Auf der Flucht vermisst - Vereinte Nationen rufen zum Kampf gegen das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen auf

21.01.2025 Erstmals wurde in der vergangenen Woche ein zweitägiger internationaler Kongress in Genf dem gewaltsamen Verschwindenlassen Zehntausender Menschen gewidmet. Das erzwungene und unfreiwillige Verschwindenlassen in Zusammenhang mit bewaffneten Konflikten, Instabilität, Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen betrifft und bedroht auch Migrierende auf Migrations- und Handelsrouten.

„Verschwindenlassen“ bedeutet die Festnahme, die Entführung oder jede andere Form der Freiheitsberaubung durch Bedienstete oder Handlanger des Staates. Auf die Freiheitsberaubung folgt die Weigerung, diese anzuerkennen oder die Verschleierung des Schicksals der Verschwundenen.

.. die argentinische Bewegung der Madres de Plaza de Mayo .. [und andere] .. setzten die aktive Verwendung des Wortes durch und sprechen davon, dass Menschen »verschwunden wurden«.

Die Vereinten Nationen betrachten das Verbrechen als schwere Menschenrechtsverletzung.

Migrant*innen sind ...  besonders gefährdet, Opfer von Menschenrechtsverletzungen wie dem Verschwindenlassen zu werden. Zu den Risiken zählen inoffizielle und oft tödliche Migrationsrouten sowie der Menschenhandel, indem die Betroffenen von kriminellen Netzwerken ausgenutzt oder verschwunden werden.

Im Rahmen des Missing Migrants-Projekt dokumentiert die IOM ... die wegen Grenzen gestorbenen Migrant*innen. Seit dem Start der Zählung im Jahr 2014 hat die Organisation den Tod von mehr als 71 480 Menschen weltweit erfasst, fast die Hälfte davon im Mittelmeer. (alle Zitate aus den folgenden drei Beiträgen)

Hinweis: Vereinte Nationen: Menschenrechtsabkommen - Konvention gegen Verschwindenlassen (CPED) Internationales Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen veröffentlicht vom Deutschen Institut für Menschenrechte:

Das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (International Convention for the Protection of All Persons from Enforced Disappearance ; CPED) wurde am 20. Dezember 2006 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet (Resolution 61/177). Es trat am 23. Dezember 2010 völkerrechtlich in Kraft....

 

Zum Kongress am 15. und 16. Januar 2025 zitieren wir eine Meldung des Evangelischen Pressedienstes und zwei Beiträge aus nd - DerTag vom 15. Januar 2025

 

1. Vereinte Nationen rufen zum Kampf gegen das Verschwindenlassen auf

15.01.2025 Genf (epd). Die Vereinten Nationen haben zum Kampf gegen das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen aufgerufen. Diese „abscheuliche Praxis“ sei in allen Regionen der Welt zu beklagen, sagte die stellvertretende UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Nada Al-Nashif, am Mittwoch in Genf.

In einigen Ländern seien Zehntausende von Menschen verschwunden, erklärte sie auf dem ersten internationalen Kongress über das Verschwindenlassen. In anderen Ländern seien es über 100.000 Opfer. In den vergangenen 45 Jahren habe sich die UN-Arbeitsgruppe für erzwungenes und unfreiwilliges Verschwindenlassen mit über 61.000 Fällen in 115 Staaten befasst.

Es gebe deutliche Anzeichen dafür, dass durch die Eskalation von bewaffneten Konflikten die Gefahr des Verschwindenlassens steige. Auch in Situationen der Instabilität, der Unterdrückung und der Menschenrechtsverletzungen erhöhe sich das Risiko. Die stellvertretende Hochkommissarin verwies auf Syrien, wo unter der Diktatur Baschar al-Assads etliche Menschen verschleppt, gefoltert und ermordet wurden.

Menschen auf Migrations- und Handelsrouten seien ebenfalls bedroht. Zudem könnten Menschen im Zusammenhang mit Anti-Terror-Maßnahmen oder kriminellen Machenschaften verschleppt werden.

Der zweitägige Kongress soll am Donnerstag mit einem Aktionsplan gegen das Verschwindenlassen enden. Die UN-Vollversammlung hatte im Dezember 2006 ein „Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen“ verabschiedet. Die Länder hatten sich darauf geeinigt, die Menschenrechtsverletzung des Verschwindenlassens zu ahnden und zu bekämpfen.

