Deutsche Welle-Faktencheck: Führt Seenotrettung zu mehr Flüchtlingen und Migranten?

05.06.2021 Eine ausführliche Sichtung und Bewertung verschiedener internationaler Studien legte die Deutsche Welle ihrem Beitrag Faktencheck: Führt Seenotrettung zu mehr Flüchtlingen und Migranten? zu Grunde.

Ergebnis und Schlussfolgerungen: "...Push-Faktoren viel wichtiger für Migranten und Flüchtlinge . - etwa Krieg, politische Verfolgung und extreme Armut [als Pull-Faktoren]  ... Zusammengefasst lässt sich ein direkter Effekt von Seenotrettung auf den Zustrom von Migranten und Flüchtlingen nach Europa nicht nachweisen. Die meisten Studien legen nahe, dass Rettungsaktivitäten die Zahl der Abfahrten von der nordafrikanischen Küste nicht erhöhen. Im Vergleich zu anderen Faktoren scheint Seenotrettung nur eine geringe Rolle zu spielen. Klar widerlegt werden kann die Behauptung, Seenotrettung wirke wie ein Pull-Faktor, allerdings auch nicht.... Das starke Zurückfahren staatlicher Seenotrettung und die Behinderung ziviler Seenotrettung basieren auf fragwürdigen Annahmen, die nicht belegt sind..."

 

Wir zitieren den gesamten Beitrag:

EU-Abschottungspolitik

Faktencheck: Führt Seenotrettung zu mehr Flüchtlingen und Migranten?

Seit Jahren steht die Behauptung im Raum, Seenotrettung sei ein "Pull-Faktor" für Migranten und Flüchtlinge und schaffe einen Anreiz, den Weg nach Europa zu wagen. Aber stimmt das?

Mitarbeiter der Hilfsorganisation Sea-Watch retten Menschen von einem Gummiboot in internationalen Gewässern

Worum geht es in der Debatte?

Es geht um das Argument, dass mehr Menschen die gefährliche Überfahrt etwa von Libyen oder Marokko nach Europa wagen, wenn sie annehmen können, von ihren - oft nicht seetüchtigen - Booten gerettet zu werden. 

Vor allem konservative Politikerinnen und Politiker sehen in der Seenotrettung einen Flucht- und Migrationsanreiz - und kritisieren in diesem Kontext zivile Seenotretter wie Sea-Watch oder Sea-Eye, die immer noch jedes Jahr Zehntausende Menschen auf dem Mittelmeer retten. Das geht teilweise bis zu Vorwürfen konkreter Absprachen mit Schleusern und somit der Unterstützung des Menschenhandels - eine Anschuldigung, die die NGOs zurückweisen.

Mittlerweile retten vor allem NGOs wie Sea-Eye schiffsbrüchige Migranten und Flüchtlinge

EU-Schiffe patrouillieren indessen nicht mehr entlang der Migrationsrouten und retten kaum noch Menschen - spätestens seit die Marinemission "Sophia" im Frühjahr 2020 endete. Die staatliche Seenotrettung wurde unter anderem genau deshalb so stark eingeschränkt: weil Länder wie Italien oder etwa Österreich befürchteten, deren Aussendung führe zu einem vermehrten Zustrom von Flüchtlingen und Migranten. 

Sogenannte Push- und Pull-Faktoren spielen in der EU-Politik eine wichtige Rolle, wenn darüber diskutiert wird, wie Flucht und Migration begrenzt und gesteuert werden können.

Während mit Push-Faktoren Umstände gemeint sind, die Menschen aus ihren Herkunftsländern "wegdrücken" (engl.: to push), etwa Krieg oder Umweltkatastrophen, beschreiben Pull-Faktoren alles, was Menschen "anzieht" (eng.: to pull) beziehungsweise Anreize für sie schafft, um nach Europa zu kommen. Das können etwa politische Stabilität und Wohlstand sein, aber auch liberale Einwanderungsgesetze oder - angeblich - Seenotrettung.

Wie ist der Forschungsstand?

