09.08.2022 Innerhalb der ukrainischen Gesellschaft, aber auch im Aufnahmeland Deutschland trifft Antiziganismus die ethnische Minderheit. Sie werden als Geflüchtete zweiter Klasse behandelt. Darüber mehrten sich die Klagen und Berichte. Der Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung informierte nach seiner Reise in die Ukraine und nach Polen die Presse. Wir zitieren mehrere Stimmen zu diesem Problem.
Bericht nd 07.08.2022:
Geflüchtete zweiter Klasse: Der Antiziganismusbeauftragte berichtet nach einer Ukraine-Reise von unhaltbaren Lebensbedingungen der Sinti und Roma
»Roma und Sinti sind doppelt und dreifach von diesem Krieg betroffen.« Das ist eine der wichtigsten Erkenntnisse von Mehmet Daimagüler, die er am Freitag auf einer Pressekonferenz vorstellte. Der erste Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung war Ende Juli für fünf Tage in die Ukraine und nach Polen gereist, wo er sich unter anderem mit Holocaustüberlebenden der Roma traf und über die Lebensrealität von geflüchteten Sinti und Roma vor Ort informierte.
Etwa ein Prozent der ukrainischen Bevölkerung sprechen Romanes, die Sprache der Sinti und Roma, und viele von ihnen müssen erschreckende Lebensbedingungen aushalten – von mangelnder Infrastruktur über segregierte Bildungseinrichtungen bis hin zu antiziganistischer Diskriminierung auf der Flucht. Bei der Vorstellung der Erkenntnisse, die Daimagüler auf seinem Besuch gesammelt hatte, betonte er, dass die extreme Benachteiligung dieser Minderheit in der Ukraine kein Einzelfall ist. »Antiziganismus ist ein europäisches Problem«, sagte auch Romeo Franz, der für die Grünen im EU-Parlament sitzt und sich seit vielen Jahren für die Belange von Sinti und Roma einsetzt. Er und ein weiterer Experte waren bei der Presseveranstaltung anwesend, um die Perspektiven des Antiziganismusbeauftragten zu ergänzen.
Hintergrund der Reise Daimagülers war der Anstieg antiziganistischer Zwischenfälle gegen Flüchtende aus der Ukraine. Am Mannheimer Bahnhof gab es zum Beispiel eine Situation, in der geflüchtete Roma nicht in einen Schutzraum gelassen wurden, obwohl dieser speziell für Menschen vorgesehen war, die aus der Ukraine am Bahnhof ankamen. In anderen Fällen ist die Zuteilung von Privatunterkünften offensichtlich antiziganistisch: In München wurden bis zu 2000 Menschen in Massenunterkünften untergebracht, wobei nur Ukrainer*innen, die nicht Teil der Minderheit sind, an private Räumlichkeiten vermittelt wurden. Diese Ungerechtigkeiten sind auch in einem Bericht der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus dokumentiert.
In der Ukraine sind viele Sinti und Roma gezwungen, in Siedlungen zu leben, die von dem Rest der Bevölkerung abgetrennt sind und teils keine santiären Anlagen haben. Dazu kommt eine mangelhafte Gesundheitsversorgung – in den Siedlungen selbst wurden beispielsweise keine Coronaimpfungen angeboten. Außerdem besitzt acht Prozent der Minderheit keine Ausweispapiere und maximal 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen besuchen Regelschulen. Die anderen 85 Prozent der Schüler*innen, die der Minderheit angehören, besuchen segregierte Schulen. Franz nennt die Lebensbedingungen der Sinti und Roma in der Ukraine unmenschlich und fügt hinzu, dass »ihre Lebenserwartung dramatisch niedriger ist« als die der restlichen Bevölkerung. Daimagüler – der als Rechtsanwalt die Hinterbliebenen des NSU im Prozess gegen Beate Zschäpe vertrat – verwies auf die historischen Umstände, die zu der verheerenden ökonomischen Lage vieler Sinti und Roma geführt haben. Im Nationalsozialismus wurde vielen Familien der bescheidene Wohlstand genommen, den sie vor der Besetzung der Nazis angehäuft hatten. Die Menschen wurden vertrieben und in Konzentrationslagern ermordet, weswegen die Überlebenden nach dem Zweiten Weltkrieg wieder von null anfangen mussten. Dieser Kontext sei wichtig, denn diese Vergangenheit bestimme auch heute noch die Lebensrealität von Sinti und Roma in der Ukraine, sagte der Antiziganismusbeauftragte.
