20.04.2021 Seinerzeit riesig aufgebauscht, doch (fast) nichts dahinter! Bremer BAMF-Affäre: Gericht stutzt Anklage zurecht
Das Landgericht Bremen hat die Anklage in der BAMF-Affäre größtenteils abgewiesen. Die Richter widersprechen der Rechtsauffassung der Staatsanwaltschaft ungewöhnlich deutlich.
Ein Kommentar von Stefan Buchen für die ARD fasst zusammen, um was es ging.
Skandal, der keiner war - BAMF-Prozess eingestellt
10.000 Euro muss sie bezahlen, damit die Sache abgeschlossen ist. Eine geringfügige Summe ist das nicht. Wer zahlt schon gerne 10.000 Euro, einfach so? Nur, um Ruhe zu haben. Ulrike B. darf sich so von einem Strafprozess vor dem Landgericht Bremen freikaufen - von einem Berg von Vorwürfen waren nur Krümel übrig geblieben. Der Prozess gegen sie findet nun nicht mehr statt. Womöglich wäre die ehemalige Leiterin der Bremer Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) am Ende auch von den wenigen übrig gebliebenen Vorwürfen freigesprochen worden. Die Chancen dafür standen gut. Dass diese Vorwürfe "geringfügig" waren, darüber waren sich Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung am Ende sogar einig. Aber die 60-Jährige wollte sich diese Verhandlung ersparen. Ulrike B. hat sich öffentlich nie geäußert. Was sie durchmachen musste, kann man nur ahnen.
Massive Anschuldigungen
Vor drei Jahren war Ulrike B. die Sau, die durchs Dorf getrieben wurde. Tausenden Migranten soll die Beamtin, im Verbund mit kriminellen Anwälten und anderen dubiosen Helfern, zu unberechtigtem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland verholfen haben. Eine Frau, die unerwünschten Einwanderern aus dem Orient en masse den Bleibestatus verschaffte - in den Augen vieler war Ulrike B. im Frühjahr 2018 die naiv-verblendete Wiederkehr der Willkommenskanzlerin Angela Merkel. Eine Doppelgängerin gefährlicher noch als das Original.
Pflichtbewusste niedersächsische Landräte und missgünstige Gegner innerhalb der BAMF-Bürokratie brachten den Stein ins Rollen. Polizei und Staatsanwaltschaft ermittelten mit Verve. Die Medien, allen voran der NDR, waren willige Helfer und machten die Geschichte groß. Für die Medien der bürgerlichen Mitte war es die Gelegenheit, ihre "Objektivität" und "Ausgewogenheit" unter Beweis zu stellen. Hatten sie noch im Migrationsjahr 2015 mehrheitlich die der Genfer Konvention verpflichtete Politik der offenen Grenze im Moment der Not befürwortet und wohlwollend kommentiert, so konnten sie nun zeigen, dass sie in der Lage sind, eine zu generöse Willkommenskultur mit strenger Kritik zu hinterfragen. Sie neigten ihr Ohr den besorgten Bürgern zu und multiplizierten deren Ängste. "Einfach so" habe Ulrike B. positive Asylbescheide vergeben, hieß es.
Politisches Beben
In der Politik löste die BAMF-Affäre ein Beben aus. Zwischen CSU und CDU knarzte es so gewaltig, dass das Duell zwischen Söder und Laschet wie ein Streit im Kindergarten erscheint. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) grenzte sich von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ab und ließ unverblümt erkennen, dass nach seiner Auffassung die Kanzlerin persönlich an der Misere schuld sei. Sein Staatssekretär Stephan Mayer erklärte im Fernsehen, dass er Ulrike B. und ihre "Komplizen" für "hochkriminell" halte. Es drohte der Riss zwischen den Schwesterparteien wegen der Migrationsfrage.
Und doch war von vornherein klar, dass nach den Maßstäben der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention und des deutschen Asylrechts nichts Falsches passiert war. Der "Skandal" bezog sich, wie sich sofort zeigte, auf Asylanträge vornehmlich jesidischer Flüchtlinge aus dem Irak und Syrien, die Ulrike B. und zwei Rechtsanwälte bearbeiteten. Jesiden waren in dem Zeitraum 2014-2016, in dem die Schutzsuchenden nach Deutschland kamen, die verwundbarsten und exponiertesten Opfer des sogenannten Islamischen Staates. Ein Schutzstatus in Europa stand ihnen zu. Und wenn sie im Erstaufnahmeland, etwa in Bulgarien, schlecht behandelt wurden, wofür es zahlreiche Anzeichen gab, hatten sie Anspruch auf Schutz in Deutschland. Dieses Ergebnis hätte auch eine flüchtlingsfeindlichere BAMF-Beamtin, als Ulrike B. es ist, nicht verhindern können. Verbrecher wären Ulrike B. und die mitbeschuldigten Anwälte nur in einem Staat, der die erwähnten verfassungs- und völkerrechtlichen Grundlagen über Bord wirft. Es ist kein Geheimnis, dass manche in Deutschland genau danach streben.
"Wegen Geringfügigkeit" eingestellt
Wegen Einschleusung von Ausländern oder missbräuchlicher Asylantragstellung konnte Ulrike B. also nach geltender Gesetzeslage nicht schuldig sein. Das hatte das Landgericht Bremen der Staatsanwaltschaft schon im vergangenen November klar gemacht, als es die Anklage überwiegend zurückwies. Nun werden auch die übrig gebliebenen Nebensächlichkeiten wie etwa der angebliche "Verrat von Dienstgeheimnissen" nicht mehr verhandelt. Das Verfahren gegen Ulrike B. ist "wegen Geringfügigkeit" eingestellt. Der mitangeklagte Anwalt darf ebenfalls mit einer baldigen Einstellung rechnen. Der mitangeklagte Anwalt darf ebenfalls mit einer baldigen Einstellung rechnen. Gericht, Staatsanwaltschaft und Angeklagte teilen offenbar den Wunsch, sich die Peinlichkeit dieses Prozesses zu ersparen.
