Redebeiträge + Links zu Petitionen und Informationen
19.11.2020 Fast ein halbes Jahr lang fanden bisher ohne Unterbrechung die Mahnwachen der Seebrücke auf dem Markt statt. Bei gewisserhafter Beachtung der Hygiene-Regeln versammeln sich jeden Mittwochabend für eine Stunde junge und ältere Menschen, um gemeinsam Zeichen zu setzen: "Unser Europa rettet! Leave no one behind!"
Durch wechselnde Beteiligte wird jeweils geschildert, was sich auf den Fluchtwegen nach Europa ereignet, wie es in den Lagern an den Außengrenzen zugeht und welche Aktivitäten die zivilen Seenotrettungsorganisationen unternehmen, um das zu tun, was die EU und die europäischen Staaten seit Jahren verweigern: Menschen zu retten. Fester Bestandteil der Mahnwachen ist immer das Gedenken der Toten: "Ihr seid nicht vergessen!" Natürlich wird auch zu politischen Entwicklungen gesprochen, Forderungen entwickelt und auf Kampagnen und Petitionen hingewiesen.
Trotz der Dunkelheit und Kühle, trotz der strengeren Einschränkungen zur Bekämpfung der 2. Pandemie-Welle kamen zuletzt immer 30 bis 40 Menschen zusammen, weitere blieben stehen und spendeten Beifall. Gerade in diesen Zeiten tut es gut, im gebotenen Abstand den Zusammenhalt und die Solidarität zu erleben.
Dokumentation:
Rede bei der Mahnwache der Seebrücke Bonn am 18.11.2020
1. Eine Rettungsaktion
„Where is my baby, I lose my baby“ schreit die junge Mutter, 20 Jahre alt, aus Guinea, die gerade zwischen Libyen und Italien aus den Wellen gerettet worden ist. Auf dem Rettungsboot der katalanischen Hilfsorganisation „open arms“ bangt sie um ihren 6 Monate alten Sohn Joseph, der ihr gerade aus den Händen geglitten ist. Kurz darauf finden die Helfer das Baby, völlig erschöpft. Es stirbt an Herzstillstand, bevor der Rettungshubschrauber aus Lampedusa eintrifft.
Immer wieder gibt es Zeitdokumente, die das tödliche Drama der Flucht nach Europa ikonenhaft festhalten. Wie das Bild aus dem Jahr 2015: der Leichnam des syrischen Jungen Alan Kurdi, drei Jahre alt, den die Wellen an einen Strand von Bodrum schwemmten. Oder das Bild von Josefa vor zwei Jahren, einer Kamerunerin, die sich 48 Stunden lang an einem Stück Treibholz festgeklammert hatte, bis sie gerettet wurde - mit weit aufgerissenen, vor Angst gelähmten Augen: Sie hatte alle Mitfahrenden sterben sehen. Das Bild von Josephs verzweifelter Mutter reiht sich hier ein.
Auf dem Schlauchboot, auf dem auch Joseph mit seiner Mutter gereist war, ging das Benzin nach eineinhalb Tagen aus, sie waren etwa hundert an Bord. Open Arms schaffte es, 88 von ihnen zu retten - es war, trotz allem, ein Glücksfall. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hatte die NGO über die Havarie des Boots benachrichtigt. Das sei seit 2016 nicht mehr vorgekommen, berichten die Verantwortlichen von Open Arms.
Open Arms ist derzeit die einzige Organisation, die Missionen vor der libyschen Küste fährt. Ihr Schiff steht nun mit 263 Geretteten an Bord vor Lampedusa und wartet auf die Zuweisung eines Hafens, was Tage bis Wochen dauern kann. Die Menschen würden auf ein Schiff vor der Westküste der italienischen Insel Sizilien gebracht, wo sie zunächst in Quarantäne blieben, teilte die Organisation mit. Die Geflüchteten seien bei insgesamt drei Rettungsaktionen am 10. und 11. November aufgenommen worden.
