Augenzeugin auf Samos: "Wie wir einen Pushback verhinderten..."

06.11.2021 Die deutsche EU-Parlamentarierin Cornelia Ernst, die soeben während einer Reise des LIBE-Ausschusses in Griechenland und auf Samos war, berichtet, was sie abseits vom offiziellen Besuchsprogramm erlebte. (aus DIE LINKE.NEWS)

Cornelia Ernst, MdEP: Wie wir einen Pushback auf Samos in der Nacht 2./3. November verhinderten

In dieser Woche gehörte ich zu einer Delegation des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlaments, die nach Griechenland reiste, um sich ein Bild von der Lage von Migrant:innen und Geflüchteten in Griechenland zu machen. Im Rahmen dieses Besuchs kamen wir am Morgen des 3. November in Samos an.

Bei dem Treffen mit verschiedenen NGOs nach unserer Ankunft informierte MSF die Mitglieder des Europäischen Parlaments darüber, dass sich auf der Insel gerade eine Gruppe von Menschen befindet, die Angst haben, gepushbackt zu werden und die bei einer Hotline um Hilfe angerufen haben. Sie luden die Abgeordneten ein, mit ihnen zu kommen, um sich selbst ein Bild von der Situation zu machen.

Das straffe Programm der Mission ließ es jedoch nicht zu, direkt dorthin zu fahren. Da ich aber zusätzlich darüber informiert wurde, dass eine Gruppe vor kurzem gepushbackt worden war, weil MSF zu spät am Ort des Geschehens eintraf, beschloss ich, mit dem Team von MSF mitzufahren und teilte allen Mitgliedern der Delegation mit, dass dies meine persönliche Entscheidung sei und dass ich sie über die Entwicklungen auf dem Laufenden halten würde. Niemand hatte Einwände dagegen, dass ich dorthin gehe.

Sowohl ein Anwalt als auch MSF informierten die Behörden, darunter Frontex, die griechische Küstenwache und die Polizei, dass sie sich in das Gebiet begeben würden, um nach Personen zu suchen, die in der Nacht gelandet waren und um medizinische Hilfe zu leisten. Sie teilten ihnen mit, dass sie von einem Mitglied des Europäischen Parlaments begleitet würden.

Als wir an dem GPS-Standort ankamen, den die Gruppe der Hotline mitgeteilt hatte, stiegen drei Mitglieder des Teams von MSF hinauf um zu versuchen, die hilfsbedürftigen Personen ausfindig zu machen. Sie kamen jedoch schnell wieder herunter und teilten uns mit, dass die griechische Polizei bereits vor Ort sei und ihnen mitgeteilt habe, dass sie nicht weitergehen könnten und zurückgehen müssten.

Das Team von MSF ging hinunter, um uns mitzuteilen, dass sie von der Polizei keine Erlaubnis erhielten, weiter in das Gebiet vorzudringen. Als Mitglied des Europäischen Parlaments beschloss ich, mit dem MSF Team zur Polizei zu gehen und zu fragen, ob sie uns durchlassen würden, da mir mitgeteilt wurde, dass es sich nicht um ein militärisches Gebiet handelt. Als ich mich vorstellte, ließ uns der erste griechische Polizeibeamte, dem wir begegneten, durch, ohne Fragen zu stellen. Kein Polizeibeamter hinderte uns daran, in das Gebiet zu gehen, nachdem ich angegeben hatte, dass ich Mitglied des Europäischen Parlaments bin. Mit mir und meiner Mitarbeiterin waren die Mitglieder des medizinischen Teams von MSF und ein Anwalt.

Mindestens vier Polizeiautos standen an verschiedenen Stellen des Geländes, zwei gekennzeichnete und zwei nicht gekennzeichnete neben einem Kloster hoch oben in den Bergen. Einige Polizisten trugen Uniformen, andere nicht. Es war unklar, ob sie ebenfalls versuchten, die Personen ausfindig zu machen oder uns überwachen wollten. Ein Stück weiter stand ein leeres, nicht identifizierbares Auto, von dem wir später erfuhren, dass es den beiden Männern gehören muss, die wir vor Ort im Gebüsch gesehen hatten und die eine blaue Uniform, Sturmhaubenmasken und keine Abzeichen trugen.

