Als Arzt im Flüchtlingscamp Mavrovouni auf der Insel Lesbos - ein Bericht

10.06.2022 Dr. med. Arndt Dohmen war mit der Organisation Medical Volunteers International sieben Wochen lang im Flüchtlingscamp Mavrovouni auf der Insel Lesbos, um dort bereits zum 2. Mal als Arzt zu helfen. In seinem Gastbeitrag für PRO ASYL zieht er Bilanz. Sein Resumee:

"Die Lebensbedingungen der Menschen im Camp sind etwas besser geworden als vor einem Jahr. Das ist allerdings leider nur ein vorübergehender Zustand, denn die griechische Regierung plant mit Nachdruck den Bau eines neuen Lagers, weit abgelegen von allen menschlichen Siedlungen im Zentrum der Insel. Dieses Lager, das von einer hohen Mauer umgeben sein soll, wird einem Gefängnis noch ähnlicher sein als Kara Tepe (heute: Mavrovouni).

Die Abschreckungspolitik und Missachtung wesentlicher Menschenrechte, die in der Europäischen Charta der Grundrechte feierlich versprochen werden, geht an den europäischen Außengrenzen weiter und wird sogar noch verschärft. Der Rechtsbruch der Pushbacks wird ausgeweitet, denn inzwischen werden auch Flüchtlinge wieder aufs Meer und zurück in die Türkei getrieben, die den griechischen Boden bereits betreten haben.

... Warum zählt das Leid eines Flüchtlings aus Afghanistan, Syrien, dem Jemen oder aus durch Terror bedrohten afrikanischen Ländern nicht genauso wie das der Menschen, die jetzt aus der Ukraine zu uns kommen? ...

Am meisten beeindruckt hat mich der Besuch im Englischunterricht der selbstverwalteten »Star School« mitten im Camp. Alle hatten als Hausaufgabe einen kurzen Vortrag zu einem selbst gewählten Thema vorbereitet. Ein 17-Jähriger aus Afghanistan sprach über das Thema Migration und fasste seine Gedanken so zusammen: »Niemand verlässt sein Heimatland aus freien Stücken. Wir wollen uns in Europa nicht bereichern, wir sind hier, weil unser Leben im eigenen Land bedroht ist. Wenn ich mal für kurze Zeit einer der politischen Führer in Europa sein könnte, würde ich als erstes denen, die in solcher Not hierher kommen, menschenwürdige Lebensbedingungen und Chancen für ein ganz normales Leben gewähren und sie nicht wie Verbrecher in gefängnisähnlichen Lagern unterbringen.«

Besser kann ich nicht in Worte fassen, was mich am Ende meines zweiten Einsatzes auf der Insel Lesbos bewegt und bedrückt.

 

Nichts ist gut an Europas Außengrenzen!

Dr. med. Arndt Dohmen war mit der Organisation Medical Volunteers International sieben Wochen lang im Flüchtlingscamp Mavrovouni auf der Insel Lesbos, um dort als Arzt zu helfen. In seinem Gastbeitrag für PRO ASYL zieht er Bilanz.

Einen Tag vor meiner Rückreise aus Lesbos hat der russische Überfall auf die Ukraine begonnen, der auch unser sicher geglaubtes Leben in Frieden und Freiheit auf absehbare Zeit bedroht. In dieser Zeit verlieren andere Ereignisse an Bedeutung und so gerät auch das Schicksal der nicht weniger bedrohten Menschen aus anderen Teilen der Welt, die an den südlichen Außengrenzen unseres Kontinents ebenfalls auf unsere Solidarität hoffen, aus dem Blick. Mit dem folgenden Bericht möchte ich einen Einblick geben in das trostlose Leben ohne Zukunftsperspektive, das die Menschen in den griechischen Flüchtlingslagern führen.

Langsam schaukelt mich die Fähre durch die unruhigen Wellen der Ägäis von Lesbos zurück nach Piräus und erneut liegen sieben Wochen hinter mir, in denen ich mit dem Team der Medical Volunteers International bei der medizinischen Versorgung der Flüchtlinge im Camp Kara Tepe (heutiger Name: Mavrovouni Camp) geholfen habe. Vor genau einem Jahr war ich zum ersten Mal auf dieser Insel, und die Eindrücke von damals hatten mich das ganze Jahr über nicht losgelassen: die dramatischen Schicksale der Menschen, ihre Hoffnungen auf und ihre Enttäuschung über Europa nach der Ankunft in seeuntauglichen, überfüllten Schlauchbooten.  Damals wie heute landet nur ein Viertel der Menschen, die in der Türkei gestartet sind, wirklich in Griechenland, weil die griechische Küstenwache gemeinsam mit der europäischen Grenzpolizei Frontex die meisten Menschen mit Gewalt wieder zurückdrängt aufs Meer und in die Türkei, die für  viele nur eine der endlosen Stationen ist auf dem lebensgefährlichen Fluchtweg aus ihren Heimatländern.

