06.09.2021 und fortlaufend aktualisiert: Zusammenstellung von Nachrichten, Einschätzungen, Forderungen und Petitionen
Nach dem Desaster um die versäumte rechtzeitige Evakuierung von afghanischen Menschen aus höchster Lebensgefahr mehren sich die Forderungen, alles zu tun, um weitere und möglichst sichere Fluchtwege aus Afghanistan zu suchen bzw. zu schaffen. Während die noch amtierende Bundesregierung darauf orientiert, die Flüchtenden mögen doch bitte in den Nachbarländern Afghanistans verbleiben, wie es schon seit Generationen für die Menschen perspektivlos geschieht, verweist Bonn wie andere "Städte Sicherer Häfen" darauf: "Wir haben Platz!" und bieten ihre Aufnahmemöglichkeit und -kompetenz an. "Die Stadt Bonn ist bereit afghanische Ortskräfte aufzunehmen. Das hat die Oberbürgermeisterin Katja Dörner in einem Brief an den Bundesinnenminister angekündigt. Man könne auch mehr afghanische Ortskräfte mit ihren Familien oder andere geflüchtete Menschen aufnehmen, als der Verteilungsschlüssel vorsehe. Dörner .. bekräftigte auch nochmal die Forderung des Deutschen Städtetages, dass es eine nationale Strategie zur Aufnahme der Geflüchteten brauche", berichtete Radio Bonn / Rhein-Sieg bereits am 20.08.2021.
Mittlerweile wurde auch bekannt, dass neben den Ortskräften und Aktist:innen auch bereits seit vielen Jahren in Deutschland lebende Familien, die zum Teil mittlerweile die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen, um ihre Rückkehr bangen. Sie hatten die Sommerferien genutzt, um ihre Angehörigen zu sehen, im Vertrauen auf eine verhältnismäßige und mindestens bis September andauernde Sicherheit. So berichtete der General Anzeiger am 29.08.2021: Mehrere Schüler und Erwachsene aus Bonn sitzen noch in Kabul fest. Auch Naqi A. wartet bislang vergeblich auf die Rückkehr seiner Frau und seiner drei kleinen Töchter aus der afghanischen Hauptstadt. Hilfe erfährt er von der Grundschule, die seine Kinder besuchen. .. Familie wollte eigentlich am 16. August zurückkehren .. zahlreiche Kinder, darunter allein drei von der Bonner Carl-Schurz-Schule. Deren Leiterin Claudia Köse und Sonderpädagoge Daniel Jakubik formulieren einen dramatischen Appell: „Wir fürchten um das Wohl unserer Schülerinnen und Schüler und ihrer Familien.“
17 Bonner Kinder noch in Kabul
meldet der Generalanzeiger am 11./12.September. Insgesamt seien 24 Bonner:innen namentlich bekannt. Eines der Kinder sei verletzt worden. Um die Schulleiterin der Tannenbuscher Carl-Schurz-Grundschule sei ein dichtes Netzwerk von Angehörigen und Unterstützer:innen entstanden.
Petition von Pro Asyl: Afghanistan: Weitere Aufnahme JETZT!
Aus den News von Pro Asyl:
Regierung muss Hilferufe aus Afghanistan ernst nehmen – Breites Bündnis für Aufnahmeprogramme
Am 26. August ist die deutsche Evakuierungsaktion aus Afghanistan beendet worden – und Tausende Menschen harren nun in Verstecken aus, fürchten um ihr Leben und das ihrer Kinder. Andere sind auf der Flucht. Deshalb fordern PRO ASYL und 55 weitere Organisationen: die Aufnahme fortsetzen, Landes- und Bundesaufnahmeprogramme darauf aufbauen!...
und Warnung: Achtung: Nach Evakuierung aus Afghanistan keinen übereilten Asylantrag stellen! "Das BAMF suggeriert den neu in Deutschland angekommenen Menschen, dass sie dringend einen Asylantrag stellen müssten – oder ansonsten nicht bleiben könnten. Dies ist aber falsch!"... (10.09.)
Petition an: NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, Landesregierung NRW
Humanitäre Aufnahme und Bleiberecht für Menschen aus Afghanistan in NRW!