Viel belastbare Forschung gibt es nicht. Laut Julian Wucherpfennig, Professor für internationale Angelegenheiten und Sicherheit an der Hertie School of Governance in Berlin, liegt das zum einen an der schlechten Datenlage, zum anderen an der Komplexität der Fragestellung. "Ursache und Wirkung sind hier schwierig zu trennen", erklärt der Wissenschaftler.

"Das ist so, als würde ich untersuchen, ob die Anzahl von Bademeistern eine Auswirkung auf die Anzahl von Badenden hat." Doch einige Studien gibt es.  

"Blaming the Rescuers" (2017) von Charles Heller und Lorenzo Pezzani von der University of London etwa betrachtet, wann und wo wie viele Menschen bis 2016 über das Mittelmeer flüchteten. Diese Daten stellen die Forscher den Zeiträumen gegenüber, in denen europäische Rettungs- und Grenzschutzmissionen aktiv waren - einen Zusammenhang konnten sie nicht feststellen.

Elias Steinhilper (Scuola Normale Superiore di Pisa) und Rob J. Gruijters (Universität Oxford) kommen in der Studie "A Contested Crisis: Policy Narratives and Empirical Evidence on Border Deaths in the Mediterranean" von 2018 zu dem Schluss, dass "die Abwesenheit von Seenotrettern nicht von Überfahrten abhält".

2015: Gesunkene Zahlen trotz mehr NGOs?

Das Dossier "Sea Rescue NGOs: A Pull Factor of Irregular Immigration?" bezieht sich dezidiert auf zivile Seenotrettung als möglichen Pull-Faktor. Eugenio Cusumano von dem europäischen Universitätsinstitut und Matteo Villa vom italienischen Institut für internationale politikwissenschaftliche Studien haben die Migrationsströme von Libyen nach Italien zwischen 2014 und 2019 analysiert und "keinen Zusammenhang zwischen der Präsenz von NGOs auf See und der Anzahl der Migranten finden können". 

So sei 2015 etwa die Gesamtzahl der Abfahrten aus Libyen im Vergleich zum Vorjahr leicht gesunken, obwohl die Zahl der von NGOs geretteten Migranten stark anstieg. "Die Ergebnisse unserer Analyse stellen die Behauptung in Frage, dass nicht-staatliche Rettungseinsätze ein Pull-Faktor der irregulären Migration über das Mittelmeer seien", heißt es in dem Papier von 2019.

"Unbeabsichtigte Folge" der Seenotrettung

Claudio Deiana (Universität Cagliari), Vikram Maheshri (Universität Houston) und Giovanni Mastrobuoni (Universität Turin) gelangen in der Studie "Migrants at Sea: Unintended Consequences of Search and Rescue Operations" zu einer anderen Erkenntnis. In ihrem ökonomischen Modell ergibt sich die Anzahl der Geflüchteten, die über den Seeweg kommen, indem die Intensität ihres Wunsches, nach Europa zu gelangen, in Beziehung zu den Kosten und der Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Überfahrt gesetzt wird. 

DW zeigt eine Grafik zu Zahlenmaterial des UNHCR, zurückreichend bis 2014:

Flüchtlinge und Migranten: Der Versuch Europa zu erreichen

2021 (bis Ende Mai)  29457  registrierte See- und Landankünfte 762 Todesfälle u. Vermisste (geschätzt)

Die Forscher beschreiben, dass verstärkte Rettungsaktivitäten auf dem Mittelmeer dazu geführt hätten, dass Schmuggler von seetüchtigen Holzbooten auf schlechtere Schlauchboote umstiegen. Insgesamt, so glauben sie, könnte eine "unbeabsichtigte Folge" der Seenotrettung sein, dass durch sie mehr Menschen zu schlechteren Konditionen die Überfahrt nach Europa wagten. 

Insgesamt stehen Deiana, Maheshri und Mastrobuoni mit ihrer Analyse allerdings eher alleine da. Politikwissenschaftler Wucherpfennig erklärt, fast alle anderen wissenschaftlichen Arbeiten gingen seines Wissens davon aus, dass Seenotrettung nicht für mehr Überfahrten sorge.

