Der Fall Farmakonisi - Beispiel für jahrelangen Kampf um Gerechtigkeit

30.10.2022 »Wir bleiben an der Seite der Betroffenen bis zum Schluss. Der Einzelfall zählt – das ist unsere DNA. Es bedeutet, dass wir in dem Moment, in dem wir einsteigen, den Betroffenen von A bis Z beistehen.« Dies erklärt Karl Kopp von Pro Asyl am Ende der Darstellung des jahrelangen Kampfes im Falle der Überlebenden von Farmakonisi. Wir zitieren:

Die Nacht von Farmakonisi: »Wir bleiben an der Seite der Betroffenen – das ist unsere DNA«

28.10.2022 Im Januar 2014 sterben elf Menschen im Schlepptau der griechischen Küstenwache vor der Insel Farmakonisi. Die Überlebenden klagen an, doch wenig passiert. Erst 2022 verurteilt der Menschenrechtsgerichtshof Griechenland in allen zentralen Punkten. Der Fall zeigt, wie PRO ASYL mit seinen Partner*innen jahrelang um Gerechtigkeit kämpft.

In der stürmischen Nacht des 20. Januar 2014 trifft die griechische Küstenwache in der östlichen Ägäis auf einen Kutter mit Flüchtlingen aus Syrien und Afghanistan. Die Küstenwache nimmt das Boot in Schlepptau und zieht es mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Türkei. Der Ankerpunkt am Bug des Bootes bricht heraus. Ein Beamter der Küstenwache klettert auf den Kutter und befestigt das Seil erneut. Bei diesem zweiten Abschleppversuch wird das Boot so stark beschädigt, dass es sinkt. Drei Frauen und acht Kinder sterben, 16 Menschen überleben. Sie werden an griechische Soldat*innen auf der Insel Farmakonisi übergeben, die sie dazu nötigen, sich in Eiseskälte vor vielen Menschen nackt auszuziehen.

NEWS (06/22)

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Späte Gerechtigkeit für die Überlebenden von Farmakonisi

Das Urteil des EGMR

Die griechische Justiz geht in der Folge nicht gegen die Küstenwache vor, sondern verurteilt einen der Überlebenden als angeblich schuldigen Kapitän des Flüchtlingsboots. Im Januar 2015 reichen die Überlebenden des Unglücks mithilfe von PRO ASYL Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein, der Griechenland im Juli 2022 verurteilt.

PRO ASYL war zum Zeitpunkt des tragischen Vorfalls bereits seit sieben Jahren in Griechenland aktiv. Karl Kopp, Leiter der Europa-Abteilung von PRO ASYL, erinnert sich: »Wir hatten erst wenige Wochen zuvor in Brüssel den Bericht »Pushed back« über systematische völkerrechtswidrige Zurückweisungen in der Ägäis und an der griechisch- türkischen Landgrenze vorgelegt.

»…dann kam der Moment, der unsere Berichte auf dramatische Weise bestätigte«  Karl Kopp, PRO ASYL

Wir haben darin beschrieben, wie maskierte Einheiten der Küstenwache Bootsflüchtlinge aufgreifen, misshandeln, gar foltern, und sie auf lebensgefährliche Art und Weise zurückschaffen. Wir hatten damals schon den Eindruck, dass hier etwas völlig außer Kontrolle gerät.« Und dann kam der Moment, der all das auf dramatische Weise bestätigte.

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Der Fall Farmakonisi

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Die Nacht von Farmakonisi

Es gab auch vorher zahlreiche Todesfälle in der Ägäis, mit und ohne Pushbacks. Aber dieses Mal handelte es sich um ein Boot, das unmittelbar vor dem Untergang unstrittig unter der Kontrolle der griechischen Küstenwache war. Karl Kopp ordnet ein: »Viele der Opfer im Mittelmeer werden einfach weggeschwemmt, ohne Gesicht, ohne jemanden, der ihnen eine Stimme leiht. Das war bei Farmakonisi anders. Hier gab es Überlebende, die erzählen, was passiert ist. Betroffene, die anklagen, für sich und für ihre ertrunkenen Frauen und Kinder.«

Unmittelbar nachdem die Überlebenden des fatalen Einsatzes am 23. Januar in Piräus ankamen, wurden sie vom UNHCR und einer Reihe griechischer Organisationen unterstützt. Am 25. Januar veranstalteten die Überlebenden mit Hilfe des Vereins The Greek Forum of Refugees eine Pressekonferenz, auf der sie unmissverständlich deutlich machten: Das war keine misslungene Rettungsaktion. Das war ein versuchter Pushback, bei dem unsere Liebsten umgekommen sind.

