Deutschland: Rekordzahl Geflüchteter und überlastete Ausländerbehörden

08.09.2023 Wir zitieren zwei Berichte der Tagesschau vom Tage: Höchststand seit 1950-er Jahren   3,3 Millionen Geflüchtete leben in Deutschland und Überlastete Ausländerbehörden   Bis zu 15 Stunden Warten für einen Termin.

Höchststand seit 1950-er Jahren  3,3 Millionen Geflüchtete leben in Deutschland

Stand: 08.09.2023 10:36 Uhr

Immer mehr Menschen fliehen nach Deutschland. Im Juni lebten mehr als drei Millionen Geflüchtete in der Bundesrepublik. Die Zahl der Ausreispflichtigen ging unterdessen zurück - Ursache ist das neue "Chancen-Aufenthaltsrecht".

Die Zahl der geflüchteten Menschen, die in Deutschland leben, hat einen neuen Höchststand erreicht. Insgesamt 3,26 Millionen Menschen waren Ende Juni im Ausländerzentralregister als Flüchtlinge registriert, 111.000 mehr als ein halbes Jahr zuvor, wie die "Neue Osnabrücker Zeitung" aus einer Regierungsantwort auf eine Linken-Anfrage berichtete. Dabei handelt es sich um Flüchtlinge, Kriegsflüchtlinge, Asylsuchende oder Geduldete.

Nach Angaben der Linken ist das die höchste Zahl seit den 1950er-Jahren. Viele der Menschen leben schon seit Jahren oder Jahrzehnten in Deutschland, wie aus der Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der Linken-Bundestagsabgeordneten Clara Bünger weiter hervorgeht. 

Die Zahl der Flüchtlinge aus der Ukraine stieg demnach nur noch leicht um etwa 29.000 Menschen auf über eine Million. Es seien zwar zahlenmäßig mehr Personen aus dem Land nach Deutschland gekommen, allerdings kehrten auch viele wieder zurück. Hinzu kamen dem Bericht zufolge Asylsuchende sowie wenige Aufnahmen aus humanitären Gründen, etwa aus Afghanistan mit knapp 4.000.

Zahl der Ausreisepflichtigen um acht Prozent gesunken

Das Register listet dem Bericht zufolge mehr als 279.098 Menschen als ausreisepflichtig auf. Erstmals seit zehn Jahren sei somit die Zahl der Ausreisepflichtigen wieder gesunken, und zwar um acht Prozent - auch infolge des neuen "Chancen-Aufenthaltsrechts" der Ampelkoalition. Damit können Langzeitgeduldete, die zum Stichtag 31. Oktober 2022 seit mindestens fünf Jahren in Deutschland leben, einen Antrag auf eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis stellen.

Etwa vier Fünftel der Ausreisepflichtigen haben laut der Regierungsantwort eine Duldung, weil sie nicht abgeschoben werden können, etwa wegen der Lage im Herkunftsland, aus rechtlichen oder humanitären Gründen. Bei vielen Geduldeten ist der Regierungsantwort zufolge keine Abschiebung geplant, etwa wenn eine Ausbildung oder Beschäftigung aufgenommen wurde.

Viertel der Ausreisepflichtigen hat keine Reisedokumente

Bei etwa einem Viertel fehlen den Angaben zufolge die Reisedokumente, aber nur weniger als zehn Prozent der Geduldeten (knapp 21.000 Menschen) werde seitens der Ausländerbehörden unterstellt, dass sie ihre Abschiebung verhindern.

Die Linken-Abgeordnete Bünger sagte der Zeitung: "Bleiberecht statt Abschiebung ist der politisch richtige Weg." Die Zahlen zu den Ausreisepflichtigen zeigten, dass die allermeisten geduldet würden. "Hier immer weitere Gesetzesverschärfungen vorzuschlagen ist unverantwortlich und stärkt am Ende nur die AfD", kritisierte Bünger. 

 

 

Überlastete Ausländerbehörden  Bis zu 15 Stunden Warten für einen Termin 

Stand: 08.09.2023 14:46 Uhr

In ganz Deutschland sind Ausländerbehörden an der Grenze des Leistbaren. Migrantinnen und Migranten müssen um Aufenthaltstitel und Jobverluste fürchten. Bund und Länder finden keine schnellen Lösungen. 

Seit Monaten bildet sich jede Nacht, bis zu 15 Stunden vor der Öffnungszeit, eine Schlange mit Zelten und Campingstühlen vor der Ausländerbehörde in Stuttgart. Erst wenn sich die Tür am Morgen öffnet, wird kommuniziert, wie viele Notfallnummern es an diesem Tag geben wird. Manchmal sind es 15, 20 oder auch 25.