Sea Watch und Kabulluftbrücke informieren laufend über die erste zivile Rettungsaktion, mit deren Hilfe 200 Menschen aus Afghanistan ausgeflogen wurden. Update 02.09.2021:
Evakuierungen müssen weiter gehen: BMI muss Liste öffnen, Kabulluftbrücke macht weiter
Die Evakuierung ist nicht zu Ende: Das Bundesinnenministerium muss die Liste gefährdeter Personen für die Evakuierungen wieder öffnen. Den teils hoch gefährdeten Personen aus der Zivilgesellschaft darf nicht weiter durch bürokratische Hürden eine Flucht verunmöglicht werden. Zahlreiche Initiativen, darunter die Kabulluftbrücke, sammeln bereits seit Tagen die Namen gefährdeter Personen - nur ein Bruchteil davon wurde vom Bundesinnenministerium bisher anerkannt. Zudem wurde die entsprechende Liste ohne, dass relevante zivilgesellschaftliche Akteur*innen informiert wurden, bereits wieder geschlossen. Schriftsteller*innen, Intellektuelle, Frauenrechtsaktivist*innen sitzen nun so in der Falle, obwohl Evakuierungen auch nach dem Abzug der Bundeswehr weiterhin möglich sind. Auch die Kabulluftbruecke.de macht weiter und wird weiterhin versuchen gefährdete Personen bei der Flucht zu unterstützen.Unterstütze und fordere die Rettung aller Gefährdeten aus Afghanistan
Mit einer Pressemitteilung machte das in Bonn ansässige bicc (Internationales Konversionszentrum Bonn / Bonn International Center for Conversion GmbH) am 3. September auf die Lage afghanischer Geflüchteter im Nachbarland Pakistan aufmerksam. In der gerade veröffentlichten neuen TRAFIG Publikation wird festgestellt:
"Jetzt wichtiger denn je: Afghanen in Pakistan brauchen mehr Mobilität und nachhaltige Lösungen zum Bleiben
Mit der Machtübernahme der Taliban Mitte August öffnet sich ein neues Kapitel in der Geschichte der Flucht und Vertreibung der afghanischen Bevölkerung. Derzeit leben bis zu drei Millionen Afghanen im benachbarten Pakistan. Das TRAFIG working paper Nr. 7 zeigt auf, dass der derzeitige Ansatz der pakistanischen Regierung, die Afghanen zu "verwalten" dazu führt, dass sich immer mehr in einem Zustand der langanhaltenden Vertreibung befinden, ohne die Möglichkeit einer legalen oder nachhaltigen Integration.
Die Vertreibung des afghanischen Volkes begann vor mehr als 40 Jahren. Viele von ihnen haben in Pakistan Zuflucht gefunden, wo 2,3 Millionen registrierter Afghanen von der Regierung versorgt werden. Nahezu eine Million Afghanen halten sich in Pakistan ohne Papiere auf. „Die Anwesenheit von Afghanen in Pakistan muss von allen Akteuren, d.h. dem Herkunftsland, dem Aufnahmeland und den Geberländern neu überdacht werden“, unterstreichen die Autoren des TRAFIG working paper Nr. 7 “Figurations of Displacement in and beyond Pakistan”. Die Politik, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und die Gebergemeinschaft müssen den Beitrag der Afghanen zur Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur Pakistans anerkennen und darauf hinwirken, dass sie das Recht haben, auch in Pakistan zu bleiben. „Ein solcher Ansatz ist heute besonders wichtig, da sich abzeichnet, dass mehr Afghanen nach Pakistan fliehen, um dem Leben unter der neuen Regierung zu entkommen“, erklärt Muhammad Mudassar Javed, Direktor der pakistanischen NGO SHARP, die afghanische Flüchtlinge im Land unterstützt, und Mitautor der Studie.