2. Zahlen, Fakten, Hintergründe
Dies waren nicht die einzigen Schiffsunglücke in der letzten Woche!
Beim Untergang von zwei Booten mit Flüchtlingen vor der Küste des Bürgerkriegslandes Libyen sind mehr als 90 Menschen ertrunken. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) meldete, vor der Stadt Chums im Westen Libyens seien mindestens 74 Menschen ums Leben gekommen. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) erklärte außerdem über Twitter, weiter westlich seien vor der Stadt Surman 20 Menschen gestorben.
An Bord des vor Chums verunglückten Bootes sollen nach IOM-Angaben mehr als 120 Menschen gewesen sein, darunter auch Kinder. 47 Überlebende seien von der Küstenwache und Fischern an Land gebracht worden, teilte IOM weiter mit. 31 Leichen seien geborgen worden. MSF zufolge wurden nach dem Untergang des zweiten Bootes drei Frauen als einzige Überlebende von Fischern gerettet. Die Opfer hätten miterleben müssen, wie Angehörige vor ihren Augen gestorben seien.
Die IOM erklärte letzte Woche Donnerstag, allein in den vergangenen zwei Tagen seien zwei Boote gekentert und dabei mindestens 19 Menschen ertrunken. In den vergangenen Wochen sei die Zahl der ablegenden Boote gestiegen.
Nach IOM-Angaben sind in diesem Jahr mindestens 900 Menschen ertrunken, als sie über das Mittelmeer nach Europa wollten. 11.000 weitere Migranten seien zurück nach Libyen gebracht worden, wo sie dem Risiko von Menschenrechtsverletzungen, Inhaftierung oder Menschenhandel ausgesetzt seien, kritisierte die Organisation.Viele Menschen legen weiterhin in kleinen Booten in den nordafrikanischen Ländern Tunesien und Libyen ab, um nach Europa zu gelangen. Auf der Insel Lampedusa landeten in der vergangenen Woche mehrere Boote mit Hunderten Menschen. Insgesamt kamen in Italien nach offiziellen Zahlen 2020 bisher fast 31.000 Migranten an. 2019 waren es im gleichen Zeitraum knapp 10.000 Menschen gewesen.
Aber auch auf einer anderen Fluchtroute verschärft sich die Situation. Die Route von Westafrika auf die Kanarischen Inseln ist eine der längsten und tödlichsten nach Europa. Mehr als 600 Menschen starben in diesem Jahr bei der tagelangen Überfahrt. Einige der Migranten starten im Senegal, von dort sind es bis zu den Kanaren 1600 Kilometer. Andere Migranten legen in der Westsahara oder Marokko ab. Schon eine kleine Fehlkalkulation beim Wasservorrat oder Probleme mit dem Motor können dazu führen, dass die Männer, Frauen und Kinder die Fahrt nicht überleben. Seit Ende 2019 nutzen immer mehr Menschen die Route, vor allem weil marokkanische Behörden mit spanischer Hilfe den wesentlich kürzeren und sichereren Weg über die Straße von Gibraltar versperren. In diesem Jahr sind bereits mehr als 15.000 Migrantinnen und Migranten angekommen, allein im Oktober waren es 5000. Auf den Kanarischen Inseln sind allein am 2. Novemberwochenende mehr als 2188 Flüchtlinge angekommen.Darunter sind auch viele Menschen aus dem Maghreb, wo die Pandemie die Wirtschaft zerstört hat.