 

»Aus den Berichten ergab sich für uns der Auftrag, alles zu tun, um den Vorfall aufzuklären und den Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen«, erläutert Karl Kopp rückblickend die Motivation von PRO ASYL. Die Rechtsanwältin Marianna Tzeferakou, eine langjährige Kooperationspartnerin von PRO ASYL, übernahm gemeinsam mit Maria Papamina (Griechischer Flüchtlingsrat) und anderen Anwält*innen das Mandat für die Überlebenden.

Mit anwaltlicher Hilfe sowie den Gutachten unterstützte PRO ASYL die juristische Aufarbeitung der Katastrophe.

Zunächst galt es, zu erreichen, dass alle Ertrunkenen geborgen werden. Es war den Hinterbliebenen ein großes Anliegen, ihre Angehörigen würdig bestattet zu können. Die Leichname einer Frau und ihres Sohnes wurden am nächsten Tag an der türkischen Küste gefunden, kurze Zeit später auch der Körper eines Babys am Strand von Samos/Griechenland. Die weiteren acht Toten befanden sich eingekeilt im Schiffsrumpf auf dem Meeresgrund. Die Überlebenden und die, unter anderem auch in Deutschland lebenden, Angehörigen forderten die Bergung des gesunkenen Bootes und ihrer Toten. Erst Wochen später – nach massivem öffentlichen Druck auf die griechische Regierung – wurden die acht Leichen im Schiff geborgen.

PRO ASYL übernahm einen gewichtigen Kostenanteil rund um die Aufklärung des Farmakonisi-Falls, stellte z.B. den Überlebenden über Monate hinweg Dolmetschende ihres Vertrauens zur Seite, leistete unmittelbare humanitäre Hilfe und finanzierte Gutachten zu dem Schiffsunglück. Mit anwaltlicher Hilfe sowie den Gutachten unterstützte PRO ASYL die juristische Aufarbeitung der Katastrophe.

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Wenn Opfer zu Tätern gemacht werden

Das in der Folge eingeleitete Strafverfahren der griechischen Behörden wies erhebliche Mängel auf. Es existierten keinerlei technische Aufzeichnungen und Dokumentationen von dem tödlichen Einsatz, es gab staatlicherseits Dolmetscherprobleme, die zu Falschdokumentationen führten. Der zuständige Staatsanwalt stellte das Verfahren bereits im Juni 2014 mit der lapidaren Begründung ein, dass Pushbacks als Praxis nicht existieren würden. Es sei daher »unnötig und überflüssig«, die Behauptungen der Überlebenden zu berücksichtigen, da ihre Version der Ereignisse auf dieser Annahme beruhen würde

NEWS (01/15)

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Ein Jahr nach Farmakonisi

Überlebende reichen Klage gegen Griechenland ein

Der griechische Staat verweigerte also nicht nur die rechtsstaatliche Aufarbeitung dieser tödlich verlaufenden Operation, sondern machte Opfer zu vermeintlichen Tätern: Unmittelbar nach Anlandung der Überlebenden wurde ein damals 21-jähriger syrischer Flüchtling festgenommen, der sechzehnte Überlebende. Er solle das Boot gelenkt und für den Tod der Menschen verantwortlich sein. Er selbst beteuerte seine Unschuld und auch die anderen Überlebenden versicherten: Er ist ein Flüchtling wie wir, es gab überhaupt keinen Schlepper an Bord. Trotzdem wurde er als angeblicher Kapitän des Bootes für den Tod der elf Menschen zu einer Haftstrafe von über 120 Jahren sowie zu einer Geldstrafe von 570.050 Euro verurteilt. Obendrauf kam eine Haftstrafe von 25 Jahren für den angeblichen illegalen Transport.

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Last Exit: Straßburg 

Der Skandal hätte an dieser Stelle enden können – ohne Konsequenzen, ohne Entschädigungszahlungen an die Überlebenden und ohne Verurteilung der Verantwortlichen. Aber die Überlebenden ließen nicht locker und legten ein Jahr nach dem Vorfall, im Januar 2015, Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Unterstützt wurden sie dabei vom einem Anwält*innenteam.

Der EGMR urteilte mehr als sieben Jahre später im Juli 2022 einstimmig: Das Recht auf Leben wurde verletzt. Griechenland ist verantwortlich für den elffachen Tod. Die Überlebenden wurden unmenschlich und erniedrigend behandelt.

