Bewertung des EU-Sondergipfels Migration

18.02.2023 Unter Berücksichtigung zahlreicher Quellen sprach Monika Kramer von der Bonner Lokalgruppe der Seebrücke sprach bei der 98. Mahnwache für Menschenrechte am 15. Februar 2023 zum zurückliegenden EU Sondergipfel Migration. Wir dokumentieren im Folgenden mit Dank ihre Rede:

Am Donnerstag der vergangenen Woche (9.2.2023) trafen sich die EU-Staats- und Regierungschefs zum Sondergipfel Migration in Brüssel. Falls Sie sich fragen, ob die vielzitierte und herbeigewünschte EU-weite Lösung für eine faire Verteilung von Migranten und Asylbewerbern auf die EU-Staaten entwickelt wurde, muss ich Sie enttäuschen. Hier ist weiterhin keine Einigung in Sicht, vielmehr ging es um Abschottung, Abschreckung und Abschiebung.

Die Ergebnisse des Gipfels bestätigen, was Schweden zu Beginn seiner Ratspräsidentschaft Ende Januar ankündigte: „Es besteht die dringende Notwendigkeit, die Außengrenzen zu stärken, die Rückführung zu erhöhen und irreguläre Migration zu verhindern“. *1
So lassen sich die verlautbarten Themen und Maßnahmen wie folgt zusammenfassen:

  • Mehr Zäune um Europa - tituliert als Grenzschutzinfrastruktur - die Festung Europa soll Gestalt annehmen
  • Verstärkte Zusammenarbeit mit der sogenannten „Libyschen Küstenwache“
  •  Abfangen und Zurückschicken von Flüchtenden
  • Mehr FRONTEX-Einsätze an immer mehr EU-Grenzen
  • Asylverfahren unter Haftbedingungen direkt an der Grenze oder noch in Afrika
  • Beschleunigung von Abschiebungen

Pro Asyl fasst treffend zusammen: „Wenn ausgerechnet die neofaschistische italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni die Ergebnisse als Erfolg feiert, wird deutlich: Der EU-Kommission kommt es nicht mehr darauf an, die in den EU-Verträgen als Fundamente festgelegten Werte wie Menschenrechte zu verteidigen – es geht nur noch um Fluchtverhinderung und letztlich die
Demontage des Asylrechts in Europa. Nach diesem Sondergipfel werden das Elend und die Menschenrechtsverletzungen an den europäischen Außengrenzen mit größter Härte und Brutalität weitergehen. Schon jetzt sind rund 13 Prozent des Grenzgebiets umzäunt, über 2.000 km Stahl und Stacheldraht sollen signalisieren, dass Menschen auf ihrer Flucht vor Krieg, Diktatoren und Verfolgung nicht mit der Hilfe Europas rechnen können, dass jeder Versuch lebensgefährlich ist. Dabei beweisen die EU-Mitgliedsstaaten seit einem Jahr bei der Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine, dass es eigentlich auch anders geht – wenn der politische Wille da ist. Auf diesem Gipfel haben sie sich allerdings wieder für Härte und Herzlosigkeit entschieden.“ *2

Schon vorab wurden in der Presse begründete Befürchtungen geäußert, welche Richtung dieser Gipfel einschlagen werde. Ein in der taz beschriebenes Papier *3 dokumentierte das Bestreben der schwedischen Ratspräsidentschaft, offen mit der libyschen Küstenwache zusammenzuarbeiten, damit diese Flüchtlinge auf dem Meer einfängt und zurück nach Libyen bringt - 59 Mio Euro sollten dafür bereitgestellt werden.  Eine „Koordinierungsgruppe“ der Behörden von Italien, Malta, Libyen und Tunesien für „besser koordinierte Such-, Rettungs- und Abfangmaßnahmen und Abfangoperationen“ soll eingerichtet werden.

Damit wurde ein Tabubruch begangen, denn zumindest offiziell distanzierte sich die EU gern von der Vorgehensweise der libyschen Küstenwache. Aus gutem Grund, denn die Brutalität der libyschen Küstenwache ist in den vergangenen Jahren zig-fach dokumentiert und angeklagt worden - Amnesty International bezeichnete die Bedingungen für Geflüchtete in Libyen erst kürzlich als „höllisch“. *4

Ein paar Worte auch zu Tunesien, das auch Teil der „Koordinierungsgruppe“ sein soll und immer mehr zum Transitland für Geflüchtete wird. Tunesien erhielt in den vergangenen 5 Jahren - zu einem großen Teil von Italien - bereits 75 bereits Mio Euro, um Migration zu ‚kontrollieren‘ - Resultat auch dieser ‚Kontrolle’ waren seit 2022 insgesamt über 29.000 Abfangaktionen auf See. *5

Die tunesische Küstenwache wird direkt von der Europäischen Union ausgebildet, ausgerüstet und finanziert, obwohl sie nachweislich gewalttätig vorgeht. Die EU hat im Übrigen ein reges Interesse daran, Tunesien als sicheren Drittstaat zu definieren, denn damit können Flüchtende, deren Boote im Mittelmeer abgefangen werden, ohne vorherige Prüfung Ihrer Asylgesuche zurückgeschickt werden.

