Alarmierend: Europaweit werden mehr als 51.000 minderjährige Geflüchtete vermisst

30.04.2024 Erschreckend viele minderjährige Geflüchtete werden nach ihrer Ankunft in Europa vermisst. Das Journalistennetzwerk LOST IN EUROPE spricht von 51.000 europaweit, darunter laut BKA mehr als 2.000 in Deutschland. Seit 2021 hat sich die Zahl verdoppelt.

Noch vor drei Jahren lag diese Zahl bei etwa 18.300. Auch in Deutschland sind die Zahlen in diesem Zeitraum deutlich gestiegen, von 724 im Jahr 2021 auf heute 2.005.

In Deutschland gehen Fachleute davon aus, dass viele deshalb ihre Einrichtungen verlassen, weil sie mit der langen Verfahrensdauer unzufrieden sind, sich in anderen Ländern schnellere Hilfe erhoffen, oder eigentlich zu Verwandten oder Freunden in anderen europäischen Ländern wollten. Das BKA bestätigt diese Vermutung.

In Deutschland seien ... die Strukturen derzeit sehr überlastet, sagt Helen Sundermeyer vom Bundesverband für unbegleitete minderjährige Geflüchtete (BumF). "Gerade am Beginn oder nach der Ankunft der jungen Menschen beobachten wir, dass das der Zeitpunkt ist, wo die meisten jungen Menschen als vermisst gemeldet werden." Denn in dieser Phase habe man die Betreuungsstandards gesenkt, um trotz Personalmangels die Versorgung sicherzustellen.

Die Überlastung der Hilfsstrukturen ist gepaart mit lückenhaften Daten über den Verbleib der Kinder und Jugendlichen. Die Folgen können für die jungen Menschen gravierend sein, warnt Theresa Keil vom Deutschen Kinderhilfswerk. "Wenn Kinder als vermisst gelten, müssen wir davon ausgehen, dass sie besonderen Risiken ausgesetzt sind. Das kann sein, dass sie kriminellen Organisationen in die Hände fallen, dass sie ausgebeutet werden, sexuellen Missbrauch erfahren. Solche Fälle kennen wir."  

Über die Recherche berichten heute zahlreiche Medien. Wir zitieren hierzu die Zeit und die Tagesschau:

 

Während sie auf ihre Registrierung warten, verschwinden viele junge Geflüchtete. Journalisten sprechen von 51.000 Menschen – die EU von einem kaputten Migrationssystem.

Europaweit werden 51.433 unbegleitete Kinder und Jugendliche vermisst, nachdem sie sich in staatlicher Obhut befunden haben. Das ergibt eine Datenrecherche des internationalen Journalistennetzwerks Lost in Europe, zu dem auch der Rundfunk Berlin-Brandenburg (RBB) gehört. Die Behörden haben demnach keinerlei Kenntnisse über den Verbleib der jungen Menschen.

Angaben des BKA zufolge werden in Deutschland 2.005 minderjährige Geflüchtete gesucht. Häufig verschwinden sie während der langen Vermittlungszeiten. Dem RBB zufolge dauerte es etwa in Berlin im vergangenen Sommer bis zu neun Monate, ein Zuhause für die Kinder und Jugendlichen zu finden. Diese Zeit verbringen sie meist in sogenannten Clearinghäusern oder Jugendhilfeeinrichtungen – ohne viel Privatsphäre oder Ansprechpersonen.

Seit 2021 mehr als doppelt so viele Vermisste

Die für Migration zuständige EU-Kommissarin für Inneres, Ylva Johansson, sagte dem RBB zu der Recherche über das Migrationssystem in Europa: Sie könne die Zahlen nicht bestätigen. "Aber ich kann bestätigen, dass wir ein kaputtes Migrationssystem haben", sagte sie.

Die Anzahl vermisster Kinder und Jugendlicher hat sich der Recherche zufolge seit 2021 mehr als verdoppelt: Damals wurden europaweit 19.290 Geflüchtete vermisst. In Deutschland waren es 792.

Besondere Risiken für Kinder auf der Flucht

Zwischen den Statistiken der Länder wurden in der Analyse deutliche Unterschiede sichtbar: Von 31 angefragten europäischen Staaten erheben nur 13 vergleichbare Daten. Dabei meldeten einige Länder, wie Italien und Österreich, mit jeweils über 20.000 verschwundenen Kindern und Jugendlichen besonders hohe Zahlen. Andere wie beispielsweise Spanien oder Griechenland sammelten demnach gar keine Informationen über unbegleitete Kinder und Jugendliche.

Fachleute warnen vor besonderen Risiken, denen unbegleitete Kinder und Jugendliche auf der Flucht ausgesetzt sind. So könnten sie laut Beobachtungen des Deutschen Kinderhilfswerks kriminellen Organisationen in die Hände fallen oder sexuellen Missbrauch erfahren.

Im Mai soll der EU-Migrationspakt verabschiedet werden. Das EU-Parlament hat der umstrittenen Reform bereits zugestimmt. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl sieht darin einen "historischen Tiefpunkt für den Flüchtlingsschutz" – auch von Kindern und Jugendlichen. Zwar beinhaltet der Pakt sowohl die bessere Registrierung von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten als auch europaweite Vorgaben zur Vermittlung von Betreuungspersonen. Jedoch gelten verpflichtende Grenzverfahren unter Haftbedingungen demnach auch für Kinder.