Zwar versucht die pakistanische Regierung Anreize für die Rückkehr zu schaffen, doch sie behindert Afghanen sich innerhalb und außerhalb des Landes frei zu bewegen und somit auch in ihren translokalen und transnationalen Netzwerken verbunden zu bleiben. „Viele afghanische Flüchtlinge haben Familienangehörige, die in anderen Teilen Pakistans oder in anderen Ländern leben, doch ist das Potential dieser Netzwerke, die Menschen in Pakistan aus der langanhaltenden Vertreibung herauszuführen, beschränkt“, schlussfolgert Katja Mielke, Wissenschaftlerin am Friedens- und Konfliktforschungsinstitut BICC und Hauptautorin der Studie, die auf empirischer Forschung zu den Erfahrungen afghanischer Flüchtlinge in Pakistan von 2019 bis Anfang 2021 im Rahmen des von der Europäischen Union finanzierten TRAFIG-Projekts beruht. „Wir haben auch festgestellt, dass der soziale Zusammenhalt zwischen Afghanischen Flüchtlingen und der pakistanischen Aufnahmegesellschaft abgenommen hat. Lokale Netzwerke sind im Alltag von großer Bedeutung doch die Beziehungen zwischen den Gruppen bieten kein emanzipatorisches Potential für die Afghanen“, so Mielke.
Die zweiseitige TRAFIG practice note Nr. 7 “Now more than ever: Afghans in Pakistan need more mobility and durable solutions to stay” ergänzt das working paper. Sie plädiert für ein nationales Flüchtlingsgesetz in Pakistan oder die Umwandlung des derzeitigen pakistanischen Schutzsystems in eine großzügige Visaregelung für Afghanen.
Sie finden das TRAFIG working paper Nr. 7 “Figurations of Displacement in and beyond Pakistan” hier: https://trafig.eu/output/working-papers/figurations-of-displacement-in-and-beyond-pakistan
und die TRAFIG practice note Nr. 7 “Now more than ever: Afghans in Pakistan need more mobility and durable solutions to stay” hier: https://trafig.eu/output/practice-notes/practice-note-no-7
Humanitäre Aufnahme jetzt!
Veröffentlicht am 30. August 2021 von Ulla Jelpke
„Im ersten Halbjahr 2021 hat Deutschland unter dem Strich gerade einmal 47.400 Geflüchtete aufgenommen – aufs Jahr betrachtet ist das weit weniger als Seehofer im Koalitionsvertrag festschreiben ließ. Diese geringe Aufnahme ist beschämend, blickt man auf die weltweit gestiegenen Flüchtlingszahlen. Selbst wenn Deutschland 50.000 besonders gefährdete Menschen aus Afghanistan aufnehmen würde, würde die von Seehofer willkürlich gezogene Obergrenze bei weitem nicht erreicht. Deutschland muss als reiches Land seiner Verantwortung für den Flüchtlingsschutz gerecht werden – wir müssen Menschen in akuter Not jetzt großzügig aufnehmen“, erklärt die innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Ulla Jelpke, zur Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage zu „Berechnungen zum Zuwanderungskorridor für das Jahr 2020 und für das laufende Jahr 2021“. Jelpke weiter:
„Das Grundrecht auf Asyl ist ohnehin nicht kontingentierbar. Angesichts der geringen Aufnahme ist das Gezaudere, das jedes Mal losgeht, wenn es um die rasche Aufnahme von Geflüchteten geht, die aus dem Mittelmeer gerettet werden, erst recht skandalös. Seit September 2020 hat die Bundesregierung sich nicht mehr an der Aufnahme von aus Seenot Geretteten Asylsuchenden beteiligt – das muss sich dringend ändern! Die Hilfsbereitschaft in Deutschland ist groß: Über 260 Städte sind im Rahmen der Seebrücke bereit, mehr Menschen aufzunehmen. Und laut einer Umfrage sind fast zwei Drittel der Bürger und Bürgerinnen dafür, bedrohten Menschen aus Afghanistan Schutz in Deutschland zu gewähren. Das Gerede davon, 2015 dürfe sich nicht wiederholen, ist angesichts des Leids dieser Menschen reinste rechtspopulistische Hetze.“
Im Update zur Petition "Schafft sichere Fluchtwege" schreiben die Initiator:innen von Sea-Eye am 3. September:
EU-Innenminister*innen setzen auf Abschottung
Nach dem endgültigen Abzug der internationalen Truppen in Afghanistan feiern die Taliban ihren Sieg. Hunderttausende Menschen hoffen weiterhin darauf, evakuiert zu werden oder einen anderen Weg zu finden, um ihr Heimatland schnellstmöglich zu verlassen, weil sie unter der Herrschaft der Taliban nicht sicher sind.