Der EGMR urteilte mehr als sieben Jahre später im Juli 2022 einstimmig: Das Recht auf Leben wurde verletzt. Griechenland ist verantwortlich für den elffachen Tod. Die Überlebenden wurden unmenschlich und erniedrigend behandelt. Es fand keine rechtsstaatliche Untersuchung des tödlichen Vorgangs auf See in Griechenland statt, vielmehr wurde vertuscht. Zudem verurteilte der Gerichtshof Griechenland zu einer Entschädigungszahlung an die Überlebenden von insgesamt 330.000 Euro.

NEWS (08/2014)

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Farmakonisi

Wie der Tod von elf Bootsflüchtlingen vertuscht wird

Auch den als angeblichen Schlepper verurteilten 16. Überlebenden unterstützte PRO ASYL dabei, gegen das drakonische Urteil in Berufung zu gehen. Im Juni 2017 wurde er vom Gericht in Rhodos von der Verantwortung für den Tod der elf Menschen freigesprochen, denn – so das Gericht – niemand an Bord des Bootes hätte den tödlichen Ausgang verhindern können. Zudem wurde seine Strafe wegen des angeblich »illegalen Transports« reduziert. Kurze Zeit später kam er nach über drei Jahren in Haft frei.

Neben der rechtlichen Aufarbeitung des Vorfalls setzte sich PRO ASYL schließlich auch für legale Wege der Überlebenden zu ihren Verwandten in andere europäische Länder ein. In Bezug auf die Überlebenden mit Verbindungen nach Deutschland ist das nach monatelangen Verhandlungen gelungen, sodass sie im November 2014 mit humanitären Visa einreisen konnten. Für das in Deutschland eingeleitete Asylverfahren finanzierte PRO ASYL einen Asylanwalt, der sie erfolgreich dabei unterstützte, einen Schutzstatus zu erhalten.

PRO ASYL: Der Einzelfall zählt! Und was daraus folgt!

Karl Kopp generell zum Einsatz PRO ASYL – auch im Fall Farmakonisi: »Wir bleiben an der Seite der Betroffenen bis zum Schluss. Der Einzelfall zählt – das ist unsere DNA. Es bedeutet, dass wir in dem Moment, in dem wir einsteigen, den Betroffenen von A bis Z beistehen.«

Gemeinsam mit den Überlebenden will PRO ASYL dafür sorgen, dass das Urteil nun auch ordentlich umgesetzt wird. PRO ASYL wird gemeinsam mit den griechischen Kolleg*innen die Entwicklung für den Europarat dokumentieren und plant zudem mit den Überlebenden Zivilklagen einzureichen.

Gemeinsam mit den Überlebenden will PRO ASYL dafür sorgen, dass das Urteil nun auch ordentlich umgesetzt wird.

Karl Kopp: »Wir gehen den Weg weiter. Die rechtliche Auseinandersetzung ist noch nicht zu Ende, und die politische fängt jetzt erst richtig an. Die Straffreiheit an den europäischen Außengrenzen, die Gewalt, die Normalität von Völkerrechtsbrüchen, all das wollen wir angreifen. Es darf nicht sein, dass Menschen schwerste Straftaten begehen und trotzdem weiter ihren Job machen. Nur wenn Europa das beendet, haben wir überhaupt die Chance, Politik im Einklang mit dem Völkerrecht, der Menschenwürde, den Menschenrechte und den europäischen Werten zu betreiben.«

PRO ASYL fordert schon lange, dass der tödlichen Grenzpolitik Griechenlands und anderer Länder an der EU-Außengrenze Einhalt geboten wird. Ein verlässlicher Überwachungsmechanismus an den EU-Außengrenzen muss installiert werden, durch den Menschenrechtsverletzungen sofort erkannt, zeitnah aufgearbeitet und strafrechtlich verfolgt werden. Solange schwere Straftaten ungesühnt bleiben oder Urteile wie im Farmakonisi-Fall erst jahrelang gegen große Widerstände erkämpft werden müssen, entsteht keine Abschreckungswirkung für solche gewaltvollen Praktiken. In einer von der Stiftung PRO ASYL mitfinanzierten Studie wurden der EU- Kommission und dem EU-Parlament im Mai 2022 bereits Vorschläge zur Einrichtung eines solchen unabhängigen Menschenrechtsmechanismus‘ an den EU-Außengrenzen unterbreitet.

(fw / kk)