Demnach bedeutet „Verschwindenlassen“ die Festnahme, die Entführung oder jede andere Form der Freiheitsberaubung durch Bedienstete oder Handlanger des Staates. Auf die Freiheitsberaubung folgt die Weigerung, diese anzuerkennen oder die Verschleierung des Schicksals der Verschwundenen.

 

2. Auf der Flucht vermisst: In Genf tagt erstmals ein Weltkongress gegen das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen, das auch Migrierende betrifft

15.01.2025 nd. Der erste Weltkongress gegen das gewaltsame Verschwindenlassen von Menschen, der an diesem Mittwoch und Donnerstag in Genf zusammentritt, widmet sich auch dem Schicksal von Migrant*innen und Flüchtenden. Die Dimension des Problems ist riesig: Zehntausende Menschen gelten als auf dem Mittelmeer vermisst, weitere Zigtausende auf den Routen durch die Sahara und vermutlich ähnlich viele auf dem Weg von Zentralamerika in die USA. Viele werden zudem in Folterlagern in Ländern wie Libyen festgehalten oder von Nachbarstaaten in die Wüste deportiert.

Mehrere Nichtregierungsorganisationen, die sich in Genf zu Wort melden wollen, kämpfen gegen diese Entwicklung. Sie kritisieren, dass die zunehmende Aufrüstung an Grenzen Schutzsuchende auf immer gefährlichere Routen zwingt – ein Vorgehen, das nicht nur von Aktivist*innen als staatliches Verschwindenlassen oder zumindest als Beihilfe dazu interpretiert wird.

Bekannt wurde der Begriff vor allem durch die argentinische Bewegung der Madres de Plaza de Mayo sowie ähnlichen Organisationen von Angehörigen in weiteren Ländern Lateinamerikas. Sie setzten die aktive Verwendung des Wortes durch und sprechen davon, dass Menschen »verschwunden wurden«. Damit soll sichtbar werden, dass Täter*innen das Verschwindenlassen zur Repression unliebsamer Kritik und Opposition einsetzen. Weil die Familien nicht wissen, ob ihre Angehörigen noch am Leben sind, werden auch sie dadurch eingeschüchtert und von politischer Aktivität abgehalten.

Die Vereinten Nationen betrachten das Verbrechen als schwere Menschenrechtsverletzung. Im Jahr 2006 verabschiedete der UN-Menschenrechtsrat das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen und setzte damit einen wichtigen Meilenstein. Allerdings haben bislang nur 76 der 193 UN-Mitgliedsstaaten das Übereinkommen ratifiziert.

Von Verschwindenlassen spricht man, wenn ein Freiheitsentzug unter Beteiligung oder Duldung von Staatsbediensteten geschieht, dieser Freiheitsentzug dann aber geleugnet wird. Es lässt sich daher als »heimliche Freiheitsberaubung durch Staaten« zusammenfassen. Obwohl viele vermisste Migrant*innen auf den ersten Blick nicht unter diese Definition fallen, sind die Phänomene miteinander verbunden oder gehen ineinander über. Um dem drohenden Verschwindenlassen in ihren Heimatländern zu entgehen, sind Aktivist*innen beispielsweise gezwungen, sich auf gefährliche Reisen zu begeben.

Auch die UN-Arbeitsgruppe zum gewaltsamen und unfreiwilligen Verschwindenlassen hat diese Realitäten anerkannt und bereits 2017 einen umfassenden Bericht angenommen, der sich mit dem Phänomen im Kontext der Migration befasst. Migrant*innen sind demnach besonders gefährdet, Opfer von Menschenrechtsverletzungen wie dem Verschwindenlassen zu werden. Zu den Risiken zählen inoffizielle und oft tödliche Migrationsrouten sowie der Menschenhandel, indem die Betroffenen von kriminellen Netzwerken ausgenutzt oder verschwunden werden.

Die UN-Arbeitsgruppe bescheinigt Staaten daher eine zentrale Verantwortung, das zu verhindern. Darin eingeschlossen ist etwa das Verbot der Rückführung in Länder, in denen eine entsprechende Gefahr besteht. Zudem sollen die Regierungen systematisch Daten über Migrant*innen und deren Aufenthaltsort erfassen. Bekannte Massengräber oder improvisierte Bestattungsplätze entlang von Migrationsrouten sollen untersucht werden. Mithilfe von internationalen Datenbanken sollen zudem Informationen über verschwundene Migrant*innen ausgetauscht werden.