Dem widerspricht der Civil MRCC vehement - ein Netzwerk verschiedener nichtstaatlicher Akteure und Personen mit Such- und
Rettungserfahrung im Mittelmeer - und stellt in seinem Bericht fest, dass Tunesien „unter keinen Umständen“ als sicherer Ort für die Ausschiffung“ betrachtet werden kann.

Die Festung Europa - früher mal eine Metapher - soll nach den Plänen des EU-Gipfels weiter ausgebaut werden und konkrete Gestalt annehmen: Die EU-Gelder für den bewusst verharmlosenden Begriff Infrastruktur an den Grenzen stehen de facto für Zäune und Mauern oder Wachtürme, Drohnen und Kameras. Dabei hatte sich die EU-Kommission lange gegen die
Finanzierung von Zäunen aus der Gemeinschaftskasse gewehrt, auch Deutschland und Luxemburg waren dagegen. „Es wäre eine Schande, wenn eine Mauer in Europa gebaut würde mit den europäischen Sternen drauf“, sagte Luxemburgs Regierungschef Xavier Bettel in Brüssel. *6  Andere Länder jedoch sehen dies anders und ehrlicherweise basiert die Abneigung einiger Länder scheinbar eher auf Imagegründen - die Idee des wartebasierten Europas hätte man schon gern noch weiter gepflegt. Nun also gibt es dann eben Gelder für die imageschonende ‚Infrastruktur an den Außengrenzen’.

Die Grenzschutz-Agentur FRONTEX soll weiter gestärkt werden und z.B. vermehrt an der Grenze zwischen Bulgarien und der Türkei zum Einsatz kommen. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sprach von zwei provisorisch-harmlos klingenden „Pilotprojekten“, die aber ganz bedrohlich reale Fakten beinhalten *8:

  • Es werden Gelder an Bulgarien fließen, um die Grenze zur Türkei „aufzurüsten“
  • Migranten sollen registriert, ein schnelles Asylverfahren vor Ort sowie Rückführungen an der Außengrenze sollen ermöglicht werden

Serbien attestierte der Gipfel bereits offiziell ein erfolgreiches Migrationsmanagement: Belgrad hat offenbar wie gewünscht auf die EU-Drohung reagiert, dass man ihm die Visafreiheit für den Schengenraum entziehen würde, wenn das Land weiterhin relativ großzügig Menschen aus Staaten einreisen ließ, die Linie der Regierung in Belgrad teilen.

Länder, aus denen derzeit viele Menschen in die EU kommen – namentlich Ägypten, Tunesien, Marokko Nigeria, Bangladesch und Pakistan sollen mit anderen Mitteln zur ‚Kooperation‘ bewegt werden. Hier kommt ein 80 Mrd Euro-Finanztopf der EU namens NDICI *9 ins Spiel, der es erleichtern soll, Finanzhilfen für Staaten an Bedingungen zu knüpfen. Und diese Bedingung soll es eben auch sein, mehr Rückführungen in Herkunftsländer schneller zuzulassen. *10

Bundeskanzler Scholz sprach nach dem Gipfel von einem „vertretbaren Ergebnis“ und der Fähigkeit „zusammenzufinden“ *11  Protest klingt anders.

Der Sonderbevollmächtigte für Migrationsabkommen, Joachim Stamp (FDP), brachte konkret die alte, aber immer wiederkehrende Idee ins Spiel: Erneut solle man die Verlegung von Asylverfahren nach Afrika prüfen. „Dann würden auf dem Mittelmeer gerettete Menschen für ihre Verfahren nach Nordafrika gebracht werden“ sagte er der FAZ. Damit steht er nicht allein da, denn die schwedische Ratspräsidentschaft kündigte an, noch in Ihrer Amtszeit (möglichst bis Sommer 2023) „Möglichkeiten zur Verbesserung der Ausschiffung von Migranten in Libyen“ zu prüfen. Der Wunsch auch hier: Asylverfahren nach Afrika auslagern. Einschränkend sollen es Orte sein, zu denen internationale Organisationen Zugang hätte und Menschenrechte gewahrt würden. Es stellt sich die Frage, wie dies gewährleistet und garantiert würde - und zeigt überdies, dass der Ratspräsidentschaft sehr wohl klar ist, dass Menschenrechte außerhalb solcher Orte in Libyen nicht als gewahrt gelten können. *12

