06.05.2024 Der Bonn Runde Tisch gegen Kinderarmut (RTKA) richtete einen Offenen Brief zur Europawahl an die EU-Abgeordneten und -Kandidat*innen aus Bonn, in dem seine Forderungen benannt werden. Der Brief endet mit dem Appell:
Machen Sie sich stark für eine Umkehr von der derzeitigen Politik der Menschenverachtung gegenüber Schutzsuchenden sowie von rassistischen und flüchtlingsfeindlichen Ressentiments. Setzen Sie sich für eine Rückbesinnung auf Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in der deutschen und europäischen Asyl- und Migrationspolitik ein!
Sicher wäre es verstärkend, wenn diese Forderungen auch bei Wahlkampfveranstaltungen von weiteren Personen / Ehrenamtlichen der Flüchtlingshilfe an die Kandidierenden gerichtet werden.
Wir zitieren:
Runder Tisch gegen Kinder- und Familienarmut (RTKA) c/o Diakonisches Werk Bonn und Region Kaiserstr. 125, 53113 Bonn
Brief per E-Mail an folgende Abgeordnete:
MdEP Alexandra Geese (Grüne)
MdEP Petra Kammerevert (SPD)
MdEP Moritz Körner (FDP)
MdEP Axel Voss (CDU)
sowie Brief per E-Mail an folgende Kandidat*innen:
Yasmin Zair (SPD)
Ronie Makhoul (SPD)
Karin Langer (Volt)
Michael To Vinh (FDP)
Bonn, den 16.04.2024
Offener Brief zur Europawahl 2024
Sehr geehrte Europaabgeordnete und Europawahl-Kandidierende,
der Runde Tisch gegen Kinder- und Familienarmut (RTKA) aus Bonn setzt sich seit 17 Jahren auf kommunaler, Landes- und Bundesebene für die Stärkung von Kinderrechten ein. In dieser Hinsicht befassen wir uns auch mit der Situation von geflüchteten Kindern, Jugendlichen und ihren Familien, deren Lebenssituationen in vielerlei Hinsicht von den gesellschaftlichen und politischen Bedingungen in Deutschland und Europa beeinflusst werden. Daher wenden wir uns mit Blick auf die bevorstehende Europawahl 2024 mit einem eindringlichen Appell an Sie!
Wir fordern:
- menschenwürdige und faire Asylverfahren in ganz Europa unter besonderer Berücksichtigung vulnerabler Personengruppen, einschließlich Kindern und ihren Familien, die explizit aus den geplanten Grenzverfahren auszuschließen sind;
- einen effektiven Flüchtlingsschutz und damit keine Einstufung von Staaten als “sichere Drittstaaten”, die nachweislich Menschenrechtsverletzungen begehen und/oder nicht die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet haben;
- den Schutz von Menschenleben an den EU-Grenzen, u.a. durch eine Abkehr von der Militarisierung der EU-Außengrenzen, die gezielte Unterbindung und Ahndung illegaler Pushbacks, ein unabhängiges Monitoring von Menschenrechtsverletzungen und die Wiederaufnahme staatlicher Seerettung;
- die Einhaltung aller in internationalen Abkommen verankerten Menschenrechte auch für geflüchtete Menschen, insbesondere die Genfer Flüchtlingskonvention, die UN-Kinderrechtskonvention, die UN-Antifolterkonvention, und der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.
Schon seit längerem ist eine starke Polarisierung der Gesellschaft und ein erschreckendes Erstarken rechter Parteien und rechtsradikaler Gesinnungen in Deutschland sowie in ganz Europa zu beobachten. Dabei schüren aber nicht nur Rechtsextreme Hass und Hetze gegen People of Colour, Menschen mit (post)migrantischen Biografien, Zugehörige nichtchristlicher Religionen, queerer Lebensweisen und Identitäten sowie sozial Benachteiligte. Auch Politiker*innen demokratischer Parteien machen sich die Rhetorik der Spaltung zunutze. Dieses „Wir gegen die Anderen“ führt zu Ausgrenzung, stellt Menschenrechte und Vielfalt in Frage und untergräbt nicht zuletzt unsere Demokratie! Leider sind diese Tendenzen auch in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) zu verzeichnen.
Das vor kurzem in Kraft getretene Rückführungsverbesserungsgesetz ist ein fatales Signal. Die beschlossenen Änderungen führen zu einer weiteren Entrechtung und Entmenschlichung von Geflüchteten. Sie beschneiden das Recht auf Freiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung und das Recht auf Privatsphäre.
