landes für Menschen aus Afghanistan zurückgewiesen. Der Flüchtlingsrat Bremen hatte bemängelt, dass rund 90 Prozent der Anträge von Geflüchteten abgelehnt wurden.

Innenressort: Antragsteller erfüllen Bedingungen nicht

Der Senator für Inneres könne die Unzufriedenheit nachvollziehen, sagte eine Sprecherin zu buten un binnen. Man habe das Aufnahmeprogramm für Afghanen aber keineswegs, wie vom Flüchtlingsrat behauptet, gegen die Wand gefahren. Vielmehr sei der Innensenator beim Start vor knapp einem Jahr der Hoffnung gewesen, dass wesentlich mehr Anträge auf Familiennachzug von afghanischen Geflüchteten bewilligt werden könnten. Bremen müsse sich aber an die Vorgaben des Bundes halten.

Die meisten der Anträge für mehr als 400 Personen sind laut dem Innenressort aus zwei Gründen abgelehnt worden: Entweder habe der Antragsteller nicht für den Lebensunterhalt der Angehörigen aufkommen können oder das Verwandtschaftsverhältnis sei nicht eng genug gewesen, um für einen Familiennachzug in Frage zu kommen.