Bald Rückzug aus Afghanistan - Fragen und Forderungen zu Abschiebungen und hinausgezögertem Familiennachzug

Update: 07.05.2021 "Entgegen aller Fakten: Deutschland schiebt weiter ab" so ProAsyl. Weiter heißt es: "Die für den 04.05.2021 vorgesehene Sammelabschiebung nach Afghanistan wurde kurzfristig verschoben. Laut einer Sprecherin des Bundesinnenministeriums könne der ursprünglich angesetzte Abschiebeflug nicht stattfinden, da die afghanischen Behörden zwischen dem 1. und 6. Mai die Notwendigkeit verstärkter Sicherheitsmaßnahmen sehen würden. Anstatt jedoch adäquat mit einer Absage des Fluges zu reagieren und die gefährliche Sicherheitslage endlich anzuerkennen, sprechen die Verantwortlichen lediglich von einer Verschiebung des Termins.

An der bisherigen Abschiebungspraxis hält das BMI weiter fest. Es wäre der 39. Flug seit Wiederaufnahme der Sammelabschiebungen im Dezember 2016 gewesen. Das Datum markiert einen Tabubruch, gegen den PRO ASYL seither jeden Monat protestierte. Denn Afghanistan ist seit 2016 keinen Deut sicherer geworden, wie zahlreiche Anschläge mit Toten und Verletzten zeigten. Dennoch wurden in den letzten vier Jahren insgesamt 1035 afghanische Männer in das Bürgerkriegsland rückgeführt."

Update 1. Mai 2021: Der Abschiebeflug am 4.5.2021 wurde abgesagt! "Ich konnte es anfangs kaum glauben, als am Donnerstag die ersten Whatsapps von Betreuenden und RechtsanwältInnen hereinkamen: Junge Afghanen wurden aus der Abschiebehaft entlassen, weil der Flug abgesagt sei. Heute kam dann die "offizielle" Nachricht von bayerischen Flüchtlingsrat: ...wir haben nun die bestätigte Info, dass die Sammelabschiebung am Dienstag abgesagt wurde..." schreibt Thomas Nowotny. Die Hintergründe für diese sehr gute Nachricht sind noch unklar.

27.04.2021 "Mit brutaler Regelmäßigkeit werden die Abschiebungen in der Pandemie fortgesetzt: Der nächste Abschiebeflug nach Kabul soll am 4.5.21 starten," beginnt Thomas Nowottny seinen neuesten Rundbrief zur Petition "Keine Abschiebungen nach Afghanistan!"

Er stellt wie so oft verschiedene Stimmen zusammen: Der Flüchtlingsrat Bayern , von die meisten der Abgeschobenen leb(t)en, erklärt: "Sie waren und sind von Anfang an menschenrechtswidrig. Jeden Monat gibt es mehr gewichtige Gründe dafür."

Afghanistan-Analyst Thomas Ruttig berichtet in seinem Blog: "Angesichts des angekündigten Abzugs der westlichen Truppen aus Afghanistan – nun auf den US-Unabhängigkeitstag am 4. Juli terminiert  – forderte der Geschäftsführer der Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl, Günter Burkhardt, Abschiebungen dorthin zu beenden. Er forderte „einen sofortigen Abschiebestopp nach Afghanistan“ sowie eine Neubewertung der Lage von Geflüchteten, weil sich die Sicherheitslage nach Ankündigung des Abzugs noch mehr zugunsten der Taliban verschiebt und wir davon ausgehen müssen, dass sie vor der Machtübernahme stehen“, sagte er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Afghanistan wird nun noch mehr zum Talibanland, die Innenministerien von Bund und Ländern müssen die monatlichen Abschiebungen stoppen. Wir fordern jedes Bundesland auf, selbst in eigener Verantwortung den rechtlich zulässigen 3‑monatigen Abschiebstopp zu verfügen und bei der Innenministerkonferenz von Bund und Ländern im Juni eine bundesweite Regelung herbeizuführen“, so Burkhardt. Zudem weisen Jurist:innen darauf hin, dass das BAMF seine Entscheidungspraxis zu Abschiebungsverboten nach Afghanistan nicht geändert hat, während der der Anteil der von den Gerichten korrigierten Bescheide von 34 Prozent im Jahr 2019 auf 47 Prozent im Jahr 2020 gestiegen sei.

Sie weisen auch darauf hin, dass die auch in Afghanistan weiter wütende Corona-Pandemie eine „kollektive Gefährdungslage“ darstelle. Valentin Feneberg und Paul Pettersson schrieben am 8. April im Verfassungsblog, dass die Gerichte seit März 2020 die sozio-ökonomischen Auswirkungen der Corona-Pandemie in Verfahren Schutzsuchender aus Afghanistan mit bewerten müssen. In der Praxis bewerteten die Gerichte die kollektive Gefährdungslage junger, alleinstehender Männer unter Corona-Bedingungen allerdings weiter „uneinheitlich“. Sie fordern, dass die Gerichte „in ihren Entscheidungsgründen die Bewertung von Risiko- und Schutzfaktoren und damit die Grundlage ihrer Entscheidungen transparent machen“ sollten, „insbesondere durch entsprechende Leitsätze und vor allem durch eine systematischere Veröffentlichungspraxis…, anstatt wie aktuell üblich nur selektiv (teilweise sich im Wortlaut wiederholende) Entscheidungen von einigen Gerichten zu publizieren.“

In Afghanistan wird unterdessen befürchtet, dass sich dort die indische, stärker ansteckende Doppelmutation des Virus ausbreiten könne. Allerdings seien die Labore in Afghanistan nach Informationen meiner Organisation, des Afghanistan Analysts Network (AAN), aus Kabul dortige Labore bisher nicht in der Lage, diese Mutation überhaupt zu erkennen. Laut dem letzten Covid-Sachstandsbericht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu Afghanistan seien dort Mutationen bestätigt worden, ohne dass deren genauer Typ angegeben wird.

