14.02.2024 Die Gruppe "Deportation Alarm", eine Arbeitsgruppe vom No Border Assembly, veröffentlichte am Montag die für 2023 dokumentierten Zahlen. Die Gruppe stellt einen »drastischen Anstieg von Sammelabschiebungen« fest.
Im vergangenen Jahr habe man 220 sogenannte Charterabschiebungen gezählt. Dabei mietet die Polizei jeweils ein ganzes Flugzeug für Abschiebungen. In der Regel handelt es sich hierbei um Massenabschiebungen; so wurden mit einem Flug im letzten Jahr 119 Menschen abgeschoben. In anderen Fällen werden Flugzeuge aber auch angemietet, um wenige Menschen außer Landes zu schaffen. »Deportation Alarm« geht von mehr als 50 000 Euro Kosten pro Flug aus.
Für 2024 befürchtet »No Border Assembly« einen weiteren Anstieg der Zahl von Abschiebungen. Das »Rückführungsverbesserungsgesetz« mache dies möglich.
Wir zitieren einen Bericht des nd vom 13.02.2024 sowie die Schilderung von Fluchtursache und -geschichte eines Mannes aus Marokko und die Motive seiner spanischen Unterstützer*innen:
2023 mehr Sammelabschiebungen
Polizei mietet immer öfter ganze Flugzeuge für Abschiebungen an
Seit mehreren Jahren dokumentiert die antirassistische Gruppe »No Border Assembly« Abschiebungen aus Deutschland. Ihre Arbeitsgruppe »Deportation Alarm« veröffentlicht anstehende Termine von Sammelabschiebungen und recherchiert, wann und mit welcher Personenzahl die Abschiebungen tatsächlich stattgefunden haben. Das Projekt ist entstanden, nachdem sich die Bundesregierung 2020 geweigert hat, der Öffentlichkeit mitzuteilen, mit welchen Fluggesellschaften Abschiebeflüge durchgeführt werden.
Begründet hat die Bundesregierung die Informationszurückhaltung mit der Gefahr, »dass diese Unternehmen öffentlicher Kritik ausgesetzt werden und in der Folge für die Beförderung von ausreisepflichtigen Personen in die Heimatländer nicht mehr zur Verfügung stehen. Damit werden Rückführungen weiter erschwert oder sogar unmöglich gemacht, so dass staatliche Interessen an der Ausführung des Aufenthaltsgesetzes negativ beeinträchtigt werden.«
Nun dokumentiert also »Deportation Alarm« die Abschiebungen, und die Gruppe macht das offenbar ziemlich akkurat. »Deportation Alarm« identifiziert Abschiebeflüge mithilfe öffentlich verfügbarer Daten und eines Algorithmus zur Mustererkennung. 2021 hat das in 99,03 Prozent der dokumentierten Fälle geklappt, wie ein Abgleich mit den Daten aus Kleinen Anfragen im Bundestag ergab.
Am Montag hat »Deportation Alarm« seine Zahlen für 2023 veröffentlicht. Die Gruppe stellt einen »drastischen Anstieg von Sammelabschiebungen« fest. Im vergangenen Jahr habe man 220 sogenannte Charterabschiebungen gezählt. Dabei mietet die Polizei jeweils ein ganzes Flugzeug für Abschiebungen. In der Regel handelt es sich hierbei um Massenabschiebungen; so wurden mit einem Flug im letzten Jahr 119 Menschen abgeschoben. In anderen Fällen werden Flugzeuge aber auch angemietet, um wenige Menschen außer Landes zu schaffen. »Deportation Alarm« geht von mehr als 50 000 Euro Kosten pro Flug aus.
Die antirassistische Gruppe kritisiert auch die Umstände der Abschiebungen. Jedem Flug gingen, »nächtliche Polizeirazzien in ganz Deutschland« voraus. Meist mitten in der Nacht würden Wohnungstüren aufgebrochen und Menschen gewaltsam zum Flughafen gebracht. Dort werden sie dann in Flugzeuge verfrachtet und noch am selben Tag abgeschoben. »Deportation Alarm« kritisiert: »Abschiebungen und die vorausgehenden Polizeirazzien sind eine grausame und unmenschliche Praxis, die sofort gestoppt werden muss!«
Die Gruppe erklärt, dass jede einzelne Abschiebung an sich schon grausam sei, Betroffene allerdings noch von zusätzlichen Verletzungen ihrer Menschenrechte und ihrer Würde berichteten. Polizeibeamte setzten körperliche Gewalt ein, Zimmer anderer Bewohner*innen von Massenunterkünften würden illegal betreten, es bliebe kaum Zeit zum Packen, außerdem würden die Betroffenen von Freund*innen und Familie getrennt.
Für 2024 befürchtet »No Border Assembly« einen weiteren Anstieg der Zahl von Abschiebungen. Das »Rückführungsverbesserungsgesetz« mache dies möglich. Mit mehr Abschiebungen gingen auch mehr »Verletzungen der Menschenrechte und der Würde der Betroffenen« einher, so die Sorge der Gruppe. Sie fordert stattdessen, rassistische Gesetze abzuschaffen und reelle Chancen für Menschen, ihren Aufenthalt zu legalisieren. Gegen die »unmenschliche und rassistische Abschiebepraxis« solle man aufstehen und aktiv werden.