Erschwerend kommt hinzu, dass staatliche Institutionen in der Ukraine antiziganistische Vorurteile weitertragen. »Schockierend« nannte Daimagüler manche der Gespräche, die er mit den entsprechenden Amtspersonen geführt hatte – und auch in Deutschland sei »Antiziganismus in den Behörden auf allen Ebenen« noch zu finden. »Es fehlt an einem Bemühen, buchstäblich mit diesen Menschen zu sprechen«, kritisierte er. Denn Lösungen für die Probleme, mit denen Sinti und Roma konfrontiert sind, könnten immer nur dann gefunden werden, wenn mit den Organisationen der Minderheit auf Augenhöhe gesprochen werde und so Strategien zur Bekämpfung von Antiziganismus ausgearbeitet werden, da sind sich alle drei Experten einig. Die Erarbeitung verbindlicher und umfassender Strategien auf Ebene der EU wurde hierbei als notwendiger Hebel der Veränderung herausgestellt.
Bericht 07.08.2022 im MIGAZIN:
Antiziganismus-Beauftragter: Ukraine-Hilfen kommen bei Roma nicht an
Hilfeleistungen in die Ukraine kommen bei der Minderheit der Roma kaum an, bemängelt der Antiziganismusbeauftragte Daimagüler. Das müsse sich ändern. Auch die schlechtere Behandlung von Geflüchteten Roma aus der Ukraine müsse ein Ende finden.
Der Antiziganismusbeauftragte der Bundesregierung, Mehmet Daimagüler, will gegen eine Benachteiligung von Roma bei der Ukraine-Hilfe vorgehen. Er sagte nach einer Reise in das Land am Freitag in Berlin: „Wir müssen sicherstellen, dass Hilfsleistungen bei den Roma in der Ukraine ankommen.“ Der Beauftragte kündigte einen Bericht an die Bundesregierung an. Um hierzulande den Roma unter den Geflüchteten besser zu helfen, müsse man mit den Organisationen der Minderheit zusammenarbeiten, sagte Daimagüler.
Nach Angaben des Co-Vorsitzenden der Bundesvereinigung der Sinti und Roma, Daniel Strauß, leben in der Ukraine rund 400.000 Roma, das entspricht etwa 1 bis 1,5 Prozent der Bevölkerung. Bei ihnen kämen kaum Hilfen an, berichtete Strauß. Als Grund nannte er die Diskriminierung und Benachteiligung der Bevölkerungsgruppe in allen Lebensbereichen. Bei Lwiw im Westen der Ukraine etwa lebten rund 1.400 Menschen unter prekärsten Bedingungen in den umliegenden Wäldern.
Bereits am 2. Juni veröffentlichte der br einen großen Bericht:
Wie geflüchtete Roma aus der Ukraine gegen Vorurteile kämpfen
Geflüchteten Roma wird unter anderem vorgeworfen, nicht aus der Ukraine zu kommen, weil manche keine ukrainischen Pässe besitzen. Solche Vorwürfe verkennen jedoch die Lebensrealität der Roma in der Ukraine. Eine #Faktenfuchs-Recherche.
Darum geht’s:
- Roma-Organisationen berichten von antiziganistischen Übergriffen auf geflüchtete Roma aus der Ukraine.
- Im Netz wird behauptet, die geflüchteten Roma seien keine “echten” Flüchtlinge und versuchten, Leistungen zu erschleichen.
- Vermeintliche Beweise dafür, wie mangelnde Landeskunde oder fehlende ukrainische Pässe, sind jedoch mit der Lebensrealität der Roma in der Ukraine zu erklären.
Seit Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine ist die Solidarität der Deutschen mit der Ukraine und den von dort geflüchteten Menschen groß. Viele Familien etwa haben ukrainische Geflüchtete bei sich aufgenommen. Doch andere wurden in städtischen Erstaufnahmeeinrichtungen, wie etwa in der Messestadt Riem untergebracht. Diese Unterkünfte sind nicht für eine langfristige Unterbringung gedacht. Dort kamen tausende Menschen zusammen.
Chaotische Zustände gab es auch beim Amt für Wohnen und Migration in der Werinherstraße in München, wo die Geflüchteten ihre Leistungen bekommen. Die Mitarbeiter des Amts seien durch den starken Anstieg der zu bearbeitenden Anträge überlastet gewesen, heißt es vom Sozialreferat der Stadt München. Teilweise haben Menschen dort in der Tiefgarage übernachtet.
80 Prozent der Geflüchteten in der Münchner Messe sollen Roma sein, das schätzt zumindest der Verband deutscher Sinti und Roma in Bayern. Und Roma-Organisationen berichten von antiziganistischen Übergriffen dort. Von Dolmetschern, die sich angeblich weigerten für geflüchtete Roma zu übersetzen. Von Security-Personal, das Roma anders behandeln soll. Auch von der Werinherstraße gibt es solche Berichte.
💡 Was ist Antiziganismus?
