Blick auf die Lage syrischer und anderer Geflüchteter in der Türkei

17.05.2022 Anheizen von Ressentiments gegen Geflüchtete, Gewalttaten, Versagen des Schutzstatus und deslalb fehlende Arbeitserlaubnis und krasse Ausbeutung, drohende Abschiebung und Druck auf Ansiedlung in den nordsyrischen Kurdengebieten, die von der Türkei besetzt wurden - dieser Lage sehen sich die 3,7 Mio aus Syrien in die Türkei Geflüchteten ausgesetzt. Gegen die Umsiedlungspläne, die wahltaktisch und geostrategisch motiviert sind, wehren sich viele. Die Journalistin Svenja Huck berichtete am 16.05.2022 im nd:

Hass auf syrische Geflüchtete

Regierung und Opposition nutzen rassistische Ressentiments für anstehenden Wahlkampf

In Istan­bul ist der öffent­li­che Nah­ver­kehr an Fei­er­ta­gen kos­ten­los. Das Ange­bot nut­zen meist die­je­ni­gen, die in den Rand­be­zir­ken woh­nen und gerin­ge Ein­kom­men haben, unter ihnen auch Migrant*innen aus Syri­en oder zen­tral­asia­ti­schen Län­dern. Nach dem dies­jäh­ri­gen Fest des Fas­ten­bre­chens Anfang Mai heiz­te die ver­meint­lich gro­ße Prä­senz von Geflüch­te­ten im Stadt­bild die Debat­te um die Migra­ti­ons­po­li­tik in der Tür­kei wei­ter an. Nun kün­dig­te Prä­si­dent Recep Tayy­ip Erdoğan an, eine Mil­li­on Syrer*innen nach Syri­en zurück­zu­brin­gen. Mit 13 Gemein­den im Nor­den des Lan­des wol­le die Tür­kei für die­ses Vor­ha­ben koope­rie­ren, 100 000 Unter­künf­te sol­len dem­nächst dort zur Ver­fü­gung stehen.

De fac­to han­delt es sich hier­bei um die Regio­nen, die von der Tür­kei mili­tä­risch besetzt wur­den, aus denen die loka­le – über­wie­gend kur­di­sche – Bevöl­ke­rung ver­trie­ben wur­de. Die AKP-Regie­rung gerät innen­po­li­tisch immer stär­ker unter Druck, denn der Groß­teil der Bevöl­ke­rung hegt ras­sis­ti­sche Res­sen­ti­ments gegen­über Migrant*innen. Ver­schie­de­ne Oppo­si­ti­ons­par­tei­en sehen dar­in eine Mög­lich­keit, bereits den Wahl­kampf für das kom­men­de Jahr einzuläuten.

Rami Atas­si ist 38 Jah­re alt und kam 2012 selbst aus Syri­en über Ägyp­ten nach Istan­bul. In sei­ner Hei­mat arbei­te­te er als Anwalt, nun ist er im Tou­ris­mus-Sek­tor tätig. Der Vater von zwei Kin­dern spürt den zuneh­men­den Ras­sis­mus gegen Geflüch­te­te deut­lich. »Bei jeder Wahl erle­ben wir das, sowohl von Sei­ten der Oppo­si­ti­on als auch von der Regie­rung«, berich­tet er. »Mein Nach­bar zum Bei­spiel, mit dem ich mich gut ver­ste­he, sag­te letz­tens zu mir: ›Du kannst blei­ben, aber die ande­ren Syrer sol­len gehen.‹ Er kennt wahr­schein­lich gar kei­ne ande­ren außer mir.«

Laut einer Umfra­ge des For­schungs­in­sti­tuts Opti­mar von Ende April gab die Hälf­te der Befrag­ten an, beim Anblick eines Syrers Hass, Benach­tei­li­gung oder Wut zu emp­fin­den. Als Grün­de dafür nann­ten sie den Ein­druck, Syrer wür­den ihnen ihre Arbeits­plät­ze strei­tig machen. Ande­re wie­der­um haben Angst, dass die Geflüch­te­ten län­ger­fris­tig in der Tür­kei blei­ben wol­len. Nur vier Pro­zent nann­te als ers­tes Gefühl Barm­her­zig­keit und gab dafür in ers­ter Linie reli­giö­se Grün­de an.

Die Ableh­nung von Migrant*innen, nicht nur aus Syri­en, son­dern auch aus Afgha­ni­stan oder nord­afri­ka­ni­schen Län­dern, schlug in der Tür­kei in den ver­gan­ge­nen Jah­ren immer wie­der auch in phy­si­sche Gewalt um. So wur­den ver­gan­ge­nen Sep­tem­ber im Stadt­teil Altın­dağ in Anka­ra tage­lang Woh­nun­gen und Geschäf­te von Syrern ange­grif­fen, in Izmir und Istan­bul wur­den Geflüch­te­te in ihren Unter­künf­ten ver­brannt oder erstochen.