Abgeschoben nach Afghanistan an Seehofers 69. Geburtstag 

Wieder bin ich nach der Ankunft gleich ins Camp zur ersten Sprechstunde gefahren. Für mich war dieser erste Tag geprägt vom Wiedersehen mit einigen Leuten, die ich vom letzten Jahr schon kannte. Einer dieser Bekannten war unser afghanischer Dolmetscher, der am 69. Geburtstag unseres ehemaligen Innenministers Seehofer nach mehreren Jahren, in denen er in Deutschland zur Schule gegangen war, im Abschiebeflieger nach Afghanistan gesessen hatte. Damals hieß es, nur straffällige Menschen seien abgeschoben worden. Sein Vergehen: Er war 18 Jahre geworden und hatte nun als Erwachsener kein Anrecht mehr, bei seiner Familie in Deutschland zu bleiben. Er war nicht einmal in Afghanistan geboren, denn seine Familie war schon während der ersten Talibanherrschaft in den Iran geflohen. Nichts verband ihn also mit diesem Land, und so machte er sich schon bald wieder auf den Weg zur zweiten Flucht über die Türkei, wo er elf Anläufe brauchte, um unbemerkt von der griechischen Grenzwache wieder europäischen Boden zu erreichen.

Es war beschämend, als Deutscher von ihm überaus herzlich begrüßt zu werden, und es wird mir in Erinnerung bleiben, mit welcher Fröhlichkeit er auch jetzt wieder unser Team durch seine Übersetzungen unterstützte, obwohl seine Lebensperspektive weiterhin hoffnungslos ist, denn zweimal war sein Asylantrag inzwischen wieder abgelehnt worden. Erst die aktuelle Talibanherrschaft macht seine persönlichen Aussichten auf eine positive Asylentscheidung deutlich wahrscheinlicher. Solange lebt er aber illegal in Griechenland, und jede Polizeikontrolle kann erneut dramatische Konsequenzen haben.

Abdullah entwickelte eine App für eine improvisierte Apotheke

Auch Abdullah aus Afrika gehörte zu meinen Bekannten vom vergangenen Jahr, der trotz Ablehnung des eigenen Asylantrages sein großes Organisationstalent jeden Tag seinen Mitmenschen und uns NGOs zur Verfügung stellt, weil er eine zentrale Koordinationsfunktion in der medizinischen Versorgung innehat und wesentlichen Anteil daran, dass sich die chaotische Medikamentenlagerung des letzten Jahres inzwischen zu einer professionell geführten Apotheke entwickelt hat, für deren Lagerhaltung er sogar eine eigene App entwickelt hat, die wir alle tagtäglich in der Sprechstunde benutzen.

Gerade unsere Dolmetscher, die überwiegend selbst seit langem als Betroffene im Camp leben, werden durch die Zusammenarbeit mit den verschiedenen NGOs hautnah mit extrem ungerecht verteilten Lebenschancen konfrontiert, denn wir Freiwilligen kommen aufgrund eigener Entscheidung auf die Insel und teilen einige Wochen den Alltag mit ihnen, bevor wir nach einem manchmal emotionalen Abschied wieder in unsere privilegierte Welt zurückfliegen.

