Botschaft aus Libyen: Auch wir zählen. Weil wir Menschen sind.

19.04.2022 Nicht ausschließlich auf die schlimmen Geschehnisse in der Ukraine sollen wir schauen. Das wünschen sich zum Beispiel die Menschen der Gruppe "Refugees in Libya", die seit langem das Gefühl haben, von der Welt allein gelassen zu werden. Pro Asyl greift in den News vom 14.04.2022 die katastrophale Lage auf, in der sich Tausende Migrant*innen immer weiter befinden, ohne dass die Kenntnis darüber zu Konsequenzen führen würde.

Libyen: »Ich möchte die Welt daran erinnern, dass wir Menschen sind«

Flüchtlinge sind in Libyen in einem Kreislauf aus Gewalt und Perspektivlosigkeit gefangen. Im Oktober 2021 forderten Tausende vor dem Büro des UN-Flüchtlingshilfswerks in Tripolis ihre Rechte ein. Der selbstorganisierte Protest wurde von den libyschen Behörden brutal unterdrückt – und war in Europa kaum eine Randnotiz. Und heute?

»Der Protest ist entstanden, weil die Menschen den Kreislauf der Gewalt nicht länger ertragen. Und weil wir verstanden haben, dass wir niemanden haben, der sich für uns einsetzt. Es sei denn, wir organisieren uns selbst.« Mit diesen Worten erklärt ein junger Mann aus dem Südsudan sein Engagement in der Selbstorganisation der Flüchtlinge in Libyen.

Am 13. April lud die Gruppe »Refugees in Libya« zu einem Online-Gespräch über ihre Lage ein. Das Gefühl, von der Welt allein gelassen zu werden, gepaart mit Verzweiflung, Wut und Entschlossenheit, dem Schicksal die Stirn zu bieten, schien immer wieder durch, als Männer und Frauen aus verschiedenen afrikanischen Ländern über die katastrophale Situation vor Ort berichteten. Einer von ihnen, der noch immer in Libyen lebt, ist der 24-jährige Charlie. Er heißt eigentlich anders, will seinen echten Namen aber aus Sicherheitsgründen nicht öffentlich machen. »Ich möchte die Welt daran erinnern, dass wir Menschen sind, keine Zahlen. Wir sind Menschen, die  Namen haben, die eine Mutter, einen Vater, ein Kind, eine Schwester haben«, sagte er. »Aber die internationale Gemeinschaft hat versagt, das zu erkennen. Menschen werden geschlagen, getötet, Frauen vergewaltigt, Männer zur Zwangsarbeit genötigt. All das geschieht in Libyen unter den Augen der internationalen Gemeinschaft, mit den Geldern europäischer Behörden. Wissen die europäischen Steuerzahler, dass ihr Geld unschuldige Menschen kaputt macht, Mütter und Väter, die sich nach Freiheit sehnen und die ein normales Leben führen wollen?«

»Wissen die europäischen Steuerzahler, dass ihr Geld unschuldige Menschen kaputt macht, Mütter und Väter, die sich nach Freiheit sehnen und die ein normales Leben führen wollen?«

Charlie von der Gruppe »Refugees in Libya« 

Im Oktober 2021 hatten sich Flüchtlinge  aus dem Südsudan, Sierra Leone, Tschad, Uganda, Kongo, Ruanda, Burundi, Somalia, Eritrea, Äthiopien und Sudan in Libyen zusammengeschlossen, um gegen die menschenunwürdigen Bedingungen zu protestieren. Trotz Sprachbarrieren gelang es ihnen, sich zu organisieren.  In den sozialen Netzwerken und auf einer eigenen Homepage informieren sie über die Zustände in Libyen und haben in einem Manifest ihre Forderungen zusammengestellt.

5000 Menschen wurden gefangen genommen, darunter viele Frauen und Kinder

Auslöser für die Proteste waren groß angelegte Razzien der libyschen Behörden in Gargaresh, einem Stadtteil der Hauptstadt Tripolis, infolgedessen rund 5000 Menschen – darunter viele Frauen und Kinder – verhaftet und in Lager gebracht wurden. Tausende Menschen demonstrierten daraufhin monatelang vor dem Büro des UN-Flüchtlingshilfswerks in Tripolis. Auch Charlie war dabei. Sie forderten Sicherheit, die Schließung der berüchtigten Lager und eine faire Behandlung im Einklang mit der  Genfer Flüchtlingskonvention. Doch anstatt den Menschen zu helfen, stellten die Vereinten Nationen vorübergehend ihre Arbeit in dem Büro ein und schlossen dieses im Januar ganz. In Charlies Stimme liegen Anklage und Fassungslosigkeit, als er von dieser Zeit berichtet. »Das Flüchtlingshilfswerk sollte sich für unsere Rechte einsetzen. Stattdessen wurden wir von libyschen Milizen gefoltert und die kommen davon, ohne bestraft zu werden. Warum schweigt die Welt dazu?«