3. Konsequenzen
All das zeigt überdeutlich: Auch wenn das Wetter schlechter und die See rauher wird, auch wenn keine Rettungsschiffe unterwegs sind, auch wenn die EU eine abschreckende Maßnahme nach der anderen beschließt, die wirtschaftliche Not, Krieg und Verfolgung treibt die Menschen aufs Meer und das Sterben auf dem Mittelmeer geht weiter. Das Gerede vom Pullfaktor ist längst widerlegt. Die EU weiß das. Umso erschreckender ist es, dass weiterhin fast alle Rettungsschiffe aus fadenscheinigen Gründen festgesetzt sind, bewusst Rettungsschiffe am Auslaufen gehindert werden und das Ertrinken der Menschen nicht nur in Kauf genommen sondern offensichtlich politisch gewollt ist. Und daran sollen wir uns gewöhnen? Nie und nimmer!
--Und so ist es gut, dass die Organisationen Sea-Eye und United 4rescue mit Unterstützung von über 600 Bündnispartnern ein neues Bündnisschiff, die Sea-Eye 4 gekauft haben und umbauen wollen, um es bis zum Beginn des neuen Jahres ins Mittelmeer zu senden.
--Und so ist es gut, dass United4Rescue die Kampagne “Drowned Requiem” gestartet hat, um mit einer künstlerischen Aktion die Menschen zu erreichen. In einer eindrucksvollen Performance hat die dänische Künstlergruppe ‘Between Music’ die eigentlich jubilierende Europahymne “Ode an die Freude” in eine Totenmesse (requiem) umgewandelt und spielt diese auf dem Grund des Mittelmeers, um an die vielen Ertrunkenen (drowned) und die Verantwortung der Europäischen Union zu erinnern. Es lohnt sich, sich das Video auf youtube anschauen. Drowned Requiem https://youtu.be/cKED6cGDyQg
--Und so ist es gut, dass das Land Berlin jetzt beschlossen hat, gegen das Bundesinnenministerium zu klagen, weil es dem Land verboten hatte, 300 Menschen aus den griechischen Lagern aufzunehmen.
--Und so ist es gut, dass United 4rescue einen öffentlichen Appell an die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gestartet hat, das Sterben auf dem Mittelmeer zu beenden und sich für staatliche Seenotrettung einzusetzen, um den Druck zu erhöhen:
„Sehr geehrte Frau Präsidentin von der Leyen,
das Mittelmeer ist seit Jahren die tödlichste Grenze der Welt. Ich schreibe Ihnen, damit Sie als Kommissionspräsidentin alles dafür tun, dass dieses Sterben endlich beendet wird!
1. Setzen Sie ein staatliches Seenotrettungsprogramm durch! Übernehmen Sie mit der Europäischen Union endlich Verantwortung und achten Sie europäisches Recht und die Menschenrechte! Realpolitik darf nicht zum ständigen Rechtsbruch führen. Seenotrettung ist Staatenpflicht.
2. Setzen Sie sich für die zivile Seenotrettung ein! EU-Mitgliedstaaten dürfen die Schiffe der zivilen Seenotrettung nicht länger behindern. Diese dürfen oft monatelang nicht auslaufen. Die systematische Verhinderung humanitärer Hilfe aus der europaweiten Zivilgesellschaft kostet Menschenleben. Das haben die europäischen Regierungen gemeinsam zu verantworten!
3. Beenden Sie jede Kooperation mit der sogenannten libyschen Küstenwache! Die EU-Kommission finanziert im Bürgerkriegsland Libyen kriminelle Milizen als vermeintliche Küstenwache, und nimmt in Kauf, dass nach Libyen zurückgeschleppte Menschen schlimmster Folter ausgesetzt werden. Ich erwarte, dass das Geld europäischer Steuerzahler:innen nicht länger für rechtswidrige Handlungen von Warlords und Menschenhändlern verwendet wird!
Ich bin der festen Überzeugung: Wir dürfen uns an das tausendfache Sterben an der Grenze unseres Kontinents nicht gewöhnen. Abschreckung darf nicht zur zynischen Absicht werden, so groß die politische Aufgabe auch sein mag. Diese Flüchtlingspolitik hat keine gute Zukunft. Diese Politik bedroht nicht nur die Flüchtlinge, sie setzt auch unsere eigene Humanität und Würde aufs Spiel.“
Soweit der Appell, den ich euch ganz herzlich bitten möchte zu unterzeichnen. Ihr findet ihn unter https://wesendaship.org/erinnere-ursula-von-der-leyen/ .