Angehörige vermisster Migrant*innen leiden unter den gleichen Folgen wie jene von politisch Aktiven, die in Gefängnissen, irregulären Lagern oder Folterkellern verschwinden oder getötet werden: Im globalen Süden warten sie auf eine Nachricht von Söhnen, Töchtern, Ehefrauen und -männern, ihre Kinder wachsen bei Verwandten auf. Deshalb betont auch der UN-Bericht das Recht Angehöriger auf Information über den Verbleib der Verschwundenen. Staaten sollen die Familien von Migrant*innen insbesondere bei Suchprozessen unterstützen. Auch von Entschädigungen ist die Rede.

Der diese Woche stattfindende Weltkongress gegen das gewaltsame Verschwindenlassen wird von mehreren Abteilungen der Vereinten Nationen organisiert. Eingeladen sind zivilgesellschaftliche Akteure, internationale Institutionen sowie politische Vertreter*innen von Staaten. Diese dürften auch über die sogenannte Allgemeine Bemerkung zum Kontext der Migration debattieren wollen, die ein UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen im September 2023 beschlossen hat. Die ist zwar nicht bindend. Jedoch werden die Regierungen aufgefordert, Maßnahmen zum Schutz der Migrant*innen vor Verschwindenlassen und zur Bekämpfung der Straflosigkeit der Täter*innen entwickeln.

Am Ende des Weltkongresses soll ein Aktionsplan beschlossen werden. Die teilnehmenden Organisationen haben dafür gesorgt, dass darin auch die verschwundenen Migrant*innen vorkommen. Betont wird, dass Suchprozesse auch »in Migrationskontexten« wichtig für die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit sind. Gefordert wird, Handlungen zu verhindern und zu bestrafen, die verschwundene Personen, ihre Familien oder Unterstützer*innen kriminalisieren, einschüchtern, verfolgen oder stigmatisieren. Detaillierte Maßnahmen werden jedoch nicht vorgeschlagen.

In Europa könnten die Organisationen der Zivilgesellschaft deshalb auf den Europarat bauen, dessen Parlamentarische Versammlung im vergangenen Jahr eine bemerkenswert weitreichende Resolution verabschiedet hat. Demnach sollen die Mitgliedstaaten – darunter auch die Türkei, Serbien und Aserbaidschan – sichere und legale Migrationswege eröffnen sowie humanitäre Hilfe entlang der Routen gewährleisten, einschließlich Such- und Rettungsaktionen zu Land und zu Wasser. Die Resolution sieht außerdem vor, dass in allen Ländern zentrale Anlaufstellen für Angehörige vermisster Migrant*innen geschaffen werden. Um den Familien die Mitwirkung bei der Identifizierung zu ermöglichen, sollen beschleunigte Visa-Verfahren eingeführt werden. Für den Fall, dass Verstorbene nicht identifiziert werden können, fordert die Resolution eine würdevolle Bestattung mit individuell gekennzeichneten Gräbern.

Viele der aufgeführten Maßnahmen werden von zivilen Hilfsorganisationen seit Jahrzehnten eingefordert. Jedoch setzen sich die Regierungen darüber hinweg oder verschärfen ihre auf Migrationsabwehr ausgerichtete Politik sogar. Hier könnte der Weltkongress gegensteuern, indem in den Mitgliedstaaten wenigstens der Ruf nach politischen Konsequenzen gegen das Verschwindenlassen von Migrant*innen unüberhörbar wird.


3. Auf Routen in Afrika verschwunden UN-Organisation zählt auf dem Weg nach Europa vermisste oder gestorbene Migranten

15.01.2025 nd. »Wir packen den Stier bei den Hörnern«, sagt Moctar Dan Yayé vom Alarme Phone Sahara, einem Ableger des gleichnamigen Mittelmeer-Notrufs, den hunderte Aktivist*innen aus Afrika und Europa seit zehn Jahren betreiben. Die Organisation hat den Staat Niger vor dem Menschenrechtsgerichtshof der Westafrikanischen Wirtschaftsunion Ecowas verklagt, weil ein Gesetz dort die Hilfe für Migrant*innen und Flüchtende unter Strafe gestellt hatte. Die Folgen waren fatal: Transportunternehmen, die Menschen an die Grenze brachten, mussten gefährlichere Routen durch die Sahara nehmen, um Kontrollen zu entgehen. Ihre Wagen strandeten häufig in der Wüste, Menschen verschwanden, weil sie die Orientierung verloren, verdursteten, verhungerten oder durch Unfälle und Gewalt ums Leben kamen.