Was sind weitere wichtige Aspekte?

Es erscheint vielen Forschenden logisch, dass Rettungsaktivitäten eher einen Effekt auf das Verhalten der Schleuser haben, und nicht auf das der Flüchtlinge. Diese schicken dann eventuell, wie bei Deiana, Maheshri und Mastrobuoni beschrieben, schlechtere Boote mit weniger Treibstoff aufs Meer. 

Safa Msehli, Pressesprecherin der Internationalen Organisation für Migration (IOM), hält allerdings auch das für unplausibel: "Die Realität ist, dass es viele andere Variablen gibt, die für die Schmuggler eine Rolle spielen, wie zum Beispiel die Wetterbedingungen und die Überwachung der Küste durch die libysche Küstenwache. Wir haben in den letzten Jahren auch in Zeiträumen, in denen keine Akteure auf See waren, eine Menge Abfahrten aus Libyen gesehen - und entsprechend viele Tote." 

Push-Faktoren wichtiger für Migranten und Flüchtlinge

Forschende wie Eleanor Gordan und Henrik Larsen führen an, es werde kaum berücksichtigt, dass vor allem Push-Faktoren viel wichtiger für Migranten und Flüchtlinge seien - etwa Krieg, politische Verfolgung und extreme Armut.

IOM-Sprecherin Msehli sieht das ähnlich: "Unserer Einschätzung nach sind die Push-Faktoren wichtiger als alles andere. Die Menschen haben in ihren Herkunftsländern oft existenzielle Not erlebt, auf ihrem Weg Ausbeutung, Haft und Folter.

Wirkt Seenotrettung als Anreiz für Migranten und Flüchtlinge?

Zusammengefasst lässt sich ein direkter Effekt von Seenotrettung auf den Zustrom von Migranten und Flüchtlingen nach Europa nicht nachweisen. Die meisten Studien legen nahe, dass Rettungsaktivitäten die Zahl der Abfahrten von der nordafrikanischen Küste nicht erhöhen. Im Vergleich zu anderen Faktoren scheint Seenotrettung nur eine geringe Rolle zu spielen.

Klar widerlegt werden kann die Behauptung, Seenotrettung wirke wie ein Pull-Faktor, allerdings auch nicht. Fast alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit dem Thema auseinandergesetzt haben, erklären, dass mehr Daten und weitere Forschung erforderlich sind.

Was bedeutet das für die EU-Politik?

Das starke Zurückfahren staatlicher Seenotrettung und die Behinderung ziviler Seenotrettung basieren auf fragwürdigen Annahmen, die nicht belegt sind.

Matteo Villa schreibt in einem Gastbeitrag in der "Zeit", Seenotrettung als Pull-Faktor erscheine wohl vielen so einleuchtend, dass sie die Annahme kaum infrage stellten oder Belege dafür erwarteten. Dabei würden die bisherigen Erkenntnisse nahelegen, dass mehr Menschenleben gerettet werden könnten, "ohne zu riskieren, dass sich sehr viel mehr Menschen auf den Weg nach Europa machen. Leider wählt die EU einen anderen Weg."

Selbst wenn man annehmen würde, es wäre so und Seenotrettung würde mehr Menschen ermutigen, die gefährliche Überfahrt nach Europa auf sich zu nehmen - dann könnte das trotzdem nicht das ausschlaggebende Argument sein, Migranten und Flüchtlinge sich selbst zu überlassen. 

So weisen alle hier zitierten Forschenden und alle Gesprächspartner der Deutschen Welle auf die ethische und rechtliche Dimension von Seenotrettung hin.

"Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Menschenrechte sind die Grundprinzipien der EU. Die Verweigerung von Such- und Rettungsmaßnahmen und die Beschneidung des Rechts, Asyl zu beantragen, machen diese Prinzipien und alles, wofür die EU angeblich steht, zur Farce", erklärt etwa Politikwissenschaftlerin Eleanor Gordon auf DW-Anfrage.