Nach jeder dieser Nächte gehen Menschen ohne Termin wieder nach Hause, schildern mehrere Migrantinnen und Migranten. Um die 150 Euro bekomme man zurzeit von Betroffenen auf die Hand, wenn man für sie die ganze Nacht auf der Straße für ein "Notfallticket" vor der Ausländerbehörde campiert. 

Voraussetzung für ein Notfallticket: Der Aufenthaltstitel läuft innerhalb der nächsten sieben Tage ab und es wurde noch kein Termin zugewiesen. Und auch dann wird, falls noch nicht zuvor per Post, nur eine sogenannte Fiktionsbescheinigung ausgestellt. Diese Bescheinigung verzögert den Prozess, bis ein regulärer Termin gefunden wurde. 

"Als ich kurz vor Öffnung mittags zur Behörde kam, hat mich der Security-Mann ausgelacht und gesagt, dass ich spätestens um 4.00 Uhr morgens hier sein müsste, um eine Chance auf ein Ticket zu haben", erzählt die 31-jährige Brasilianerin Luiza Piton, die seit sieben Jahren in Deutschland lebt.  

Betroffene verlieren Arbeitsstellen

Menschen, die lediglich ihren Arbeitsplatz wechseln möchten, müssen auf einen Termin warten. Das kann aber Monate dauern. Ein Betroffener erzählt, dass er seinen Job nicht antreten konnte, weil die Firma nach drei Monaten nicht mehr auf den Bescheid von der Behörde warten konnte.  

Der Pressesprecher der Stadt Stuttgart sagt dazu: "Ohne lang drumherum zu reden: Die Darstellungen von Betroffenen treffen zu. Leider." Die Ausländerbehörde sei aufgrund der Vielzahl an unbesetzten Stellen seit Monaten nicht mehr in der Lage, allen Anliegen ihrer Kunden zeitnah gerecht zu werden. "Dazu gehören auch die Anliegen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aller Sparten." Man bemühe sich seit Monaten um zusätzliches Personal und eine allgemeine Besserung der Situation. 

Bundesweit drastische Situation

Stuttgart ist ein Extremfall, aber in ganz Deutschland melden die zuständigen Ministerien auf Anfrage von funk massive Überlastung und dadurch verzögerte Bearbeitungen von Anträgen. Die meisten Ministerien haben jedoch keinen detaillierten Überblick über die Situationen an den einzelnen Behörden und verweisen auf die zuständigen Kommunen. Durch diese Zuständigkeit auf Kommunalebene ist die jeweilige Situation, zum Beispiel bezüglich finanzieller Mittel oder Digitalisierung, individuell.  

Neben Personalmangel und der aktuellen Flüchtlingssituation durch den Angriffskrieg auf die Ukraine komme laut den meisten zuständigen Ministerien auch mehr Bürokratie hinzu. Genannt werden Regelungen des Bundes, die zu mehr Komplexität und Aufwand führten.  

Ministerien kritisieren aufwendige Prozesse

Die Behörde von Bremens Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) begrüßt zwar die Migrationspolitik der Bundesregierung, teilt aber auf Anfrage mit: "Die damit verbundenen gesetzlichen Änderungen kommen zur Unzeit." Zum Beispiel durch das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz versuche der Bund "jetzt massiv Personen aus dem Ausland anzuwerben, wo die Ausländerbehörden schon für die vorhandenen Kunden keine Zeit mehr haben". Auch das neue Chancen-Aufenthaltsrecht bringe komplexere Prozesse mit sich.

Ähnliche Kritik kommt aus den von der Union geführten Bundesländern Bayern, Berlin und Hessen. Die zuständigen Ministerien teilen mit, dass die Migrationspolitik und -gesetzgebung des Bundes zu einem erheblichen Mehraufwand bei den Ausländerbehörden führt, und fordern für die Praxis bessere Rahmenbedingungen.  

Eine schnelle Lösung für die überlasteten Ausländerbehörden kann das Bundesinnenministerium nicht versprechen. Aber man wolle die Prozesse vereinfachen und die Gültigkeitsdauer der Aufenthalte verlängern, sagt ein Sprecher des Ministerium. Zudem seien durch die Ende August verabschiedete Verordnung zur Weiterentwicklung der Fachkräfteeinwanderung die Erfordernisse der Ausländerbehörden im Visumverfahren bei der Einwanderung zur Erwerbstätigkeit und Bildung stark minimiert worden.