Auch müsse das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) in Nürnberg seine Anerkennungspraxis ändern. Es gebe in Afghanistan „keine sicheren Gebiete, in die von Taliban Verfolgte gehen könnten“. Das sei in 60 Prozent aller einschlägigen Gerichtsverfahren bestätigt worden, so Burkhardt weiter. (2019: 48,7). Dies ergebe sich aus der Asylstatistik 2020 der Bundesregierung, die von Der Linken erfragt wurde. Zu Tausenden habe das BAMF in der Vergangenheit junge verfolgte Männer mit der Argumentation abgelehnt, sie könnten in den Städten vor Verfolgungsmaßnahmen sicher sein. Dort waren die westlichen Truppen überwiegend stationiert, die jetzt abgezogen werden.

Nach Angaben des BAMF gegenüber dem RND halten sich gegenwärtig rund 278.000 Afghanen in Deutschland auf. Davon seien rund 30.000 ausreisepflichtig, hieß es. Von diesen wiederum hätten rund 27.000 eine Duldung, die ihre Abschiebung gegenwärtig rechtlich unmöglich mache; genau 3011 hätten keine Duldung.

Folgendes Zitat von Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer über die Lage der bedrohten afghanischen Ortskräfte des Bundeswehr und anderer deutscher Behörden (dazu mehr im nächsten Beitrag) sollte auch auf Abschiebungen angewandt werden:

Wir haben aus meiner Sicht eine veränderte Situation, weil wir nicht über die Umstellung einer Mission reden, sondern über ein Ende. Und das bedeutet möglicherweise eine andere Sicherheitslage und eine andere Bewertung.“

https://thruttig.wordpress.com/2021/04/23/termin-fur-mai-abschiebung-nach-afghanistan-trotz-neuer-lage-kramp-karrenbauer/

Ebenfalls von Thomas Ruttig kommt der Hinweis auf diese wichtige juristische Einschätzung des Berliner Rechtsanwalts Matthias Lehnert…

https://verfassungsblog.de/politik-recht/

… sowie auf eine hervorragende neue Broschüre der Asylkoordination Österreich:

http://asyl.at/de/info/asylaktuell/4_2020/

Die letzte Abschiebung vom Flughafen BER am 7. April wurde von den Protesten Hunderter begleitet, die auch Blockaden versuchten. Die Abschiebung von 20 Unglücklichen konnten sie leider nicht verhindern.

https://www.neues-deutschland.de/artikel/1150534.sammelabschiebungen-blut-an-euren-haenden.html

30.04.2021. Die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke fordert:

Jetzt erst recht: Familiennachzug aus Afghanistan unkompliziert ermöglichen!

„Ich begrüße, dass für die vereinfachte und zügige Aufnahme von gefährdeten afghanischen Ortskräften eigens Büroräume in Afghanistan eingerichtet werden. Das zeigt mal wieder: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Dieses Motto sollte die Bundesregierung auch beherzigen, wenn es um den Familiennachzug zu in Deutschland anerkannten afghanischen Flüchtlingen geht. Doch sie lässt offen, ob die neu entstehenden Anlaufstellen auch für die Antragstellung auf Visa zum Familiennachzug genutzt werden sollen. Dabei ist eine Beschleunigung der Familienzusammenführungen lange überfällig!“, erklärt die innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Ulla Jelpke, zur Antwort der Bundesregierung auf eine Schriftliche Frage zu Anlaufstellen für Familienangehörige von anerkannten afghanischen Flüchtlingen. Jelpke weiter:

Es ist grausam, dass afghanische Familienangehörige derzeit über ein Jahr allein auf einen Termin zur Beantragung eines Visums zur Familienzusammenführung warten müssen. Dazu kommt noch die oft langwierige Zeit der Bearbeitung, Prüfung und Erteilung des Visums – Familien bleiben so über mehrere Jahre getrennt. Da die deutsche Botschaft in Kabul weiterhin geschlossen ist, müssen Angehörige trotz höchst angespannter Sicherheitslage und den zusätzlichen pandemiebedingten Risiken nach Islamabad oder Neu-Delhi reisen, um einen Antrag auf Familiennachzug zu stellen. Das ist unzumutbar – es müssen jetzt endlich lokale Lösungen analog zu denen für afghanische Ortskräfte gefunden werden. Es ist nicht einzusehen, dass hier ein Zwei-Klassen-Schutzrecht eingeführt wird.“

Frage und Antwort sind hier einsehbar: SF 4-230 Ortskräfte Familiennachzug