Warum nur noch wenige Flüchtlinge auf Lesbos ankommen

  • Vor einem Jahr wurden Genehmigungen zur Weiterreise aufs Festland sehr restriktiv gehandhabt – medizinische Gründe wurden nur anerkannt, wenn es sich um lebensbedrohliche Erkrankungen handelte, die auf der Insel nicht behandelt werden können. Inzwischen hat sich die politische Linie der Regierung in diesem Punkt geändert. Jetzt ist es das Ziel, möglichst keine Flüchtlinge mehr längerfristig auf den Inseln zu behalten, sondern viele aktiv auf das Festland zu schicken in der Hoffnung, dass die Menschen Griechenland möglichst schnell den Rücken kehren. Und so ist die Flüchtlingspolitik auch konsequent auf Abschreckung ausgerichtet, denn anerkannte Flüchtlinge müssen innerhalb von spätestens 30 Tagen die Unterkünfte in den Camps verlassen, bekommen parallel dazu aber alle Hilfen gestrichen nach dem Grundsatz, dass jede*r selbst für sein/ihr Leben verantwortlich.
  • Die systematischen Zurückweisungen (sogenannte Pushbacks) der ankommenden Flüchtlinge sind in den letzten Monaten weiter verschärft worden. Konzentrierte sich früher die Küstenwache darauf, Boote auf dem Meer aufzubringen und mit teilweise gewagten Manövern in Richtung Türkei abzudrängen, so werden jetzt auch Menschen, die schon die Insel erreicht haben, wieder in die Boote zurückgezwungen und in Richtung Türkei geschleppt. Im Camp ist uns aufgefallen, was uns auch von anderen Stellen bestätigt wurde: Die Pushbacks erfolgen unterschiedlich hart je nach Nationalität der Bootsinsassen. Afghan*innen werden besonders häufig abgewiesen. Neuankömmlinge kommen inzwischen fast nur noch aus afrikanischen Ländern, während das bisher häufigste Herkunftsland Afghanistan bei den neu Ankommenden kaum noch vertreten ist. Das Kalkül dahinter ist leider sehr offensichtlich: Asylanträge von Afghan*innen werden seit der Machtübernahme der Taliban fast ausnahmslos anerkannt, diese Menschen bleiben also für lange Zeit in Griechenland. Afrikanische Flüchtlinge haben dagegen schlechte Aussichten auf Anerkennung und können so ohne längerfristige Folgen den Asylprozess durchlaufen, um am Ende ganz legal mit gültigem Ablehnungsbescheid abgeschoben zu werden.

 

Die alltäglichen Lebensbedingungen im Camp haben sich innerhalb des letzten Jahres verbessert. Bedingt durch die rückläufige Belegung können Familien weitgehend in kleinen Containern untergebracht werden und haben damit ein Minimum an Privatsphäre. Nur alleinstehende Männer wohnen weiterhin in großen Zelten mit unzureichender Abgrenzung der verschiedenen Wohnbereiche. Allein lebende Männer sind nicht nur in dieser Hinsicht inzwischen die am meisten benachteiligte Gruppe unter den Flüchtlingen geworden.

Auf dem Weg vom Parkplatz in die Klinik musste der 36-jährige Mann sich hinsetzen, weil er keine Kraft mehr hatte. Wir begleiteten ihn bis in die Notaufnahme und verließen diese erst, als dem Patienten eine Infusion angelegte worden war und die zuständige Ärztin uns zugesichert hatte, ihn aufzunehmen und alle erforderlichen Untersuchungen zu veranlassen.

Der schwierige Umgang mit psychischen Traumatisierungen

Waren Gespräche mit Patient*innen nur durch Vermittlung nicht professioneller, wenn auch hoch motivierter Dolmetscher*innen möglich, entgingen uns in der Sprechstunde oft wichtige Informationen. Kleine Missverständnisse sind da noch die gelegentlich überflüssige Röntgenuntersuchung der Lunge zweimal innerhalb einer Woche, weil wir vom Patienten nicht informiert worden waren, dass zuvor bereits eine andere NGO konsultiert worden war und dieselbe Untersuchung veranlasst hatte. Wirklich problematisch aber wurde es, wenn wir nicht genug über die psychische Traumatisierung oder die drohende Suizidalität einer Patientin erfuhren, weil zeitweise nur männliche Ärzte im Einsatz waren oder nur männliche Dolmetscher einer seltenen Sprache zur Verfügung standen. In diesem Setting ist es aus kulturellen Gründen Frauen oft gar nicht möglich, über ihre wirklichen Probleme zu sprechen, und so blieben nur die vordergründigen Klagen über Kopf- oder Rückenschmerzen. Diese Problematik ist inzwischen leider in unserer Sprechstunde alltäglich.