Die Taliban geben sich bei Interviews und Pressekonferenzen nach wie vor gemäßigt und friedfertig, doch Berichten zufolge werden noch immer Menschen hingerichtet, entführt und/oder schwer misshandelt. Frauen wurden angewiesen – „zumindest vorerst“ – Zuhause zu bleiben, mit der Begründung, dass „einige ihrer Kämpfer noch nicht gelernt hätten, sie zu respektieren“. In den vergangenen Tagen wurde berichtet, dass die Taliban Unterstützung durch Al-Qaida bekommen, um die Widerstandskämpfer*innen in Panjshir, eine Provinz im Nordosten des Landes, zu bekämpfen.
Zudem werden Lebensmittel, Hygieneartikel, Medizin und andere Güter immer knapper. Besonders außerhalb der Städte herrsche eine „riesige humanitäre Krise“ (Asuntha Charles, World Vision in Afghanistan). Einige Länder, wie zuletzt Schweden, haben aufgrund der Machtübernahme dringend benötigte Hilfszahlungen eingestellt. Die WHO warnt vor Krankheiten und Seuchen. (Tagesschau, NTV, The Quint, ZDF)
Währenddessen treffen sich Europas Innenminister*innen und entwerfen gemeinsam Pläne zu weiteren Abschottungsmaßnahmen der EU, um „unkontrollierte, illegale Migrationsbewegungen wie in der Vergangenheit [zu] verhindern“. Dabei soll besonders auf „finanzielle Unterstützung“ afghanischer Nachbarländer gesetzt werden. Mit diesen Ländern - Pakistan, Usbekistan, Tadschikistan - will die EU auch zusammenarbeiten, um illegale Migration zu verhindern. So soll der Grenzschutz verstärkt werden, „um Schleusern das Handwerk zu legen“. (Tagesschau)
Dass Schleuser*innen eines von vielen Symptomen einer gescheiterten, menschenverachtenden Politik sind, wird dabei völlig außer Acht gelassen. Augenscheinlich geht es den Verantwortlichen in erster Linie darum, die eigene Verantwortung für die bestehenden Zustände von sich zu weisen und bequeme Scheinlösungen zu finden.
Wir dürfen nicht zulassen, dass die fliehenden Menschen nun in weiteren Elendslagern landen und dort in Vergessenheit geraten, ohne Aussicht auf ein sicheres Leben in Frieden.
Wir dürfen nicht zulassen, dass bereits evakuierte Menschen in Deutschland hinter Mauern und Stacheldraht in sog. Ankerzentren untergebracht werden, eingesperrt und isoliert von ihrer neuen Umgebung. (BR)
Wir stehen in der Pflicht, den schutzsuchenden Menschen wahren Schutz zu ermöglichen. Wir müssen ihnen ermöglichen, ihr Heimatland auf möglichst sicheren Wegen verlassen und in einem möglichst sicheren Umfeld ankommen zu können.
Aus diesem Grund fordern wir weiterhin die sofortige Einrichtung von sicheren Fluchtwegen aus Afghanistan.
Keine Scheinlösungen, keine weiteren „Flüchtlingspakte“.
Bitte helft uns dabei, auf das Leid und die Rechte der schutzsuchenden Menschen aufmerksam zu machen.
- Teilt die Petition.
- Informiert euch und sensibilisiert euer Umfeld für das Thema, besonders in Anbetracht der bevorstehenden Wahlen.
- Schließt euch Hilfsorganisationen, Helfer*innenkreisen für Geflüchtete o. Ä. an und organisiert euch.
Nur gemeinsam können wir etwas bewegen!
Vielen Dank!
Axel Pasligh, Gorden Isler, Joana Weinmann, Sophie Weidenhiller
- von Sea-Eye e. V.