07.09.2020 ... befürchtet Thomas Ruttig, Afghanistan-Beobachter. Vieles deute darauf hin, dass es im September wieder zu Abschiebungen kommen werde.
In seinem Blog schrieb er am 29. August:
Wiederaufnahme der Afghanistan-Abschiebungen? Neuer Asyllagebericht wie immer zu positiv
Das Aktuelle zuerst: Es hatte über die vergangenen Wochen verschiedene Hinweise gegeben, dass die Bundesregierung tatsächlich die aufgrund der Corona-Pandemie ausgesetzten Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber nach Afghanistan im August wieder aufnehmen wollte. Es handelte sich z.B. um ohne Abschiebepläne grundlose Aussetzungen von Arbeitserlaubnissen (ein Beispiel hier, aus dem Abschiebe-Hardlinerbundesland Bayern) und Ausstellung von Haftbefehlen mit Datierungen auf Mitte August. Es scheint, auch wenn das offiziell nicht bestätigt wird, dass die Regierung in Kabul einem für den laufenden Monat terminierten Abschiebeflug keine Landeerlaubnis erteilt hat.
Die Aussetzung der Abschiebungen war aufgrund einer Bitte der afghanischen Regierung erfolgt, mit Hinweis auf die schwere Coronakrise dort im Land (mein Bericht hier). Dort waren zuletzt die offiziell gemeldeten Zahlen an Erkrankungen und Todsfällen zurückgegangen. Allerdings gibt es erhebliche Zweifel an den Aussagekraft der Zahlen (siehe z.B. hier); das Ausmaß der Pandemiewelle in Afghanistan ist demnach weit größer.
Das Thema Wiederaufnahme von Abschiebungen war schon im Umfeld der jüngsten Innenministerkonferenz im Juni in Erfurt lanciert worden. Was dort dazu genau besprochen und/oder beschlossen wurde, ist nicht öffentlich (siehe dazu auch am Beginn dieses Beitrags).
Es muss nun damit gerechnet werden, dass der nächste Abschiebeversuch im September gestartet werden wird.
Neuer Asyllagebericht "über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan“
Auch der neue Asyllagebericht für Afghanistan des Auswärtigen Amtes (Stand Juni 2020, vom 16.7.2020) beschreibt die dortige Situation wieder nicht hinreichend detailliert und akkurat, damit die Adressaten des Berichts – Gerichte und Ausländerbehörden – eine realistische Einschätzung der Gefahren für abzuschiebende abgelehnte Asylbewerber:innen vornehmen können. .... ausführlich weiterlesen
..... noch ein langes Zitat:
Ein 2020er Hammer ... "Kapitel 3 („Ausweichmöglichkeiten“ [für Verfolgte, Abgeschobene und Rückkehrer]) wird folgender Satz hinzugefügt:
Die größeren Städte kommen als Ausweichorte grundsätzlich in Betracht.
Hier bei handelt es sich um die oft postulierte sog. Binnenfluchtalternative, auf deren Grundlage Geflüchteten gesagt wird, wenn sie in ihrer bisherigen Wohnregion verfolgt oder bedroht würden, könnten sie sich in den angeblich anonymen Großstädten bei Familien- oder „Stammes“angehörigen verbergen und trotzdem ihren Lebensunterhalt bestreiten. Das ist nicht nur in Deutschland, sondern auch Österreich oft die Begründung, wenn Asylanträge abgelehnt werden (hier ein Bericht von 2018 dazu).
Erst dann folgt wie 2019 eine gewisse Einschränkung, nämlich dass die „Ausweichmöglichkeiten für diskriminierte, bedrohte oder verfolgte Personen allerdings maßgeblich vom Grad ihrer sozialen Verwurzelung, ihrer Ethnie und ihrer finanziellen Lage ab[hängen]“ und dass die „sozialen Netzwerke vor Ort und deren Auffangmöglichkeiten… eine zentrale Rolle für den Aufbau einer Existenz und die Sicherheit am neuen Aufenthaltsort“ spielen. „Für eine Unterstützung seitens der Familie“ komme es oft „auch darauf an, welche politische und religiöse Überzeugung den jeweiligen Heimatort dominiert.“
Eine Stelle, die wohl geschwärzt werden wird, verweist auf den Fall zweier bedrohter afghanischer „Bürgerrechtler“, die mit Hilfe anderer in ein mittelasiatisches Nachbarland „ausweichen“ konnten. Hier wird offenbar an einer regionalen „Fluchtalternative“ gefeilt.
Damit setzt das Auswärtige Amt an einer entscheidenden Stelle das selbst gesetzte Prinzip außer Kraft, dass man sich aller „Wertungen und rechtliche Schlussfolgerungen aus der tatsächlichen [sic – ein Freudscher Gegensatz-Lapsus zur berichteten?] Lage“ enthalten wolle und diese die „zuständigen Behörden und Gerichte selbst vorzunehmen“ hätten. Zudem widerspricht dieser neue Akzent in dem Bericht, von der Nichterwähnung 2019 zur Erwähnung 2020 (was eine Lageverbesserung suggeriert), den Tatsachen in Afghanistan aber eklatant widerspricht, wo die ohnehin rückläufige Wirtschaftsentwicklung sowie die ökonomische Belastungen der Stadtbevölkerung noch einmal durch die Coronakrise verschärft werden.
Die Weltbank sprach Mitte Juli davon, dass die Coronakrise das ohnehin nur noch nominelle Wirtschaftswachstum (2019: 2,9%) „auslösche“, und prognostizierte einen Wirtschaftsrückgang von 5.5-7,4% für das laufende Jahr. Die Zahl der Menschen unter der nationalen Armutsgrenze werde von 54,5% (2018) auf „über 70 Prozent“ stiegen.
Der Landeschef der UN-Migrationsorganisation IOM Stuart Simpson schrieb am 12. August 2020:
Nach vier Dekaden im Epizentrum von Konflikt und Naturkatastrophen befindet sich Afghanistan heute am Rand einer Katastrophe der öffentlichen Gesundheit und sieht sich einem Zusammenbruch der Wirtschaft, deren am meisten Marginalisierte schwer von Auslandsfinanzierung abhängig sind, zu einer Zeit, in der die traditionellen Geberländer zunehmend auf heimische Anstrengungen zur wirtschaftlichen Wiederbelebung konzentriert sind, sowie dem Gespenst [einer Wiedererlangung der Macht] der erstarkenden Taleban gegenüber. […] Allein im März kehrten über 160.000 undokumentierte Migranten aus den Städten Irans nach Afghanistan zurück.
Diese Zahl stieg bis Juli 2020 auf insgesamt 400.000. Dazu kamen 100.000 neue Binnenvertriebene.
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