Bundestagsabgeordnete: NEIN zum neuen Afghanistan-Einsatz

stattdessen 12 Forderungen.

„Darum stimmen wir mit Nein“ – Persönliche Erklärung zur Abstimmung über einen neuen Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr

Veröffentlicht am 25. August 2021 von Ulla Jelpke

Diplomatische Offensive für zivile Evakuierungen – Keine Fortsetzung der gescheiterten NATO-Intervention in Afghanistan

 Persönliche Erklärung nach §31 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages zur Abstimmung zum Antrag der Bundesregierung „Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan“ (Drs. 19/32022) von Sevim Dagdelen, Ulla Jelpke, Heike Hänsel, Andrej Hunko, Zaklin Nastic, Andreas Wagner und Zeki Gökhan vom 25. August 2021:

 

Die Bundesregierung ist mitverantwortlich für das Desaster des NATO-Kriegs in Afghanistan: Zehntausende getötete afghanische Zivilisten, Millionen Flüchtlinge, 59 tote Bundeswehrsoldaten und allein auf deutscher Seite 12,5 Milliarden Euro an Kriegskosten. Am Ende ließen Union und SPD auch noch die Ortskräfte und ihre Familien in Afghanistan im Stich, brachten damit tausende Menschen in Lebensgefahr, auch weil sie die zuletzt am 24. Juni 2021 in den Bundestag eingebrachte Forderung der Fraktion DIE LINKE nach einer schnellen, unbürokratischen Evakuierung der Ortskräfte parallel zum Abzug der Bundeswehr ablehnten, als diese noch wesentlich gefahrloser möglich war.

Mit dem völkerrechtswidrigen Mandat für einen Einsatz deutscher Soldaten zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan, die mit Blick auf den angekündigten Abzug der US-Truppen bereits heute womöglich eingestellt werden soll, versucht die Bundesregierung, den Deutschen Bundestag für ihre gesamte verfehlte Afghanistan-Politik in Mithaftung zu nehmen und der gescheiterten Politik der „humanitären Intervention“ neues Leben einzuhauchen. Dafür ist sie bereit, eine gefährliche Gewalteskalation in Kauf zu nehmen, die das zwangsläufige Ende jeder Evakuierung bedeuten würde.

Nach der militärischen Besetzung des Flughafens in Kabul durch die USA und dann der Bundeswehr wurde der reguläre Flugbetrieb eingestellt. Damit wurde vorschnell eine effektive zivile Evakuierung verunmöglicht und einseitig auf einen Kampfeinsatz der Bundeswehr gesetzt, aus dem ein neues Bundeswehr-Mandat für ganz Afghanistan folgte – das mit der heutigen Abstimmung bereits wieder obsolet ist.

Mit dem Militäreinsatz der Bundeswehr wird der Öffentlichkeit militärische Handlungsfähigkeit simuliert, während die Bundesregierung zugleich bis ins Detail die Evakuierung mit den Taliban abspricht. Durch die ausschließlich militärische Evakuierung unter dem Dach der US-Streitkräfte ist die Evakuierung zeitlich massiv begrenzt worden. Das Gros der Ortskräfte und ihre Familien wurden von der Bundesregierung im Stich gelassen. Gegenüber dem vorherigen Afghanistan-Mandat wird im vorliegenden die Gruppe der zu Evakuierenden in schändlicher Weise eingeschränkt. Ortskräfte und besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen sollen demnach nur noch „im Rahmen verfügbarer Kapazitäten“ in Sicherheit gebracht werden – das ist nicht nur verlogen, sondern für Tausende von Menschen lebensgefährlich.

Wir lehnen das Mandat für den Kampfeinsatz der Bundeswehr ab und fordern eine politisch-diplomatische Offensive für eine zivile Evakuierung aus ganz Afghanistan in Verhandlungen mit den Taliban und eine konsequente Beendigung der NATO-Interventionspolitik. Wir kritisieren zudem das erneute Übergehen der Vereinten Nationen, das in einer Reihe mit 20 Jahren NATO-Intervention in Afghanistan steht.

Statt der Bundesregierung ein Mandat zur Simulation militärischer Handlungsfähigkeit zu geben, lehnen wir den Versuch ab, den Bundestag für ihre gescheiterte Interventionspolitik in Haftung zu nehmen, und fordern:

