21.02.2025 Aus den News von Pro Asyl:
Drei Jahre nach Beginn des russischen Angriffskriegs bleibt ungewiss, ob Kriegsdienstverweigerer*innen Schutz in Deutschland erhalten. Während ein Gericht Verfolgung als wahrscheinlich einstuft, sieht ein anderes kein ausreichendes Risiko.
Am 24. Februar 2022 begann der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Über sechs Millionen Ukrainer*innen sind vor dem Krieg geflohen, 3,6 Millionen wurden im eigenen Land vertrieben. Der Krieg führt zu massiver Zerstörung in der Ukraine und hat bereits rund 12.500 Zivilist*innen das Leben gekostet.
Auch hunderttausende Russ*innen sind geflohen, um sich ihrer Einberufung zu entziehen und sich nicht an dem völkerrechtswidrigen Krieg und dem Töten zu beteiligen. Hauptzielländer sind Kasachstan, Georgien, Armenien, die Türkei, aber auch Serbien oder Israel; weniger die Länder des Schengen-Raums, weil sie Visa nur sehr restriktiv vergeben. Auch in Deutschland suchen russische Staatsbürger*innen, die sich nicht am Krieg beteiligen wollen oder desertiert sind, Zuflucht und durchlaufen Asylverfahren. Bereits zur letzten Jährung des Ukraine-Kriegs berichteten PRO ASYL und Connection e.V. über die schwierige Lage von Kriegsdienstverweigerer*innen aus Russland.
Diese Rechtsunsicherheit offenbart gravierende Schutzlücken für jene, die sich nicht an Putins Krieg beteiligen wollen.
Doch auch nach drei Jahren Krieg gibt es keine einheitliche Antwort auf die Frage, ob sie hierzulande einen Schutzstatus erhalten.
NEWS Kaum Schutz für Russinnen und Russen, die sich dem Krieg verweigern
Jüngst haben zwei deutsche Gerichte gegensätzliche Entscheidungen gefällt: Während das Verwaltungsgericht Berlin im August 2023 (VG Berlin (12. Kammer), Urteil vom 11.08.2023 – VG 12 K 48/23 A) die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerer*innen* in Russland als hinreichend wahrscheinlich einschätzte und einem Betroffenen subsidiären Schutz zusprach, verneinte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg im August 2024 (OVG Berlin-Brandenburg (12. Senat), Urteil vom 22.08.2024 – 12 B 18/23) in der nächsten Instanz im selben Verfahren, eine konkrete Bedrohung und lehnte den Asylantrag ab.
Im Januar 2025 (Urteile der 33. Kammer vom 20. Januar 2025 (VG 33 K 504/24 A und VG 33 K 519/24 A) entschied dann das Verwaltungsgericht Berlin noch einmal in zwei Fällen, dass asylsuchenden russischen Militärdienstentzieher *innen subsidiärer Schutz zuerkannt werden muss. Beide liegen nun zur Entscheidung dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg vor.
Diese Rechtsunsicherheit offenbart gravierende Schutzlücken für jene, die sich nicht an Putins Krieg beteiligen wollen.
Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht
Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist ein fundamentales Menschenrecht. Es fußt unter anderem auf Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der die Gewissens- und Religionsfreiheit garantiert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat klargestellt, dass Kriegsdienstverweigerer*innen unter bestimmten Bedingungen Schutz verdienen, insbesondere wenn ihnen Verfolgung oder unverhältnismäßige Strafen drohen.
Grundsätzlich besteht für Kriegsdienstverweigerer*innen in der Regel kein Recht auf Asyl. Dem liegt die Rechtsauffassung zugrunde, dass Staaten ihre Bürger*innen zum Kriegsdienst verpflichten und die Verweigerung mit Strafe belegen dürfen.
Ein Asylgrund besteht jedoch dann, wenn einem*r Kriegsdienstverweigerer*in aufgrund von Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe oder politischen Verfolgung eine unverhältnismäßig hohe Strafe angedroht wird (Büro des Hohen Kommissars für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR) 1979, S. 169). Weiter besteht ein Asylgrund nach Art. 9 II lit. e i.V.m. Art. 12 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie der EU (RL 2011/95/EU), wenn Wehrpflichtige wegen ihrer Verweigerung, sich an völkerrechtswidrigen Handlungen oder Kriegen zu beteiligen, Verfolgung befürchten müssen. Im deutschen Recht umgesetzt ist dies in § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG.
Am 17. Mai 2022 erklärte das Bundesministerium des Inneren und für Heimat (BMI), dass »bei glaubhaft gemachter Desertion eines russischen Asylantragstellenden derzeit in der Regel von drohender Verfolgungshandlung für den Fall der Rückkehr in die Russische Föderation ausgegangen« werde. Jedoch gälte dies nur für Deserteur*innen, also Personen, die nach Einziehung aus dem Militärdienst fliehen. Für Militärdienstentzieher*innen, also Personen, die vor Einziehung fliehen, gilt diese Zusage offenbar nicht, da ihre Schutzwürdigkeit von den Gerichten uneinheitlich entschieden wird.
Widersprüchliche Gerichtsurteile in Deutschland
Die divergierenden Urteile deutscher Gerichte zeigen, dass die Bewertung der Gefahrensituation für russische Militärdienstentzieher*innen keineswegs einheitlich ist.