Nachdem wir 15-20 Minuten lang gesucht und geschrien hatten, kam eine Gruppe von vier Männern und einer Frau aus dem Gebüsch. Sie sagten, dass sie alle Somalier seien und dass sie in der Nacht mit 19 anderen Personen angekommen seien, die sie nach der Landung verloren hätten, darunter auch Frauen und drei Kinder. Die fünf sahen verängstigt aus, weil sie Angst hatten, in die Türkei zurückgeschoben zu werden. Nach der sofortigen medizinischen Versorgung durch Ärzte ohne Grenzen wurden sie den griechischen Polizeibeamten übergeben. Wir mussten ihnen erklären, dass sie jetzt in Sicherheit sind. Für mich ist klar, dass durch das Auffinden und die physische Übergabe an die griechische Polizei ein möglicher Pushback verhindert wurde. Ich habe zu viele gut dokumentierte Berichte über Zurückdrängungen gelesen, um zu glauben, dass sie in der Lage gewesen wären, um Asyl zu bitten, wenn wir nicht da gewesen wären. Ich fragte die Polizeibeamten, ob sie seit heute Morgen weitere Personen gefunden hätten, und sie sagten uns, dies sei nicht der Fall. Sie schienen immer noch auf der Suche nach Menschen zu sein.

Da drei Kinder in der Gruppe der 19 Vermissten sein sollten, beschlossen wir, mit dem medizinischen Team von Ärzte ohne Grenzen und dem Anwalt zurückzugehen und zu versuchen, sie zu finden. Nach 40 Minuten Suche wurde jedoch klar, dass sie sich nicht in diesem Gebiet aufhielten. Außerdem hatte einer der somalischen Männer gesagt, sie hätten in der Nacht Schüsse gehört. Wir befürchteten, dass sie bereits zurückgedrängt worden waren und sahen ein Boot, das schnell in Richtung Türkei fuhr und die Menschen an Bord gehabt haben könnte. Ich teilte der Delegation des Parlaments mit, dass wir fünf Personen gefunden hätten, dass sie ins Lager kämen, um unter Quarantäne gestellt zu werden, und dass ich sofort zu ihnen fahren würde. Kurz nachdem der Polizeiwagen mit den 5 Personen an Bord abgefahren war, fuhren wir zum Lager in Samos, in der Annahme, dass sie bereits dort sein würden. Die 5 waren noch nicht angekommen, da sie wahrscheinlich zuerst von der griechischen Polizei in der Polizeistation befragt wurden.

Am Donnerstag, den 4. November, teilte uns das Lager auf Samos mit, dass nur 5 Personen am 3. November in die Quarantäne aufgenommen wurden. Es werden also immer noch 19 Personen vermisst (darunter Frauen und 3 Kinder nach den Aussagen der Gruppe, die wir gefunden haben). Ich habe sowohl die griechische Küstenwache als auch den Minister am folgenden Tag gefragt, wo der Rest der Gruppe ist und ob sie Aufzeichnungen über ankommende oder abfahrende Boote haben. Die Küstenwache teilte uns mit, dass sie keine Informationen habe, der Minister stellte die von den Menschen angegebene Zahl in Frage und gab uns keine Antwort zu den verbleibenden 19. Stattdessen kündigte er seine Absicht an, den Anwalt, der uns begleitet hatte, über den Generalstaatsanwalt zu belangen.

Parallel dazu wurden wir darüber informiert, dass gestern und heute verschiedene andere Gruppen zurückgeschoben wurden oder dabei sind, zurückgeschoben zu werden, siehe: https://aegeanboatreport.com/

Inzwischen scheint es sehr wahrscheinlich, dass der Rest der Gruppe, die 19 Personen, in die Türkei zurückgeschoben wurde. Wir versuchen, mit der Gruppe in Kontakt zu kommen.

Nachrichtenquelle: Read More

 

06.11.2021 Pro Asyl griff diue Erlebnisse auf und führte ein Interview mit der EU-Parlamentarierin Cornelia Ernst

»Es gibt Pushbacks an jedem einzelnen Tag in Griechenland«

Weil sie als Europa-Abgeordnete auf Samos war, konnte sie fünf Schutzsuchende retten, die sonst vermutlich illegal zurück in die Türkei gebracht worden wären. Cornelia Ernst (Fraktion Die Linke) nahm Anfang November an einer Reise des LIBE-Ausschusses des EU-Parlaments nach Griechenland teil – und ist entsetzt, wie Flüchtlinge dort behandelt werden

Offiziell waren Sie mit dem Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres in Griechenland unterwegs, um sich vor Ort ein Bild von der Lage der Flüchtlinge und Asylsuchenden in Griechenland zu machen. Doch abseits vom Programm haben Sie am 3. November 2021 selbst erlebt, was mit Schutzsuchenden, die aus Richtung der Türkei auf Samos ankommen, passiert. Wie kam es, dass Sie vom offiziellen Programm abgewichen sind?