Die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke kommentierte am selben Tag:
Prozess in Bremen: Die restriktive Asylpraxis gehört auf die Anklagebank!
„In Bremen sollte vor allem eine liberale Schutzpraxis für Flüchtlinge abgestraft werden – wer wollte, konnte dies von Anfang an wissen. Für die massiv nach rechts gerückte Asylpolitik in Deutschland war es offenbar unerträglich, dass eine Behördenleiterin dafür sorgte, jesidischen Flüchtlingen unkompliziert den ihnen zustehenden Schutz zu gewähren. Die unverantwortliche Skandalisierung der Vorgänge in Bremen wurde sodann für weitere Verschärfungen des Asylrechts genutzt – dabei sind eine Liberalisierung und qualitative Verbesserung der strengen und häufig fehlerhaften Entscheidungspraxis des BAMF das Gebot der Stunde“, erklärt Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, zu dem heute begonnenen Strafprozess gegen die ehemalige BAMF-Leiterin in Bremen, Ulrike B. Die Abgeordnete weiter:
„Nicht die Gewährung, sondern die Verweigerung von Schutz ist der Skandal, für den sich offenbar niemand verantworten muss. Wenn fast ein Drittel aller gerichtlich überprüften BAMF-Bescheide sich als rechtswidrig erweist, dann ist das ein nicht akzeptabler Befund, für den Bundesinnenminister Seehofer und Behördenchef Sommer die Verantwortung tragen. Statt für eine unabhängige Verfahrensberatung, eine gute Vertretung des BAMF in Gerichtsverfahren und nochmalige Überprüfungen ablehnender Bescheide zu sorgen, betreibt das BAMF hunderttausende aufwändige Widerrufsverfahren, die in aller Regel zu nichts führen. Diese Praxis ist europaweit nahezu einmalig und eine völlig falsche Prioritätensetzung.
Bundesinnenminister Seehofer und sein Staatssekretär Mayer haben allen Anlass, sich bei der ehemaligen Leiterin in Bremen, Ulrike B., zu entschuldigen: Entgegen ihrer besonderen Fürsorgepflicht haben sie die bewährte und fachkundige Beamtin aus Bremen öffentlich vorverurteilt und damit massiv zu ihrer Verleumdung und Kriminalisierung beigetragen. Doch trotz der umfassendsten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen in Bremen seit dem Zweiten Weltkrieg und einem enormen Personaleinsatz, auch im BAMF, blieb am Ende von den ursprünglichen Vorwürfen eines angeblichen bandenmäßigen Asylmissbrauchs nichts mehr übrig – gegen die wenigen verbliebenen Anklagereste wird sich die ehemalige Leiterin vermutlich auch noch zu verteidigen wissen. Hier wäre der von rechten Politikern inflationär genutzte Begriff der ‚Hexenjagd‘ tatsächlich einmal zutreffend.
Klar ist jetzt schon: Soweit das BAMF bei seiner Aufarbeitung der Vorgänge damalige Anerkennungen aus Bremen wieder zurückgenommen hat, wurden diese Rücknahmen nach einer gerichtlicher Überprüfung ihrerseits zu fast 90 Prozent als rechtswidrig bewertet, das zeigen Zahlen der Bundesregierung (Bundestagsdrucksache 19/26132, Fragen 8-10). Es wurde also zu Recht Schutz gewährt, und die Rücknahmen der damaligen korrekten Entscheidungen waren offenbar vor allem politisch motiviert. Auch das ist ein Skandal, über den jedoch kaum berichtet wird.“
Am 20. April stellte Ulla Jelpke ergänzend fest:
Die restriktive Asylpraxis des BAMF ist der eigentliche Skandal
"Es überrascht mich nicht im mindesten, dass das Verfahren gegen die ehemalige BAMF-Leiterin Ulrike B. aus Bremen heute wegen Geringfügigkeit eingestellt wurde. Es war schon lange absehbar, dass von den Vorwürfen eines angeblich bandenmäßigen Asylmissbrauchs nichts übrig bleiben würde. Die von Ulrike B. verantworteten Bescheide erwiesen sich auch im Nachhinein ganz überwiegend als richtig. Bundesinnenminister Seehofer und sein Innenstaatssekretär Mayer, die sich damals an der medialen und politischen Vorverurteilung der früheren Bremer BAMF-Leiterin beteiligt hatten, sollten sich nun dringend öffentlich bei Ulrike B. entschuldigen“, erklärt Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, anlässlich der Einstellung des Strafverfahrens gegen die frühere Leiterin der Bremer Außenstelle des BAMF. Jelpke weiter:
„Ulrike B. hat dafür gesorgt, dass jesidische Flüchtlinge unkompliziert den ihnen zustehenden Schutz erlangen konnten. Und genau diese liberale Schutzpraxis wurde skandalisiert und kriminalisiert, um den Asyldiskurs nach rechts zu verschieben und bundesweit einen restriktiveren Kurs in der Asylpolitik durchzusetzen. Das eigentliche Problem liegt ganz woanders: Fast ein Drittel aller gerichtlich überprüften BAMF-Bescheide erweisen sich als rechtswidrig. Nicht die Gewährung, sondern die Verweigerung von Schutz ist der Skandal. Doch hierfür muss sich offenbar niemand verantworten.“