An einem meiner letzten Arbeitstage waren fast alle meiner männlichen Patienten Opfer von Folter, und drei Patientinnen aus Sierra Leone waren in ihrem Heimatland beschnitten worden und hatten auf der Flucht viele Male Vergewaltigungen erlebt. Die Medical Volunteers International haben dieses Problem erkannt und bieten für unsere Patient*innen ein psychologisches Assessment an mit anschließender Anbindung an die für die spezielle Problematik am besten geeignete NGO. Wir nutzen in unserer Sprechstunde wegen dem häufigen Auftreten schwerer, teilweise psychosomatischer Traumata diese Möglichkeit sehr großzügig. Und oft habe ich während des Gespräches mit einer Patientin eine unserer Medizinstudentinnen zu Hilfe gerufen und mich zurückgezogen, um den Frauen eine Atmosphäre zu ermöglichen, in der sie sich besser öffnen konnten. Nicht wenige der Überweisungen zu unserem psychologischen Dienst waren erst nach solchen Gesprächen möglich.

Was bleibt als Resümee nach sieben Wochen Arbeit im Camp?

Die Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung mit allen im Team der Medical Volunteers International, die ich in dieser Zeit kennen- und schätzen gelernt habe, hat mich begeistert.

Die Lebensbedingungen der Menschen im Camp sind etwas besser geworden als vor einem Jahr. Das ist allerdings leider nur ein vorübergehender Zustand, denn die griechische Regierung plant mit Nachdruck den Bau eines neuen Lagers, weit abgelegen von allen menschlichen Siedlungen im Zentrum der Insel. Dieses Lager, das von einer hohen Mauer umgeben sein soll, wird einem Gefängnis noch ähnlicher sein als Kara Tepe (heute: Mavrovouni).

Die Abschreckungspolitik und Missachtung wesentlicher Menschenrechte, die in der Europäischen Charta der Grundrechte feierlich versprochen werden, geht an den europäischen Außengrenzen weiter und wird sogar noch verschärft. Der Rechtsbruch der Pushbacks wird ausgeweitet, denn inzwischen werden auch Flüchtlinge wieder aufs Meer und zurück in die Türkei getrieben, die den griechischen Boden bereits betreten haben.

Die Abschreckungspolitik und Missachtung wesentlicher Menschenrechte, die in der Europäischen Charta der Grundrechte feierlich versprochen werden, geht an den europäischen Außengrenzen weiter und wird sogar noch verschärft.

Während wir in Europa innerhalb weniger Tage gemeinsam unbürokratisch alle Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufnehmen und ihnen ohne ein aufwändiges Asylverfahren jede Art der Teilhabe an unserem gesellschaftlichen Leben gewähren, verschließen wir weiterhin die Augen vor den eklatanten Verbrechen gegen die Menschlichkeit an unseren südlichen Außengrenzen. Unverändert  tragen wir durch ungerechte Wirtschaftsverträge mit den Ländern des globalen Südens zur ökonomischen Existenzvernichtung der Menschen in ihren Heimatländern bei. Warum zählt das Leid eines Flüchtlings aus Afghanistan, Syrien, dem Jemen oder aus durch Terror bedrohten afrikanischen Ländern nicht genauso wie das der Menschen, die jetzt aus der Ukraine zu uns kommen?

»Niemand verlässt sein Heimatland aus freien Stücken. Wir wollen uns in Europa nicht bereichern, wir sind hier, weil unser Leben im eigenen Land bedroht ist.«  Ein 17-Jähriger Afghane aus dem Camp

Bild entfernt.

Dr. med. Arndt Dohmen

Am meisten beeindruckt hat mich der Besuch im Englischunterricht der selbstverwalteten »Star School« mitten im Camp. Alle hatten als Hausaufgabe einen kurzen Vortrag zu einem selbst gewählten Thema vorbereitet. Ein 17-Jähriger aus Afghanistan sprach über das Thema Migration und fasste seine Gedanken so zusammen: »Niemand verlässt sein Heimatland aus freien Stücken. Wir wollen uns in Europa nicht bereichern, wir sind hier, weil unser Leben im eigenen Land bedroht ist. Wenn ich mal für kurze Zeit einer der politischen Führer in Europa sein könnte, würde ich als erstes denen, die in solcher Not hierher kommen, menschenwürdige Lebensbedingungen und Chancen für ein ganz normales Leben gewähren und sie nicht wie Verbrecher in gefängnisähnlichen Lagern unterbringen.«

Besser kann ich nicht in Worte fassen, was mich am Ende meines zweiten Einsatzes auf der Insel Lesbos bewegt und bedrückt.

Dr. med. Arndt Dohmen