Nach über 100 Tagen wurde der Protest in der Nacht auf den 10. Januar 2022 von libyschen Milizen gewaltvoll aufgelöst. Rund sechshundert Menschen wurden in Gefängnisse verschleppt. Der Botschafter der EU in Libyen, José Sabadell, spielte bei der Räumung eine umstrittene Rolle.  Er hatte die libyschen Behörden im Dezember auf Twitter mit Blick auf die Protestbewegung der Flüchtlinge aufgefordert, die Sicherheit der Menschen und des Betriebsgeländes zu gewährleisten – womit er nicht die Sicherheit der Geflüchteten gemeint haben dürfte. Diese werfen ihm vor, er habe den libyschen Milizen damit grünes Licht gegeben, hart durchzugreifen. »Es ist eine Schande für Europa, Menschen im Stich zu lassen, die versuchen, in Sicherheit zu gelangen«, sagt Charlie. »Es ist eine Schande, dass Europa nicht anerkennt, dass wir ein Recht auf Leben und Asyl haben. Dass niemand erkennt, dass wir zählen.«

UN- und EU-Berichte belegen schwerste Menschenrechtsverletzungen – doch das bleibt folgenlos

Weder die Selbstorganisation der Geflüchteten in Libyen noch deren Unterdrückung und Inhaftierung wurde hierzulande groß zur Kenntnis genommen. Daran zeigt sich, dass die Strategie Europas, den Flüchtlingsschutz auszulagern und möglichst keine Bilder zu produzieren, um bloß nicht Empathie zu wecken, aufgeht. Die Logik dahinter ist einfach: Wo es keine Bilder gibt, gibt es auch kein Mitgefühl – und keine Empörung. Von der einen oder anderen Zeitung abgesehen, wurde  kaum über die Protestbewegung berichtet. »Wir haben 100 Tage lang protestiert und so viel geweint, aber niemand hat uns zugehört«, sagt Charlie enttäuscht. »Selbst Tiere werden besser behandelt als wir. Aber wir werden weiter davon berichten, was uns angetan wird.«

Seit Jahren ist bekannt, dass schutzsuchende Menschen in den libyschen Lagern gefoltert, vergewaltigt und getötet werden. Das prangern nicht nur NGOs an, es steht auch in Berichten internationaler Organisationen. So legte im vergangenen Oktober ein von der UN erstellter Bericht nahe, es gebe hinreichend Gründe für die Annahme, dass die Misshandlung von Migranten in Libyen auf See, in den Zentren und durch Menschenhändler Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen. Ende Januar berichtete die Nachrichtenagentur AP über einen vertraulichen Militärbericht der EU, in welcher sich die Europäer für die Fortsetzung des umstrittenen EU-Programms zur Ausbildung und Ausrüstung der libyschen Küstenwache aussprechen – obwohl von einem »übermäßigen Einsatz von Gewalt« die Rede ist. Im Bericht wird festgestellt, dass es schwierig ist, in Libyen politische Unterstützung für die Durchsetzung »angemessener Verhaltensstandards im Einklang mit den Menschenrechten, insbesondere im Umgang mit irregulären Migranten« zu erhalten. Ein Sprecher der EU-Kommission bestätigte jedoch, dass die EU entschlossen sei, weiterhin Personal der libyschen  Küstenwache auszubilden. Das EU-Schulungsprogramm »bleibt fest auf dem Tisch, um die Kapazität der libyschen Behörden zur Rettung von Menschenleben auf See zu erhöhen«, sagte Peter Stano – verschweigend, dass die libysche Küstenwache die »geretteten« Menschen zurück in die Hölle der Lager bringt. Eine Frau aus Kamerun, die in Libyen sexuell ausgebeutet wurde, findet dafür treffende Worte: »Sie nennen es Leben retten? Wie kann es Leben retten, wenn diese Leben gefoltert werden, nachdem sie gerettet wurden?«

Seit 2015 wurden rund 455 Millionen Euro aus dem EU-Treuhandfonds für Afrika (eigentlich ein Instrument der Entwicklungshilfe) für Libyen bereitgestellt, wovon ein erheblicher Teil in die Finanzierung von Migration und Grenzschutz floss.

Schlaglichter einer fatalen Allianz

Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration wurden im vergangenen Jahr mehr als 32.000 Menschen von der EU-finanzierten, libyschen Küstenwache abgefangen und zurückgebracht in die Lager – die Zahl hat sich im Vergleich zu 2020 mehr als verdreifacht.

Seit 2015 wurden rund 455 Millionen Euro aus dem EU-Treuhandfonds für Afrika (eigentlich ein Instrument der Entwicklungshilfe) für Libyen bereitgestellt, wovon ein erheblicher Teil in die Finanzierung von Migration und Grenzschutz floss. Die Bundesregierung steuerte rund 121,6 Millionen Euro bei. Auch Deutschland beteiligte sich jahrelang an der Ausbildung der libyschen Küstenwache.