Bleiben Sie aktiv, unterstützen Sie die Seenotrettungsorganisationen und lassen Sie sich trotz allem nicht entmutigen!
Vielen Dank fürs Kommen und Zuhören!
Rainer van Heukelum, Seebrücke Bonn
PS: Die Zahlen und Fakten habe ich vor allem den online-Ausgaben von Spiegel, SüddeutscherZeitung, ntv der letzten Woche entnommen.
Kai Echelmeyer von Sea-Eye berichtete über den Beschluss von Sea-Eye und United4Rescue, ein weiteres Schiff ins Mittelmeer zu entsenden.
Dazu heißt es auf der Seite von Sea-Eye:
Die SEA-EYE 4
Einsatzzeitraum: ab 2021
Im Oktober 2020 kaufte Sea-Eye mit der Unterstützung des Seenotrettungsbündnisses United4Rescue ein Offshore-Versorgungsschiff (Baujahr 1972), um es für den Rettungsbetrieb umzubauen.
Die Bauweise der SEA-EYE 4 ist sehr gut für Seenotrettungseinsätze geeignet und bietet viel Platz für die Erstversorgung geretteter Menschen. Die Krankenstation wird über einen modernen Standard verfügen und auch auf potentielle Corona-Fälle vorbereitet sein.
Zur Durchführung von Rettungseinsätzen verfügt die SEA-EYE 4 über zwei Kräne, die die zwei schnellen Einsatzboote sicher zu Wasser lassen können. Im Einsatzfall nähern sich die Einsatzboote den Menschen in Seenot, verteilen Rettungswesten und evakuieren die seeuntüchtigen Boote.
Die SEA-EYE 4 soll bis Anfang 2021 ins Mittelmeer überführt werden, um dort so schnell wie möglich Menschenleben zu retten.
Im Newsletter von Sea-Eye vom 15.11. wird um Spenden für das Schiff gebeten:
Neues Bündnisschiff SEA-EYE 4
Liebe Freund*innen von Sea-Eye,
in den vergangenen 3 Wochen starben mehr als 500 Menschen an Europas Grenzen. Nur ein einziges Rettungsschiff war im Einsatz. Was kann Europa tun? Die Erfahrungen dieser schweren Tage zeigen, dass es viel mehr Rettungsschiffe braucht! Zusammen mit unserem Partner United4Rescue geben wir deshalb eine klare Antwort auf diese Frage: Wir senden das zweite Bündnisschiff SEA-EYE 4 ins Mittelmeer.
Um ein Rettungsschiff zu kaufen und umzubauen, braucht es sehr viel Geld und sehr viel Unterstützung. Sea-Eye und United4Rescue erhalten schon jetzt Unterstützung von über 600 Bündnispartnern. Doch um möglichst viele Menschen vor dem Ertrinken zu retten und das Schiff bis zum Beginn des neuen Jahres ins Mittelmeer zu senden, brauchen wir noch viel mehr Spender*innen. Denn man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.
Bitte unterstützen Sie das Bündnisschiff SEA-EYE 4 mit Ihrer Spende.
Bleiben Sie gesund und positiv!
Ihr Gorden Isler
- Vorsitzender von Sea-Eye e. V.
Die SEA-EYE 4 ist das größte Projekt in unserer Vereinsgeschichte.
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Ihre Dauerspende ermöglicht unsere lebensrettenden Einsätze. Seit der Vereinsgründung im Jahr 2015 hat Sea-Eye über 15.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet. Als Dauerspender*in sorgen Sie mit dafür, dass wir auch in Zukunft Menschenleben retten können.