21.06.2022 Am 10. Juni hatten sich die Innenminister*innen der EU auf einen freiwilligen Solidaritätsmechanismus für aus Seenot gerettete Menschen geeinigt. Doch so begrüßenswert dieser positive Schritt auch ist: Er wird nach Auffassung von Pro Asyl von weiteren Verschärfungen für Schutzsuchende an den EU-Außengrenzen flankiert.
Es sei zu befürchten, dass die neue Positionierung der EU-Innenminister*innen das Recht von Flüchtlingen, an Europas Grenzen Asyl zu suchen, weiter beschneiden wird. Insbesondere die vorgesehenen Verschärfungen bei der Grenzsicherung im Falle von »Instrumentalisierung von Migranten«, wenn etwa ein Drittstaat Flüchtlingen den Weg an die EU-Außengrenze erleichtert und darin ein vermeintlicher Destablisierungsversuch für die EU gelesen wird, böten eine Steilvorlage für Mitgliedstaaten, die ihre rechtswidrigen Pushbacks europäisch legitimieren wollen. Hier der Beitrag in den News vom 20.06.2022:
Systematische Haft an den Außengrenzen? Bundesregierung muss dies verhindern!
Die Innenminister*innen der EU haben sich zwar auf einen freiwilligen Solidaritätsmechanismus für aus Seenot gerettete Menschen geeinigt. Aber ihre grundsätzliche Position zu Identitätsklärungs- und Grenzverfahren können die Lage von Schutzsuchenden in Europa stark verschlechtern, bis hin zu systematischer Haft an den EU-Außengrenzen.
Am 10. Juni 2022 wurden im Rat der Europäischen Union entscheidende Weichen für die künftige Europäische Flüchtlingspolitik gestellt. Zu begrüßen ist, dass sich die Staaten auf einen neuen Solidaritätsmechanismus zur Aufnahme von aus Seenot geretteten Menschen einigen konnte. Dieser positive Schritt wird aber von weiteren Verschärfungen für Schutzsuchende an den EU-Außengrenzen flankiert. PRO ASYL befürchtet, dass die neue Positionierung der EU-Innenminister*innen das Recht von Flüchtlingen, an Europas Grenzen Asyl zu suchen, weiter beschneiden wird – so etwa ihre Positionierung zur Screening- und Eurodac-Verordnung (der Datenbank zur Identifikation von Schutzsuchenden) und zum Schengener Grenzkodex (der den Personenverkehr zwischen den EU-Staaten regelt). Insbesondere die vorgesehenen Verschärfungen bei der Grenzsicherung im Falle von »Instrumentalisierung von Migranten«, wenn etwa ein Drittstaat Flüchtlingen den Weg an die EU-Außengrenze erleichtert und darin ein vermeintlicher Destablisierungsversuch für die EU gelesen wird, bieten eine Steilvorlage für Mitgliedstaaten, die ihre rechtswidrigen Pushbacks europäisch legitimieren wollen.
Die Entscheidung im Rat vom 10. Juni 2022 steht im Kontext der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (»New Pact on Migration and Asylum«), die seit den ersten Vorschlägen der Europäischen Kommission dazu im September 2020, vorangetrieben wird. Kurz zusammengefasst beinhaltet die Reform bisher Folgendes:
- Screening-Verordnung: Alle Schutzsuchenden sollen direkt nach Aufgriff an der Grenze eines europäischen Mitgliedstaates für fünf bis zehn Tage für ein Screening festgesetzt werden und für diesen Zeitraum als »nicht eingereist« gelten. Auf Basis der Informationen, die in dem kurzen Screeningverfahren erhoben werden, soll dann entschieden werden, welches Verfahren sich dem anschließt: Das normale Asylverfahren oder das Asylgrenzverfahren, in dem der/die Schutzsuchende als »nicht eingereist« gilt. Das Screeningverfahren ist aber ungeeignet, um zum Beispiel eine bei einem Flüchtling vorliegende Vulnerabilität zu erkennen, die nicht offensichtlich ist. (Verordnungsvorschlag von 2020)
- Krisen-Verordnung: Während einer »Krise« könnten die Asylgrenzverfahren erheblich ausgeweitet werden, so dass sie für alle Schutzsuchenden gelten, die EU-weit eine Anerkennungsquote von 75 % oder niedriger haben. Außerdem soll bei »Krisen« oder »höherer Gewalt«, wie einer Pandemie, Möglichkeiten eröffnet werden, erheblich von wichtigen Standards abzuweichen. (Verordnungsvorschlag von 2020)
- Asylverfahrensverordnung: Das Asylgrenzverfahren soll für einige Fälle verpflichtend werden, u.a. wenn die Anerkennungsquote eines Herkunftslandes unter 20 % liegt, und es soll den Mitgliedstaaten freigestellt sein es darüber hinausgehend auf fast alle Asylsuchenden anzuwenden. Das Asylgrenzverfahren könnte bis zu 12 Wochen dauern, woran sich bei einer Ablehnungsentscheidung ein neues Abschiebungsgrenzverfahren anschließen würde, was ebenfalls 12 Wochen dauern kann. Während dieser gesamten Zeit sollen die Betroffenen als »nicht eingereist« gelten. Diese Fiktion der »Nicht-Einreise« wird sich nur mit Haft durchsetzen lassen. Damit wären die Betroffenen für über 24 Wochen (circa sechs Monate) in großen Lagern an den Außengrenzen der EU festgesetzt und isoliert. Ihre notwendige rechtliche und soziale Unterstützung kann so nicht gewährleistet werden. Und als ob das noch nicht genug wäre, kann sich daran direkt – auch gemäß den vorgelegten Vorschlägen für eine neue Rückführungsrichtlinie – noch die erweiterte Abschiebungshaft von bis zu 18 Monaten anschließen. Im Extremfall drohen also zwei Jahre Freiheitsbeschränkung und –entziehung. (Geänderter Verordnungsvorschlag von 2020).