Die EU und Italien haben der sogenannten libyschen Küstenwache Patrouillenschiffe zur Verfügung gestellt, damit sie Flüchtlingsboote abfangen und sie in libysche Gefängnisse zurückbringen kann. Im Oktober 2020 nahm EU-Botschafter Sabadell an einer Zeremonie in Tripolis teil, als der libyschen Küstenwache  zwei weitere Schiffe übergeben wurden, die mit EU-Geldern repariert und aufgerüstet worden waren.

Im Dezember 2021 hat die libysche Küstenwache aus Italien eine mobile Seenotleitstelle erhalten. Die in Containern installierte Informations- und Überwachungstechnik soll helfen, Geflüchtete in Booten auf dem Mittelmeer zu entdecken und anschließend nach Libyen zurückzuschaffen. . Die Finanzierung erfolgt im Rahmen des EU-Projekts »Unterstützung der integrierten Grenz- und Migrationsverwaltung in Libyen«  Zudem erhält die Küstenwache weitere drei Patrouillenschiffe aus Italien, und das italienische Innenministerium soll laut Medienangaben libysches Personal zur Bedienung der Technik ausbilden.

Die Grenzschutzagentur Frontex führt Überwachungsflüge über dem zentralen Mittelmeer durch und gibt die Daten an die libysche Küstenwache weiter, damit diese Flüchtlingsboote aufspüren kann. Die EU  gibt enorme Summen aus, um diese Überwachung aufrechtzuerhalten.

Kurzum: Die EU finanziert seit Jahren  die Akteure und die Infrastruktur,  um  Tausende von Bootsflüchtlingen abzufangen und willkürlich in Haft zu nehmen.

 

Lichtblick mit Einschränkungen 

Ende März entschied sich die Bundesregierung für eine Verlängerung des Bundeswehr-Einsatzes vor der libyschen Küste im Rahmen der EU-Mission IRINI. Zwar haben die Ampel-Koalitionäre die umstrittene Ausbildung der libyschen Küstenwache aus dem Aufgabenkatalog gestrichen – ein längst überfälliger Schritt! – und festgehalten, dass die Bundesregierung sich dafür einsetzt, »die Lage von Flüchtlingen und Migranten in Libyen an Land zu verbessern«. Doch diesen Willensbekundungen müssen nun Taten in Form von europäischen Initiativen folgen.

Dass die Bundeswehr im Einsatz für IRINI vor der libyschen Küste jetzt offiziell ein Mandat zur Seenotrettung hat, wird von der Bundesregierung als Fortschritt verkauft. Doch das verschleiert gleich zweierlei: Erstens ist die Seenotrettung ohnehin eine völkerrechtliche Pflicht! Und zweitens befindet sich das Einsatzgebiet von IRINI vor der östlichen Küste Libyens – das ist weitab der Routen, die Geflüchtete normalerweise nehmen.

Charlie und seine Mitstreiter hoffen, dass Europa die Zusammenarbeit mit Libyen beendet und die gefangenen und gemarterten Menschen evakuiert. Auch PRO ASYL erhebt seit Jahren immer wieder die Forderung nach Evakuierung und Relocation-Programmen für die Flüchtlinge in Libyen.

Golgatha ist heute auch in Libyen

Golgatha, die Kreuzigungsstätte Jesu, sei »heute in Butscha, Mariupol, Charkiw«, erklärte Annette Kurschus, die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, in ihrer Karfreitagsbotschaft. Was sie nicht sagte: Golgatha ist auch im libyschen Haftlager Ain Zara.

»Wir sehen, dass sehr viele Ukrainer in den europäischen Mitgliedsstaaten aufgenommen wurden«, sagt Charlie. »Aber die internationale Gemeinschaft sollte nicht nach Hautfarbe, Herkunft oder Bildung entscheiden. Auch wir zählen. Weil wir Menschen sind. Die Medien berichten nicht über uns, aber wir haben dasselbe durchgemacht wie die Ukrainer.«

»Sagen Sie Ihren Politikern, dass unsere Leben genauso wichtig sein wie ihre. Wir zählen auf jeden Einzelnen von Ihnen. Bitte helfen Sie uns.«

Charlie von der Gruppe »Refugees in Libya« 

Und dann hat er noch eine Bitte an die Menschen in Deutschland: »Klären Sie alle darüber auf, was mit uns geschieht. Verbreiten Sie die Nachricht in Kirchen, Vereinen, bei Ihren Politikern. Sie leben in einer Demokratie! Seien Sie unsere Ohren, Hände und Stimmen in Ihren Ländern. Sagen Sie Ihren Politikern, dass unsere Leben genauso wichtig sein wie ihre. Wir zählen auf jeden Einzelnen von Ihnen. Bitte helfen Sie uns.«

(er)