 

Die Bundespolizisten trauten ihren Augen nicht, als sie spät abends im September 2023 kurz hinter der deutsch-polnischen Grenze einen Mercedes-Transporter mit schwedischem Kennzeichen stoppten: Am Steuer saß ein 15-jähriger syrischer Junge. Im Frachtraum nicht etwa Kisten oder Pakete, sondern 27 syrische und jemenitische Geflüchtete, die nach Deutschland geschleust werden sollten.

Der syrische Junge war in Deutschland kein Unbekannter. Zwei Jahre lang lebte er als Geflüchteter in einer thüringischen Kinder- und Jugendeinrichtung. Mit 13 war er ohne Eltern oder andere Angehörige nach Deutschland gekommen.

Solche unbegleiteten Minderjährigen werden nach ihrer Registrierung in einer Erstaufnahmestelle bundesweit verteilt und von den Jugendämtern in eine Unterkunft vermittelt. Dort sollen sich Betreuer um sie kümmern. Oft gelingt das, doch immer wieder geht etwas schief - und die Kinder und Jugendlichen verschwinden aus den Einrichtungen. Und damit verschwinden sie oft ganz vom Radar der Behörden, und das europaweit.  

Große Defizite bei der Datenerhebung 

51.433 minderjährige Geflüchtete werden aktuell in ganz Europa vermisst. Das ergibt eine exklusive Datenrecherche des europäischen Journalistennetzwerks "Lost in Europe", zu dem neben dem belgischen "De Standaard" und der niederländischen Tageszeitung "NRC", auch die italienische Nachrichtenagentur ANSA und rbb24 Recherche gehören.

Noch vor drei Jahren lag diese Zahl bei etwa 18.300. Auch in Deutschland sind die Zahlen in diesem Zeitraum deutlich gestiegen, von 724 im Jahr 2021 auf heute 2.005.

Wenn minderjährige Geflüchtete aus der Obhut der Behörden verschwinden, müssen sie als vermisst gemeldet werden. Manche tauchen nach einigen Tagen wieder auf, in einer anderen Stadt, einer anderen Kommune. In Deutschland gehen Fachleute davon aus, dass viele deshalb ihre Einrichtungen verlassen, weil sie mit der langen Verfahrensdauer unzufrieden sind, sich in anderen Ländern schnellere Hilfe erhoffen, oder eigentlich zu Verwandten oder Freunden in anderen europäischen Ländern wollten. Das BKA bestätigt diese Vermutung.

Die europaweite Recherche ergibt: Auch in anderen Ländern lassen sich die Ursachen für das Verschwinden der Jugendlichen oft nicht genau feststellen. Ein Grund ist, dass der innereuropäische Datenaustausch oft nicht funktioniert.

Deutsche Strukturen überlastet 

In Deutschland seien außerdem die Strukturen derzeit sehr überlastet, sagt Helen Sundermeyer vom Bundesverband für unbegleitete minderjährige Geflüchtete (BumF). "Gerade am Beginn oder nach der Ankunft der jungen Menschen beobachten wir, dass das der Zeitpunkt ist, wo die meisten jungen Menschen als vermisst gemeldet werden." Denn in dieser Phase habe man die Betreuungsstandards gesenkt, um trotz Personalmangels die Versorgung sicherzustellen.

Die Überlastung der Hilfsstrukturen ist gepaart mit lückenhaften Daten über den Verbleib der Kinder und Jugendlichen. Die Folgen können für die jungen Menschen gravierend sein, warnt Theresa Keil vom Deutschen Kinderhilfswerk. "Wenn Kinder als vermisst gelten, müssen wir davon ausgehen, dass sie besonderen Risiken ausgesetzt sind. Das kann sein, dass sie kriminellen Organisationen in die Hände fallen, dass sie ausgebeutet werden, sexuellen Missbrauch erfahren. Solche Fälle kennen wir."  

So wie der 15-jährige Syrer, der im September in Sachsen von der Bundespolizei festgenommen wurde. Er soll einem Zeitungsbericht zufolge vor Gericht ausgesagt haben, dass ihn genau jener Schlepper angeworben habe, der ihn selbst zwei Jahre zuvor nach Deutschland gebracht hat.

Dass so eine Anwerbung überhaupt gelingen kann, liegt laut Sundermeyer auch an der Perspektivlosigkeit, mit der viele jugendliche Geflüchtete in Deutschland konfrontiert sind. "Im Moment haben wir an ganz vielen Stellen eine schlechte Betreuung, und zu viele Nicht-Fachkräfte, die weder Zeit noch Ressourcen haben, diese Orientierung zu geben." Für Geldversprechen oder andere unseriöse Lockangebote können Jugendliche dann besonders empfänglich sein.

Migrationspakt soll Registrierung erleichtern 

Auch EU-Kommissarin Johansson sieht die Gefahr, dass "unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Opfer von Menschenhändlern werden, wenn sich diese Minderjährigen bereits in der EU befinden".  

Immerhin soll jetzt ein einheitliches Registrierungssystem für unbegleitete minderjährige Geflüchtete eingeführt werden. Das löst zwar nicht das Problem der aktuell vermissten Kinder. Doch die EU-Länder sollen nun bessere Voraussetzungen schaffen und die Vermittlung von Ansprechpersonen und Vormündern erleichtern.

Doch von den geplanten Rechtsvorgaben ist erst ein kleiner Teil verabschiedet. Die finale Abstimmung ist im Mai. Danach müssen die Mitgliedsländer die neuen Vorgaben noch in nationales Recht überführen. "Ich habe von allen 27 Staaten die Zusage bekommen, dass sie das tun werden", sagt EU-Kommissarin Johansson.

Notfalls bleibe noch die Möglichkeit, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen ein säumiges Land einzuleiten. Diese Verfahren dauern Jahre.