Die Tür­kei beher­bergt nach Anga­ben des UNHCR über 3,7 Mil­lio­nen Syrer*innen, mehr als jedes ande­re Nach­bar­land. Da die Tür­kei die Gen­fer Flücht­lings­kon­ven­ti­on nur für Geflüch­te­te aus Euro­pa anwen­det, erhal­ten Syrer*innen kei­nen offi­zi­el­len Flücht­lings­sta­tus, wes­halb sie bei­spiels­wei­se kei­nen Anspruch auf Arbeits­ge­neh­mi­gung haben. Das zwingt vie­le in infor­mel­le Arbeits­ver­hält­nis­se, von denen wie­der­um loka­le Unter­neh­mer pro­fi­tie­ren. Zuletzt gab sogar der tür­ki­sche Innen­mi­nis­ter Süley­man Soylu zu, dass in ers­ter Linie die­je­ni­gen Unter­neh­mer, die Migrant*innen in ihren Fabri­ken ohne Ver­si­che­rung aus­beu­ten, gegen die Rück­füh­rung von Geflüch­te­ten pro­tes­tie­ren würden.

Atas­si ist auch aktiv in der Demo­cra­tic Left Par­ty, einer lin­ken Orga­ni­sa­ti­on, die Syrer*innen im Exil, aber ver­deckt auch in Syri­en orga­ni­siert. Nor­ma­ler­wei­se wür­den sie sich nicht in die innen­po­li­ti­schen Ange­le­gen­hei­ten der Tür­kei ein­mi­schen, sagt er, doch das The­ma Migra­ti­ons­po­li­tik betrifft sie nun direkt. »Kei­ne der eta­blier­ten Par­tei­en ver­tritt unse­re Inter­es­sen. Wir hat­ten zwar Gesprä­che mit Ver­tre­tern der CHP, in denen sie behaup­te­ten, dass kei­ne Syrer abge­scho­ben wer­den wür­den. Im Par­la­ment sagen sie dann jedoch das Gegenteil.«

Dass eine Mil­li­on Syrer frei­wil­lig in die von der Tür­kei errich­te­ten Städ­te zie­hen möch­ten, bezwei­felt Atas­si: »Nie­mand weiß, was einen dort erwar­tet. Man kennt nie­man­den, man weiß nichts über die Beschaf­fen­heit die­ser Städ­te.« Das bedeu­te jedoch nicht, dass die meis­ten für immer in der Tür­kei blei­ben wol­len – im Gegen­teil.

»Rund 70 Pro­zent von uns wol­len zurück nach Syri­en, aber wir wol­len zurück in unse­re Häu­ser, in die Orte, aus denen wir flie­hen muss­ten.«

Vor allem brau­che es eine poli­ti­sche Lösung und die Garan­tie für ein siche­res Leben in Syri­en, die weder vom Assad-Regime noch von den Isla­mis­ten zu erwar­ten sei, sagt Atas­si. Außer­dem wol­le man kein Spiel­ball der geo­stra­te­gi­schen Plä­ne der Tür­kei sein. »Die Errich­tung die­ser Städ­te als ein Kor­ri­dor ent­lang der tür­ki­schen Gren­ze hal­te ich für falsch. Wir wol­len nicht in einer Puf­fer­zo­ne leben, aus der die Kurd*innen ver­trie­ben wur­den«, sagt Atas­si in bestimm­tem Ton.

Einen kon­kre­ten Plan, wann die frei­wil­li­ge Rück­kehr der Syrer*innen begin­nen und vor allem wie sie logis­tisch umge­setzt wer­den soll, hat die AKP-Regie­rung bis­her nicht vor­ge­legt. Genau dafür wird sie von ver­schie­de­nen Oppo­si­ti­ons­par­tei­en ange­grif­fen. Nach­dem Erdo­gan sei­nen Umsied­lungs­plan ange­kün­digt hat­te, ant­wor­te­te der Vor­sit­zen­de der CHP, Kemal Kili­cdar­o­g­lu: »Bei dem The­ma Flücht­lin­ge sage ich ganz deut­lich: Sie wer­den gehen. Die Schul­di­gen in die­ser Ange­le­gen­heit sind Recep Tayy­ip Erdoğan und die Län­der Euro­pas.« Die CHP kün­digt immer wie­der an, alle Syrer abzu­schie­ben, falls sie die Wah­len nächs­tes Jahr gewinnt.

Atas­si erzählt, dass das ras­sis­ti­sche Kli­ma dazu füh­re, dass man­che Syrer*innen sich nicht mehr trau­ten, ihre Häu­ser zu ver­las­sen. Es ist kei­ne neue Pra­xis der Regie­rung, in migran­ti­schen Stadt­vier­teln Men­schen auf der Stra­ße ein­zu­sam­meln und direkt in Abschie­be­zen­tren zu brin­gen. Um der tür­ki­schen Bevöl­ke­rung zu bewei­sen, dass man nicht untä­tig sei, ver­brei­tet die staat­li­che Nach­rich­ten­agen­tur Ana­do­lu Ajan­si Vide­os von die­sen Ope­ra­tio­nen. Ob die­se Wahl­kampf­stra­te­gie auf Kos­ten der Geflüch­te­ten auf­geht, bleibt abzuwarten.