Die im EU Sondergipfel Migration diskutierten Pläne und Maßnahmen, z.B. die Zäune an Europas Außengrenzen, wurden zwar in den Medien teil scharf kritisiert, aber wir kennen auch den perfiden Mechanismus der Gewöhnung. Auch dieser Tabubruch wird nicht unbedacht ausgesprochen - dahinter steckt immer auch der Versuch, die Menschen, auch uns, daran zu gewöhnen. So formuliert Eric Bosse treffend in der Taz „Die Absicht, Zäune und Mauern zu errichten, ist nicht mehr tabu.“ *13

Was also tun? Wir meinen: Aufgaben ist keine Option. Das unsere Forderungen negiert werden, heißt nicht, dass sie nicht gehört werden. Es ist zunächst mal der Versuch, sie zu ignorieren und es liegt an uns,
klarzumachen, das wir das nicht akzeptieren.

Ein erster Schritt ist es immer, sich bewusst zu machen, dass wir keine naive Forderung stellen - wo hunderte von Millionen Euro für Frontex und Grenzschutz sind, da ist auch ein Weg für sichere und legale Fluchtwege!
Und machen Sie sich bewusst, dass wir keineswegs ohnmächtig sind. Wir müssen diese Pläne nicht stillschweigend hinnehmen, sondern wir können laut werden

  • durch Veranstaltungen wie diese oder die Aktionen der Seebrücke - so wird es am 18.3. einen Aktionstag gegen den EU-Türkei-Deal geben, denn imMärz läuft die Finanzierung dieses Deals nach 7 Jahren eigentlich aus „No more EU-Turkey-Deal – Human Rights are not for sale“
  •  im Privaten und Persönlichen durch Gespräche im Freundes-, Familien-,Lern- und Arbeitsumfeld
  • durch Unterstützung von Seenotrettungsorganisationen undOrganisationen, die sich für die Wahrung des Rechts auf Asyl einsetzen
  • durch das Schreiben an EU Abgeordnete
  • durch Unterstützung von EU-Abgeordneten, Privatpersonen, Politiker*innen und Organisationen, die sich für eine humane Flüchtlingspolitik einsetzen, in sozialen Netzwerken - durch Likes und
    Zuspruch für ihre Aussagen können Sie hier ein kleines Zeichen setzen.

Schließen möchten wir heute laut und deutlich mit den Forderungen, die Sea-Watch als Reaktion auf die Beschlüsse des Gipfels formulierte *14: „Wenn die EU sich auch nur einen Funken Anstand bewahren will, sollte sie endlich Verantwortung übernehmen und auf Menschenrechte statt auf Gewalt setzen! Wir fordern:
🔸 sichere and legale Fluchtwege nach Europa
🔸 die Wahrung des Rechts auf Asyl
🔸 solidarisch organisierte Aufnahme und

🔸 Bleibeperspektiven für schutzsuchende Menschen in Europa

 

Zitiert aus

1 https://taz.de/Vor-dem-EU-Sondergipfel-Migration/!5911065/

2 https://www.facebook.com/proasyl/posts/

3 pfbid0JJQr1xFJCcbqFeikjKBQg5j9XDejm2NB3VZC3q9GbGBn9orAVP7HRBanK8zyyj1cl
https://taz.de/Vor-dem-EU-Sondergipfel-Migration/!5911065/

4 https://www.amnesty.org/en/location/middle-east-and-north-africa/libya

5 https://www.facebook.com/NewsfromtheMed/posts/5682251053328735

6 https://taz.de/EU-Gipfel-zu-Migration/!5914972/

7 https://taz.de/EU-Gipfel-zu-Migration/!5914972/

8 https://www.facebook.com/SeebrueckeSchafftsichereHaefen/posts/
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CO%2CP-R

9 Instrument für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit & internationale Zusammenarbeit (Neighbourhood, Development and International Cooperation Instrument) -
Quelle: https://www.bmz.de/de/service/lexikon/instrument-fuer-heranfuehrungshilfe-ipa-118286

10 https://taz.de/Vor-dem-EU-Sondergipfel-Migration/!5911065/

11 https://taz.de/EU-Gipfel-zu-Migration/!5914972/

12 https://taz.de/Vor-dem-EU-Sondergipfel-Migration/!5911065/

13 https://taz.de/EU-Gipfel-zu-Migration/!5914972/

14 https://www.facebook.com/seawatchprojekt/posts/pfbid01GVr36CDrBxBuB57XWFjcH15mfyQ8F927ZK7SyBXucXh7gfkNsqzLtr8HFcbAx7ml?
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