Zu unserem Programm auf Samos am Dienstag gehörten auch Treffen mit NGOs und anderen Gruppen. Dabei haben wir erfahren, dass in der Nacht in einer Bucht im Norden von Samos ein Boot mit Flüchtlingen angekommen sein soll und unklar sei, was mit den Menschen passiert sei. Die Frage war, ob wir uns das anschauen wollen. Deshalb bin ich mit meiner Mitarbeiterin und anderen Personen zu der Stelle nahe der Küste gefahren.

Was sahen Sie dort?

Dort waren einige uniformierte Polizisten, die das Gelände bewachen. Als ich meinen Badge zeigte, der mich als Mitglied des Europa-Parlaments ausweist, wurde ich sofort reingelassen, auch meine Begleiterinnen und Begleiter konnten mitkommen. Es wurden aber Fotos von uns gemacht.

Was haben Sie dann getan?

Wir sind über das Gelände gelaufen und haben nach Flüchtlingen gesucht. Es ist kein dichter Wald, aber es gibt Möglichkeiten, sich zu verstecken. Dabei haben wir gerufen, dass wir keine Polizisten sind. Schließlich fanden wir vier Männer und eine Frau, sie waren in schlechtem Zustand, besonders die Frau war völlig dehydriert. Sie hatten sich aus Angst vor der Polizei versteckt. Sie sagten, sie selbst seien aus Somalia, auf ihrem Boot seien aber noch 19 oder 20 weitere Menschen gewesen, wohl aus dem Kongo. Wir haben noch weiter gesucht, aber leider niemanden sonst gefunden.

Und was taten die Polizisten?

Es war eine skurrile Situation: Wir liefen über das Gelände – und sie begleiteten uns weitläufig. Die meisten hatten Uniformen an, zwei Männer aber nicht. Ich habe auch gesehen, dass einer von den beiden sich zeitweise maskierte.

Und was passierte mit den fünf Menschen, die sie gefunden hatten?

Wir haben sie der Polizei übergeben und gesagt: Wir gehen davon aus, dass sie ihren Asylantrag stellen können und in eine Unterkunft gebracht werden.

»Es gibt diese Pushbacks an jedem einzelnen Tag in Griechenland. Mit diesen Pushbacks werden europäisches Recht und internationale Konventionen gebrochen.«

Und wissen Sie, ob das passiert ist?

Ja, sie sind jetzt in einer Quarantäneeinrichtung.

Dass Sie an diesem Tag dort waren, war ja ein Zufall. Was passiert dort sonst im Norden von Samos, nur wenige Kilometer über das Meer von der Türkei entfernt?

Ja, in diesen Fall war es ein Glück, dass wir die fünf Flüchtlinge zuerst gefunden haben und sie sozusagen unter unserer Beobachtung an die Behörde übergeben konnten. So konnten sie diese fünf Menschen nicht pushbacken. Aber sonst machen die nichts anders dort als die Menschen, die in der Bucht ankommen, zu suchen und in die Türkei zurückzuschieben. Ich denke, dafür sind auch die Männer dort gewesen, die keine Uniformen trugen und Masken dabei hatten.

Das heißt, völkerrechtswidrige Zurückschiebungen –sogenannte Pushbacks – gibt es immer wieder?

Es gibt diese Pushbacks an jedem einzelnen Tag in Griechenland. Mit diesen Pushbacks werden europäisches Recht und internationale Konventionen gebrochen.

Nein zur Abschottung Europas! Jetzt Petition unterschreiben!

Wissen Sie, was aus den 19 oder 20 Menschen aus dem Boot geworden ist?

Nein. Ich habe immer wieder bei der Küstenwache und auch beim griechischen Minister für Migration und Asyl, Notis Mitarakis, nachgefragt, ich war sehr penetrant. Aber ich habe keine Antwort bekommen beziehungsweise der Minister tat so, als seien es fake news.

 

Passt dieses Verhalten von Minister Mitarakis, der ja bei der Abschlusspressekonferenz zum Ende Ihrer Delegationsreise war, zu dem, was sie sonst noch in den drei Tagen erfahren haben?

Auf jeden Fall. Es ist eine Katastrophe, was in Griechenland mit den Schutzsuchenden passiert. Die Menschen, die noch im Asylverfahren und somit in den Lagern sind, bekommen seit einigen Wochen noch weniger Geld und weniger Essen. Und die Menschen, die als Flüchtlinge anerkannt sind, bekommen weder Geld noch eine andere Unterstützung, sie müssen teilweise in Mülleimern wühlen. Die Menschen sind am Ende. Als wir in Athen in einem Lager waren, brach der Protest aus. Ich habe in meinem Leben schon viel gesehen, aber eine solche Situation habe ich nicht mal 2014 im Irak erlebt. In Griechenland wird ein humanitäres Drama geschaffen.