Die Einwände von zahlreichen Wohlfahrtsverbänden und Organisationen sowie von Rechtsprofessor*innen, dass die neuen Gesetze teilweise verfassungs- und europarechtlich bedenklich sind, wurden dabei ignoriert. Gerade im Bereich des Kinderschutzes sind wir alarmiert über die sich in den letzten Jahren zuspitzenden
Lücken und Missstände in der Versorgung und Betreuung von begleiteten und unbegleiteten minderjährigen Kindern, welche von mehreren Organisationen angezeigt werden.
In diese Politik der Ausgrenzung und Abschottung fügen sich auch die nun beschlossenen Neuregelungen über das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS). Sie leiten eine weitere de facto Abschaffung des individuellen Rechts auf Asyl ein und ermöglichen eine massenhafte Internierung von Menschen an den Außengrenzen sowie eine leichtere Abschiebung in vermeintlich „sichere Drittstaaten“ ohne inhaltliche Prüfung von Asylanträgen. Die geplanten Grenzverfahren werden voraussichtlich zu einer Verschärfung der humanitären Situation an den EU-Außengrenzen führen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte sieht in den Reformen eine „Abkehr von flüchtlingsrechtlichen Grundsätzen“ und fordert, dass Kinder und ihre Familien sowie andere vulnerable Schutzsuchende aus den Grenzverfahren herausgenommen werden.
Darüber hinaus können die weithin dokumentierte systematische Praxis illegaler Pushbacks an den und innerhalb der See- und Landesgrenzen in Europa sowie die damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen schon lange nicht mehr ignoriert werden. Sie wurden bereits von zahlreichen
Menschenrechtsorganisationen, den Vereinten Nationen und dem Europarat scharf verurteilt. Laut einer Studie des Kinderhilfswerks Terre des Hommes sind rechtswidrige Zurückschiebungen als auch Migrationshaft bei Kindern und Jugendlichen in mehreren EU Mitgliedstaaten (Ungarn, Griechenland, Bulgarien und Polen) weit verbreitete Praxis. Auch die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) ist in illegale Pushbacks verstrickt. Sie versuchte bereits in der Vergangenheit, Menschenrechtsverletzungen zu vertuschen und erst kürzlich legte die EU Ombudsperson gravierende Unzulänglichkeiten in Seenotsituationen offen. Zudem versuchen EU Mitgliedstaaten wie Italien gezielt,
durch verschärfte Gesetze die zivile Seenotrettung zu verhindern, wodurch Menschen auf dem Mittelmeer, auch Kinder, sterben. Aber auch die deutsche Gesetzgebung birgt das Risiko der Kriminalisierung altruistischer Hilfe für Geflüchtete während der Flucht und explizit für unbegleitete Minderjährige bei der Einreise. Völkerrechtlich zwingende Rechtsnormen, wie das Gebot der Nichtzurückweisung (Non-Refoulement), universelle Menschenrechte, die Genfer Flüchtlingskonvention sowie die UN-Kinderrechtskonvention drohen durch diese Praktiken weiter ausgehöhlt zu werden. Darüber hinaus wird die Rettung von Menschen durch zivile Organisationen, Initiativen und Einzelpersonen in Europa zunehmend kriminalisiert.
Wir weisen auf die schon zahlreich erfolgten Aufrufe und Appelle zivilgesellschaftlicher Organisationen und Wohlfahrtsverbände mit Blick auf die gesetzlichen Verschärfungen in Deutschland und Europa. Was im Auftrag Deutschlands und der EU geschieht, um das Schutzersuchen von fliehenden Menschen zu unterbinden, ist menschenverachtend, bricht internationales Recht, und ist nicht zuletzt mit den demokratischen Werten, auf denen unsere Gesellschaften fußen, unvereinbar!
Diesen Appell richten wir explizit an Sie: Machen Sie sich stark für eine Umkehr von der derzeitigen Politik der Menschenverachtung gegenüber Schutzsuchenden sowie von rassistischen und flüchtlingsfeindlichen Ressentiments. Setzen Sie sich für eine Rückbesinnung auf Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in der
deutschen und europäischen Asyl- und Migrationspolitik ein! Auf EU-Ebene sehen wir vor allem das Europäische Parlament als Vertretung der Bürger*innen der EU, und damit auch Sie, in der Verantwortung!
Wir bitten Sie um eine baldige Rückmeldung und Stellungnahme Ihrerseits. Den Brief an Sie werden wir auf www.kinderarmut-bonn.de veröffentlichen. Wenn Sie zustimmen, würden wir gerne auch Ihre Stellungnahmen auf www.kinderarmut-bonn.de bekanntgeben.
Mit freundlichen Grüßen
Ulrich Hamacher
Moderator für den Runden Tisch gegen Kinder- und Familienarmut (RTKA) Bonn
Hier ist der Offene Brief auch mit Quellenangaben zu lesen.