  1. die Beendigung des NATO-Krieges in Afghanistan und den Abzug der NATO-Truppen zu begrüßen sowie darauf zu dringen, dass alle NATO-Mitglieder auf eine Fortsetzung ihrer Interventionspolitik verzichten;
  2. afghanische Ortskräfte, die für deutsche Institutionen oder deren Subunternehmen sowie für deutsche Organisationen und deutsche bzw. aus Deutschland finanzierte NGOs, Medien und Stiftungen gearbeitet haben und sich aufgrund dieser Tätigkeit gefährdet sehen, unbürokratisch und schnellstmöglich, inklusive ihrer Familienangehörigen (ohne strikte Begrenzung auf die Kernfamilie), zivil zu evakuieren und in Deutschland aufzunehmen;
  3. Familienangehörige von in Deutschland lebenden afghanischen Schutzberechtigten bzw. afghanischen Staatsangehörigen bei dieser Evakuierung unbürokratisch mit einzubeziehen, auch über die Kernfamilienangehörigen hinaus, um unverantwortliche Familientrennungen in der aktuell äußerst bedrohlichen Situation zu vermeiden; hiervon unabhängig müssen alle anhängigen Visumsverfahren zur Familienzusammenführung aus Afghanistan massiv beschleunigt und vorrangig und ohne bürokratische Anforderungen wohlwollend entschieden werden (durch Personalaufstockungen in betreffenden Auslandsvertretungen und eine teilweise Bearbeitung in Deutschland); auf den Nachweis von Deutsch-Kenntnissen beim Ehegattennachzug oder die Vorlage nur schwer zu beschaffender Dokumente ist zu verzichten; die Möglichkeiten zur Aufnahme sonstiger Familienangehöriger müssen angesichts der aktuellen Bedrohungslage insbesondere für junge Frauen und Männer in Afghanistan großzügig genutzt werden;
  4. besonders vulnerable und gefährdete Personen, wie z.B. Journalistinnen und Journalisten, Menschenrechtsverteidiger und Menschenrechts­verteidigerinnen, Frauenrechtlerinnen und LGBTIQ und Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten, ebenfalls unkompliziert in die laufende Evakuierung mit einzubeziehen;
  5. alle existierenden Gesprächskanäle zu nutzen, um von den Taliban als neuen Machthabern in Afghanistan Garantien für die Evakuierung auch von Menschen in entlegenen Landesteilen zu bekommen;
  6. ein Aufnahmeprogramm durch den Bund einzurichten und entsprechende Landesaufnahmeprogramme zu unterstützen, auch um die Anrainerstaaten Afghanistans, die bereits Millionen afghanischer Flüchtlinge aufgenommen haben, zu entlasten („Resettlement“);
  7. das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) anzuweisen, alle Widerrufsverfahren in Bezug auf afghanische Geflüchtete einzustellen bzw. zurückzunehmen; afghanischen Geflüchteten muss umfassend Schutz in Deutschland gewährt werden, anhängige Asylgerichtsverfahren sind entsprechend für erledigt zu erklären, auch zur Entlastung der Verwaltungsgerichtsbarkeit,
  8. das politische Einverständnis des Bundesinnenministers gegenüber den Bundesländern für eine Aufenthaltsgewährung aus humanitären Gründen nach § 23 Abs. 1 AufenthG für geduldete Geflüchtete aus Afghanistan zu erklären und sich für eine klare Abschiebestoppregelung einzusetzen; eine solche humanitäre Bleiberechtsregelung würde die Integration der hier lebenden afghanischen Geflüchteten erleichtern und könnte das BAMF entsprechend entlasten;
  9. sich gegenüber den Nachbarstaaten Afghanistans und innerhalb der EU für offene Fluchtwege und die strikte Respektierung des internationalen Flüchtlingsrechts, insbesondere des Zurückweisungsverbots, einzusetzen; die von der Bundesregierung angekündigte Soforthilfe in Höhe von 100 Mio. Euro zur Unterstützung internationaler Organisationen für diese Aufgaben in den Anrainerstaaten Afghanistans muss umgehend ausgezahlt und im Bedarfsfall aufgestockt werden;
  10. humanitäre Hilfsprogramme von UN-Organisationen und zivilgesellschaftlichen Organisationen in Afghanistan zur Linderung der katastrophalen humanitären Lage und zur Versorgung von Binnenflüchtlingen fortzusetzen, wo immer dies möglich ist;
  11. zusätzliche Gelder für humanitäre Hilfe bereitzustellen, insbesondere auch für Geflüchtete in Afghanistan und den benachbarten Ländern, und Gesprächskanäle mit den Taliban auf allen Ebenen zu nutzen, um Garantien für die Unabhängigkeit humanitärer Arbeit zu erhalten;
  12. Waffenexporte in die Region einzustellen, insbesondere an den Taliban-Unterstützer Pakistan;
  13. den Afghanistan-Krieg über den angekündigten Abschlussbericht hinaus umfassend unabhängig aufzuarbeiten und politische Schlussfolgerungen dazu im Bundestag zur Diskussion zu stellen;
  14. eine unabhängige Evaluierungs-Kommission, die vom Bundestag eingesetzt wird, nach dem Vorbild Norwegens zum Krieg in Afghanistan zu unterstützen und den dafür nötigen Zugang zu den entsprechenden Informationen in den Ministerien uneingeschränkt zur Verfügung zu stellen;
  15. die Beendigung auch anderer Auslandseinsätze der Bundeswehr wie in Mali mit zeitgleicher Evakuierung aller Ortskräfte auf den Weg zu bringen, um weitere humanitäre Katastrophen zu vermeiden.

Deswegen stimmen wir mit Nein.