25.01.2023 "Ein Haus gebaut, aber die Türen vergessen?" Bis September 2025 sollen monatlich 1000 Afghanen nach Deutschland kommen, verspricht das Bundesaufnahmeprogramm für Afghanen, das im Oktober 2022 (endlich!) startete. Damit "erfülle Deutschland seine humanitäre Verantwortung", laut Baerbock wolle man vor allem Mädchen und Frauen „ein Stück Hoffnung zurückgeben und die Chance auf ein Leben in Freiheit, Selbstbestimmung und Sicherheit.“ Journalisten fragten jetzt nach und stellten fest: "Noch hat kein Afghane über das Bundesprogramm den Weg nach Deutschland gefunden". „Wir haben derzeit den Eindruck, dass die Bundesregierung ein Haus gebaut, aber die Türen vergessen hat“, so Tarek Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher von PRO ASYL.
Wir zitieren RP Online vom 23. Januar
Jeden Monat bis zu 1.000 Afghanen Das Aufnahmeprogramm für Afghanen stockt
Analyse | Berlin · Pro Monat will der Bund bis zu 1.000 Afghanen aus humanitären Gründen nach Deutschland holen. Doch das Bundesaufnahmeprogramm läuft schleppend an. Verbände kritisieren, dass es an Transparenz und Tempo fehle.
Das Bundesaufnahmeprogramm für Afghanen ging Mitte Oktober mit großen Erwartungen an den Start. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sagte, mit dem Programm erfülle Deutschland seine humanitäre Verantwortung, man wolle vor allem Mädchen und Frauen „ein Stück Hoffnung zurückgeben und die Chance auf ein Leben in Freiheit, Selbstbestimmung und Sicherheit.“ 1000 Afghaninnen und Afghanen pro Monat sollen bis September 2025 aus humanitären Gründen aufgenommen werden.
Doch die Aufnahme stockt: Noch hat kein Afghane über das Bundesprogramm den Weg nach Deutschland gefunden, wie das Innenministerium auf Anfrage erklärte. „Nachdem das Programm Mitte Oktober 2022 an den Start gegangen ist, konnte bereits zwei Monate später eine erste Auswahlrunde initiiert werden. Als Ergebnis dieser Auswahlrunde wird mit den ersten Aufnahmezusagen in den kommenden Wochen gerechnet“, so ein Sprecher. NGOs kritisieren, dass das Programm intransparent sei und es an Tempo fehle. Das Ministerium verweist darauf, dass man es mit „komplexen Rahmenbedingungen in Afghanistan“ zu tun habe, nötig seien „völlig neue Verfahren und Konzepte“.
Der Bund hat ein Online-Tool mit mehr als 100 Fragen entwickelt. Es werden neben den Daten zur Person auch medizinischer Behandlungsbedarf, Lebensumstände, tätigkeitsbezogene Gefährdungen, Vulnerabilität aufgrund von Geschlecht, Religionszugehörigkeit, sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität sowie eine Integrationsprognose abgefragt. Die Antragssteller werden gebeten, diese Angaben möglichst mit Dokumenten zu belegen. Das IT-System vergibt Punkte und soll feststellen, wer als individuell gefährdet eingestuft werden kann.
Zu der Online-Eingabe haben jedoch nur ausgewählte Organisationen wie die NGOs „Kabul Luftbrücke", „Reporter ohne Grenzen" oder „Mission Lifeline" einen Zugang. Das heißt: Betroffene können sich selbst gar nicht registrieren. „Afghanen wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen und was die Kriterien des Programms sind. Dabei ist die Nachfrage hoch: Wir haben schon tausende Anfragen erhalten“, sagte Tareq Alaows, flüchtlingspolitischer Sprecher von PRO ASYL. „Wir haben derzeit den Eindruck, dass die Bundesregierung ein Haus gebaut, aber die Türen vergessen hat.“
Besonders misslich sei die Lage für frühere Ortskräfte. Die Bundesregierung hatte ihnen im Spätsommer 2021 empfohlen, sich vor den Taliban im Ausland in Sicherheit zu bringen. Um für das Programm in Frage zu kommen, müssen die Menschen jedoch nicht nur die afghanische Staatsangehörigkeit besitzen, sondern sich auch in Afghanistan aufhalten. „Viele Ortskräfte sind ins Nachbarland geflohen, und sie können nicht zurück. Doch auch andere Wege nach Deutschland sind versperrt: Es gibt nur zwei Visa-Stellen in der Region. In Teheran im Iran ist es derzeit aber wegen der Unruhen zu unsicher, und in Islamabad in Pakistan reichen die Kapazitäten der Auslandsvertretung nicht aus“, sagte Alaows.
Anne Renzenbrink, Pressereferentin von „Reporter ohne Grenzen“, spricht mit Blick auf das Aufnahmeprogramm gar von einer „absurden Situation“. „Wir können geflohenen Menschen nicht die Auflage machen, zurück nach Afghanistan zu gehen, um fürs Bundesaufnahmeprogramm in Frage zu kommen. Das ist lebensgefährlich“, sagte sie. Daher schlägt der Verband eine Stichtagsregelung vor: Journalisten, die nach dem 15. August 2021, dem Tag, an dem Kabul an die Taliban fiel, geflohen sind, sollten sich für das Programm melden können.
Allerdings sei das Verfahren „völlig intransparent“, so Renzenbrink. „Es ist völlig unklar, wie stark welche Aspekte gewichtet werden. Und es weiß auch niemand, wie lange es dauern wird, bis die Menschen tatsächlich nach Deutschland kommen. Und wie läuft die Ausreise praktisch ab? Was die Bundesregierung da macht, reicht nicht im Ansatz“, so die Pressereferentin. Vor allem für Medienschaffende sei die Situation in dem Land dramatisch. Schon jetzt sei das journalistische Angebot um ein Drittel geschrumpft, 60 Prozent der Journalisten hätten ihren Beruf aufgegeben, vor allem Frauen. Und die staatliche Zensur sei erdrückend, so Renzenbrink: „Die religiösen Inhalte dominieren wieder.“
Die Bundesregierung verweist darauf, dass im Rahmen laufender Verfahren über 40.000 Afghanen eine Aufnahmemöglichkeit in Deutschland in Aussicht gestellt worden sei, über 28.000 davon seien bereits nach Deutschland gekommen. In regelmäßigen Abständen würden nun fürs Bundesaufnahmeprogramm Personen ausgewählt. Doch es würde von einer Vielzahl von Faktoren abhängen, wie lange es bis zur Einreise nach Deutschland dauert. „Nicht alle diese Faktoren können von der Bundesregierung beeinflusst werden“, sagte ein Sprecher des Innenministeriums.