»Nach Europa kommst du nur übers Meer«
Viele Migranten aus Afrika sind von ihrer dramatischen und lebensgefährlichen Flucht traumatisiert
»Du musst dein Herz zurücklassen«, sagt der junge Marokkaner Driss. In seiner Heimatstadt Marrakesch war er Grundschullehrer. Doch der Lohn reichte nicht aus, um seiner Familie zu helfen, ihre Armut zu überwinden. Deshalb beschloss er, Marokko zu verlassen. Zuerst fuhr er ein paar Mal mit einem Freund an die Küste des Mittelmeers, um das Schwimmen durch die Wellen zu üben. Dann machten sich die Beiden auf den Weg, ohne ihren Müttern von dem gefährlichen Plan zu erzählen. »Du musst genau wissen, was du tust«, sagt Driss. »Du darfst nicht auf dein Herz hören oder an deine Mutter denken, die zu Hause auf dich wartet. Du musst alle Gedanken darauf richten, dass du bald in Spanien sein wirst und ein neues Leben in Europa beginnst. Du konzentrierst dich auf das Ziel, das Leben deiner Familie zu verbessern. Sie braucht deine Hilfe. Wenn du fokussiert bleibst, verschwindet die Angst.«
Manuel Vicente, Leiter der Stiftung Sevilla Acoge, bezeichnet das Mittelmeer als Massengrab. »Niemand kann sagen, wie viele Leichen auf dem Meeresgrund liegen. Die Rede ist von über 30 000 Migranten, die während der vergangenen zehn Jahre bei der Überfahrt verschwunden sind.«
Die Büroräume der Stiftung Sevilla Acoge liegen zwischen einigen Pfeilern der Puente del Cristo de la Expiración. Die Brücke führt ins Zentrum der andalusischen Hauptstadt. Manuel Vicente kennt viele afrikanische Männer, die seit ihrer Jugend mit dem Gedanken gespielt haben, nach Europa zu kommen. »Sie glauben an den Mythos eines europäischen Paradieses und wollen den Kontinent der besseren Lebenschancen erreichen.«
Menschenrechte sind ein Privileg der Weißen, der Europäer, der Nordamerikaner.
Am 1. November 1988 wurde auf einem Strand von Tarifa, dem südlichsten Ort des europäischen Festlands, die Leiche eines jungen Marokkaners gefunden. Heute gilt dieser Mann als das erste dokumentierte Todesopfer der Migration über das Meer zwischen Afrika und Spanien. Seither wurden ungezählt viele leblose Körper angespült. Es gibt keine offiziellen Angaben über die Zahl der Toten. Das wundert Manuel Vicente nicht: »Menschenrechte sind ein Privileg der Weißen, der Europäer, der Nordamerikaner. Für sie gibt es Menschenrechtsorganisationen, Verfassungen von Staaten, anerkannte Rechte. Aber in vielen Ländern des Südens haben Menschenrechte überhaupt keinen Wert. Dort werden deine Rechte nur dann anerkannt, wenn du dafür zahlst.«
Die spanische Regierung unter Ministerpräsident Pedro Sánchez hatte im zweiten Halbjahr 2023 die Ratspräsidentschaft der EU inne. Der sozialistische Wirtschaftswissenschaftler hat die sechs Monate dazu genutzt, die Beziehungen Europas zu den Herkunftsländern afrikanischer Flüchtender zu verbessern und Programme zur Bekämpfung von Fluchtursachen zu stärken. Eine aktive Wirtschafts- und Entwicklungspolitik soll dazu beitragen, dass weniger Menschen nach Europa aufbrechen. Vor allem die nord- und westafrikanischen Länder sollen Hilfen bekommen, sodass sie vor Ort Bedingungen schaffen können, die es ihren migrierten Landsleuten ermöglichen zurückzukehren.
Die Vereinigung Cardjín in der alten spanischen Hafenstadt Cádiz verfolgt andere Ziele. Ihr Direktor Juan Carlos Carbajal unterstützt Migranten in der ersten Zeit nach ihrer Ankunft. Der kräftige Mann mit angegrautem Bart ist empört über die Haltung der EU gegenüber den nordafrikanischen Mittelmeerstaaten: »Wir schaffen immer größere Barrieren und bezahlen andere dafür, dass sie auf dem Meer Wache schieben. Ethisch betrachtet ist das besonders schmutzig. Europa will ein Hort der Menschenrechte sein, aber in Wahrheit stiften wir andere Länder dazu an, die Menschenrechte zu verletzen.«
Als Spanier kann Juan Carlos Carbajal an den Anlegestegen der Häfen Algeciras oder Tarifa ohne Probleme an Bord einer Fähre steigen und für 30 oder 35 Euro nach Marokko übersetzen. »Umgekehrt ist das nicht möglich«, klagt er. »Ein Marokkaner ohne Visum oder ein Flüchtling aus der Subsahara muss über 1000 Euro zahlen, um in ein einfaches Boot zu steigen, auf dem er sein Leben riskiert. Diese Menschen sind auf mafiöse Schlepperbanden angewiesen, die es sich zunutze machen, dass zwar Handelsgüter aus Afrika ohne Probleme und legal nach Europa eingeführt werden können, Personen aber nicht.«
Der junge Marokkaner Driss hat die Entscheidung getroffen, an der Atlantikküste Marokkos in See zu stechen. Dort kontrolliert das marokkanische Militär viel weniger streng. Am Tag der Abfahrt wusste der durchtrainierte Mann, dass er sein Leben aufs Spiel setzt. In den Jahren zuvor hatten mehrere seiner Freunde und auch Familienangehörige versucht, Europa zu erreichen. Einige sind verschwunden und nie wieder aufgetaucht. »Das ist völlig normal für uns«, wiegelt Driss ab. »Wenn ich mich heute auf den Weg machen würde und dann hörte, dass es Tote auf dem Meer gegeben hat, würde ich mir deshalb keine Gedanken machen. Die Reise muss weitergehen. Solche Nachrichten ändern nichts an meiner Entscheidung. Auf dem Meer gibt es nur zwei Möglichkeiten – du schaffst es oder du musst dich vom Leben verabschieden: Adiós.«