Die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) definiert Antiziganismus als eine Form des Rassismus, der Sinti und Roma stigmatisiert und diskriminiert. Ihnen werden “pauschal negative und von der Mehrheitsgesellschaft (vermeintlich) abweichende Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben”, heißt es auf der Webseite der bpb. Klassische Stereotype sei etwa die “irrige Annahme”, die Personen seien “nicht sesshaft”, “kriminell veranlagt” oder “arbeitsscheu”. Der Begriff ist jedoch umstritten, alternativ kann man von Rassismus gegen Sinti und Roma sprechen. Die bpb hat die Debatte um den Begriff in diesem Podcast zusammengefasst.
Warum sind so viele Roma in Münchner Massenunterkünften?
Dass ausgerechnet Roma in den Massenunterkünften strandeten, hat laut Erich Schneeberger vom Verband deutscher Sinti und Roma in Bayern einen ganz praktischen Grund: In Roma-Familien gebe es oft viele Kinder, was die Vermittlung in private Wohnungen schwieriger mache. Das bestätigt das Sozialreferat der Stadt München: “Eine Hürde ist das geringe Angebot an Privatwohnungen für größere Familien oder Personengruppen, die zusammenbleiben wollen”, schreibt eine Behördensprecherin auf Anfrage des #Faktenfuchs.
Offizielle Zahlen dazu, wie viele Roma in Riem oder in anderen großen Unterkünften untergebracht sind, gibt es nicht. Weder die Stadt München, das bayerische Innenministerium noch die Polizei erheben die ethnische Zugehörigkeit von Geflüchteten. “Grundsätzlich wissen wir aber, dass es Familien in der Messe und auch in anderen Unterkünften gibt, die sich als Roma identifizieren”, so die Auskunft des Sozialreferats. Deshalb habe man auch die Sinti-und-Roma-Organisation “Madhouse” in die Betreuung der Menschen eingebunden.
Werden Roma in den Massenunterkünften diskriminiert?
Es sind Berichte von Diskriminierung und von antiziganistischen Anfeindungen, teils durch Security-Personal, teils durch andere Geflüchtete, die aus den Unterkünften zu hören sind. Erich Schneeberger vom Verband deutscher Sinti und Roma in Bayern erzählt zum Beispiel von der Beobachtung seines Stellvertreters in Riem einer älteren Romnja, die ohne richtige Matratze und ohne ausreichend Decken habe leben müssen, während andere Geflüchtete ausreichend davon gehabt hätten. Auf Nachfrage sagte ein Sprecher des Sozialreferats, es seien keine Fälle bekannt, in denen Roma Decken aufgrund ihrer Ethnie verweigert worden wären - so etwas würde man nicht dulden und “selbstredend unterbinden”.
Die Organisation “Madhouse Munich” berichtet dem #Faktenfuchs von verschiedenen Beschwerden über Sicherheitskräfte, die im Auftrag des Amtes für Wohnen und Migration in der Werinherstraße eingesetzt waren. Der Vorwurf: Roma seien anders behandelt worden. Und auch von Dolmetschern sei berichtet worden, die sich weigerten, für Roma zu übersetzen, oder deren Aussagen vor Behördenmitarbeitern anzweifelten.
Alle diese Gerüchte wurden zwar von verschiedenen Roma-Organisationen und Helfern unabhängig voneinander im Interview mit dem #Faktenfuchs angesprochen. Ob diese Situationen tatsächlich so stattgefunden haben, ist allerdings schwierig zu verifizieren. Denn die Berichte stammen alle von Roma-Organisationen, die selbst von diesen Vorfällen nur erzählt bekommen haben. Herauszufinden, wer konkret betroffen war, ist in der aktuellen unübersichtlichen Situation kaum möglich. Auch deshalb, weil die Organisationen keinen ständigen Kontakt zu den einzelnen Roma haben.
Das Sozialreferat ist dafür zuständig, solchen Beschwerden nachzugehen, die Vorwürfe aufzuklären und Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen. Dort sind zwar Diskriminierungen gegen ukrainische Roma bekannt geworden, sowohl was eine Andersbehandlung als auch Beschimpfungen im öffentlichen Raum betrifft.
Vorwürfe gegen Sicherheitspersonal in der Werinherstraße seien jedoch nicht bekannt. Man sei jedoch für das Thema sensibilisiert und mit der Security-Firma in regelmäßigem Austausch. Auch bei der Koordinationsstelle Dolmetschen seien bislang keine Hinweise auf konkrete Vorfälle eingegangen, schreibt die Sprecherin des Sozialreferats.
Vorurteile und Behauptungen im Netz
Auch im Netz kann man antiziganistische Äußerungen beobachten. Dort verbreitete sich etwa die Behauptung, bei den auf dem Messegelände untergebrachten Roma würde es sich nicht um "echte" Geflüchtete aus der Ukraine handeln. “Focus Online” schrieb zum Beispiel, es gehe die Frage um, "ob zumindest ein kleiner Teil von ihnen die Willkommenskultur in Deutschland unberechtigterweise ausnutzt". Das Thema wird in den sozialen Netzwerken diskutiert.