- Asyl- und Migrationsmanagementverordnung: Das Zuständigkeitsregime – also die Frage, welcher Staat für die Durchführung des Asylverfahrens verantwortlich ist – soll an der bisherigen Dublin-Verordnungen festhalten. Insbesondere durch die Beibehaltung des »Ersteinreiseprinzips« bleibt die Zuständigkeit häufig bei Außengrenzstaaten wie Griechenland und Italien. Die vorgeschlagenen Regelungen zu den Solidaritätsmaßnahmen, die bei »Migrationsdruck« und bei Ausschiffung nach Seenotrettung die Außengrenzstaaten entlasten sollen, sind kompliziert und realitätsfern. (Verordnungsvorschlag von 2020)
Was ist eigentlich der New Pact on Migration and Asylum?
Eigentlich sollten diese Vorschläge gemeinsam verhandelt werden, denn schließlich bedingen sich die Regelungen auch vielfach. Doch die französische Regierung, die im ersten Halbjahr 2022 die Ratspräsidentschaft innehat und damit die Verhandlungen leitet und lenkt, hat massiven Druck aufgebaut, sich im Rat bereits jetzt auf einzelne Rechtsakte zu einigen, um diese als Erfolge vor Ende ihrer Ratspräsidentschaft Ende Juni präsentieren zu können. Das ist ihr mit den Einigungen über die Entwürfe zur Screening- und Eurodac-Verordnung sowie dem Schengener Grenzkodex beim letzten Ratstreffen der Innenminister*innen auch weitgehend gelungen.
Über einen wichtigen Punkt soll noch verhandelt werden: Gelten schutzsuchende Menschen während des Screenings als eingereist oder nicht?
Systematische Haft an den Außengrenzen wäre Konsequenz
Eine solche Fiktion der Nicht-Einreise trifft auf erhebliche Bedenken. Insbesondere ist zu erwarten, dass sie letztlich nur durch freiheitsbeschränkende bzw. –entziehende Maßnahmen durchgesetzt werden kann. Dies könnte zu systematischer Haft an den Außengrenzen führen. In Griechenland lässt sich dieser Ansatz schon jetzt beobachten.
Die Einführung einer verpflichtenden Fiktion der Nicht-Einreise während des Screening-Verfahrens könnte zudem Wegbereiter für eine verpflichtende Fiktion der Nicht-Einreise auch während der auf drei Monate ausgeweiteten Asylgrenzverfahren sein. Faire Asylverfahren sind aber unter haftähnlichen Bedingungen an den Außengrenzen nicht möglich, da unter diesen Umständen insbesondere die notwendige unabhängige rechtliche Unterstützung nicht gewährleistet werden kann.
Schon im Flughafenverfahren problematisch, an anderen Grenzen dramatisch
Die Fiktion der Nicht-Einreise und die durch sie zu erwartende Konsequenz der Inhaftierung während Screening‑, Asylgrenz‑, und Abschiebungsgrenzverfahren für insgesamt rund sechs Monate hat PRO ASYL von Beginn an als eins der Kernprobleme des New Pact on Migration and Asylum kritisiert (siehe Stellungnahem zum Pakt). Wie problematisch die Fiktion der Nicht-Einreise sich bereits im Rahmen des deutschen Flughafenverfahrens am Frankfurter Flughafen auswirkt, hat PRO ASYL mit einer Praxisstudie gezeigt. Obwohl es dort eine asylrechtliche Beratung gibt und bei Ablehnung die Vertretung durch eine*n Rechtsanwalt/Rechtsanwältin gesichert ist, hat sich gezeigt: Die anwaltiche Vertretung kann nur begrenzt wirken, da die Verfahren für die Betroffenen durch die de facto Freiheitsentziehung extrem belastend sind, Unterstützungsstrukturen sozialer und psychologischer Art fehlen und durch die Schnelligkeit der Verfahren Zeit für Vertrauensaufbau und Informationsgewinnung fehlt. Ein vergleichbares System ist für Tausende von Asylsuchenden an anderen Außengrenzen, wie auf den griechischen Inseln, rein praktisch gesehen unmöglich. Es drohen unfaire Asylverfahren und rechtswidrig verweigerter Schutz.
Die Bundesregierung muss ihren erheblichen Einfluss in Brüssel nutzen und sich gegen eine solche verpflichtende Anwendung der Fiktion der Nicht-Einreise wenden.
Eine Positionierung des Europaparlaments, das neben dem Rat der EU als Ko-Gesetzgeber fungiert, zu den vorgeschlagenen Rechtsakten, steht noch aus. Sollte das Parlament sich darauf einlassen, einzelne Rechtsakte anstatt das gesamte Paket zu verhandeln, würden die Verhandlungen zwischen Rat, Parlament und Kommission beginnen und eine Realisierung dieser bedenklichen Vorschläge drohen.
(wj)