Auch wenn die Putsch-Regierung im Niger das Gesetz letztes Jahr annulliert hat, endet die Durchquerung der Sahara für viele Menschen weiterhin tödlich. Ein Problem sind Deportationen aus Algerien oder Tunesien in die Wüstenregionen des Niger oder Libyens. Betroffen sind Migrant*innen und Schutzsuchende, die in Städten nach Razzien von der Polizei auf Lkw geladen und kurz vor der Grenze ausgesetzt werden.

Besonders vom Tod in der Wüste gefährdet sind Personen, die alt, schwach, schwanger oder verletzt sind und deshalb nicht weit laufen können. Das Alarme Phone leistet ihnen in Niger Hilfe und erfasst systematisch Daten zu den Pushbacks. Für das gesamte Jahr 2024 zählte die Organisation 30 000 Menschen, die von algerischen Behörden im nigrischen Teil der Sahara ausgesetzt wurden. Anfang dieses Jahres wurden demnach über 600 Menschen aus Libyen nach Niger deportiert.

In Assamaka im Nordwesten von Niger arbeitet auch die zu den Vereinten Nationen gehörende International Organisation of Migration (IOM). Sie unterhält eine Station an der Grenze und organisiert von dort die sogenannte Freiwillige Rückkehr für Migrantinnen und Geflüchtete, wenn sich diese dazu bereit erklären. Im Rahmen des Missing Migrants-Projekt dokumentiert die IOM außerdem die wegen Grenzen gestorbenen Migrant*innen. Seit dem Start der Zählung im Jahr 2014 hat die Organisation den Tod von mehr als 71 480 Menschen weltweit erfasst, fast die Hälfte davon im Mittelmeer.

Das IOM-Projekt stellt die einzige weltweite Datenbank dieser Art dar – in vielen Ländern erheben oder veröffentlichen offizielle Stellen gar keine Daten dazu. Die von Missing Migrants gewonnenen Informationen sollen helfen, besonders gefährliche Migrationsrouten und -regionen zu identifizieren. Sie dienen als Grundlage für politische Entscheidungen und Maßnahmen zur Verhinderung weiterer Todesfälle von Migrant*innen.

Besonders dramatisch ist die Lage demnach auf der atlantischen Route von Mauretanien oder dem Senegal zu den Kanarischen Inseln. Die bis zu 800 Kilometer lange Überfahrt fordert zahlreiche Todesopfer durch Verhungern und Verdursten. Ähnlich gefährlich verläuft die Route vom Horn von Afrika nach Jemen über den Golf von Aden oder das Rote Meer. Hier drohen Schiffbruch und gewaltsame Zurückweisungen. Die südliche Fluchtroute von Ostafrika nach Südafrika führt zu Todesfällen durch Verkehrsunfälle, Ersticken in überfüllten Lastwagen und Gewalt. Als besonders riskant gilt die Überquerung des Limpopo-Flusses an der Grenze von Botswana und Simbabwe mit Südafrika. Auch die Route von den Komoren nach Mayotte kostet viele Menschen das Leben, die die 200 Kilometer lange Überfahrt in kleinen Fischerbooten wagen.

Migrationssolidarische Gruppen wie das Netzwerk Afrique-Europe-Interact oder das Alarm Phone gedenken der Menschen, die bei der Flucht nach Europa ums Leben gekommen sind oder vermisst werden, mit dem Begriff »CommémorAction«. Er setzt sich aus den französischen Wörtern »commémoration« (Gedenken) und »action« (Handlung) zusammen. Ein zentraler Gedenktag ist der 6. Februar geworden: An diesem Tag im Jahr 2014 starben mindestens 15 Menschen beim Versuch, schwimmend von Marokko in die spanische Exklave Ceuta zu gelangen, während die spanische Guardia Civil Gummigeschosse auf sie abfeuerte. Jedes Jahr erinnert deshalb eine »CommémorAction« als Symbol für die tödlichen Folgen der EU-Grenzpolitik an das Massaker.