In einem Fall entschied das Verwaltungsgericht Berlin (VG Berlin (12. Kammer), Urteil vom 11.08.2023 – VG 12 K 48/23 A), dass einem russischen Militärdienstentzieher subsidiärer Schutz zu gewähren ist. Das Gericht argumentierte, dass dem Mann, der gegen die Ablehnung seines Asylantrags geklagt hatte, bei Abschiebung nach Russland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden droht, da er als Grundwehrdienstpflichtiger mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Ukraine-Krieg entsandt werden würde. Es sei nach russischem Recht unzulässig, Grundwehrdienstleistende in Krisen- oder Kriegsgebiete zu entsenden. Allerdings könnten nach einer präsidialen Anordnung vom 16. September 1999, zuletzt geändert am 4. Oktober 2022, Grundwehrdienstleistende bereits nach vier Monaten ins Ausland gesendet werden.
Überdies hält das Gericht fest, dass Grundwehrdienstleistende auch deshalb der Gefahr ausgesetzt sind, in der Ukraine oder in den Separatistengebieten eingesetzt zu werden, da die völkerrechtswidrig annektierten Gebiete aus russischer Sicht nicht als »Ausland« gelten. Daraus folge, dass sie dort unmittelbar eingesetzt werden könnten.
»Der weitere Umstand, dass Wehrpflichtige von Beginn ihrer Wehrdienstzeit an unausgebildet auch zu Kampfeinsätzen im Inland herangezogen werden können (BFA, Länderdokumentation Version 11, a.a.O., S. 35), gewinnt insbesondere unter Beachtung der völkerrechtswidrigen Annexion ukrainischer Gebiete durch die Russische Föderation Bedeutung. Hier können Wehrdienstleistende auch nach russischem Recht sofort eingesetzt werden, da es sich nach russischer (völkerrechtswidriger) Auffassung nicht um ausländische Gebiete handelt.«
Weiter geht das Gericht davon aus, dass es wahrscheinlich ist, dass junge Männer im Grundwehrdienst zur Unterzeichnung von Soldatenverträgen gezwungen werden, um so in der Ukraine flächendeckend eingesetzt zu werden. Sobald sich eine Person als Vertragssoldat verpflichtet hat, ist eine vorzeitige Beendigung dieses Vertrages nach russischem Recht nicht mehr möglich. Hierzu führt das Gericht aus:
»Wehrdienstleistende, die sich mittels Vertrags als Vertragssoldaten verpflichten, werden nicht weiter als Wehrdienstleistende geführt und können rechtmäßig in den Krieg gegen die Ukraine und zu Einsätzen an der Front entsendet werden. Es ist beachtlich wahrscheinlich, dass die Russische Föderation von dieser Möglichkeit auch unter Ausübung von Druck bis hin zur Anwendung von Zwang vermehrt bis systematisch gegenüber Wehrpflichtigen Gebrauch machen wird.«
Seit Ende 2022 gäbe es Berichte, dass Wehrdienstleistende zur Unterschrift unter Druck gesetzt werden oder sogar Dritte die Verträge für die Wehrdienstleistenden unterzeichneten, so das Gericht. Laut dem früheren russischen Verteidigungsminister Sergei Schoigu (bis Mai 2024 im Amt) soll es seit April 2023 üblich sein, dass Grundwehrdienstleistenden gleich zu Beginn ihres Dienstes ein solcher Vertrag angeboten wird. Dieses Vorgehen wurde bereits 2022 durch die European Union Agency of Asylum (EUAA) in seiner Country of Origin Information als teilweise systematisch angesehen.
Demgegenüber lehnte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg in seinem Berufungsurteil (OVG Berlin-Brandenburg (12. Senat), Urteil vom 22.08.2024 – 12 B 18/23) die Anerkennung des subsidiären Schutzes ab: Es bewertete das Risiko eines Schadenseintritts als zu gering und lehnte den Asylantrag des russischen Militärdienstentziehers ab. Hinsichtlich des subsidiären Schutzes erkennt das Gericht zwar an, dass der Kläger wahrscheinlich nicht in der Lage sein wird, den Kriegsdienst zu verweigern. Jedoch argumentiert das Oberverwaltungsgericht, dass Grundwehrdienstleistende nur auf russischem Territorium eingesetzt würden, also nur zur völkerrechtsmäßigen Abwehr, es drohe aktuell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit kein Kampfeinsatz in der Ukraine und damit auch kein ernsthafter Schaden.
Der Kern der Uneinigkeit zwischen den Gerichten liegt in der Risikobewertung. Während das eine Gericht einen Einsatz von Wehrdienstleistenden zur Vollbringung von völkerrechtswidrigen Kampfhandlungen in der Ukraine als hinreichend wahrscheinlich ansieht, sieht das andere noch Spielraum und argumentiert, dass nicht alle Kriegsdienstverweigerer*innen zwingend hiermit rechnen müssen. Insbesondere besteht Uneinigkeit darüber, wie wahrscheinlich es ist, dass Grundwehrdienstleistende in der Ukraine eingesetzt werden.
Diese unterschiedlichen Einschätzungen sind für Betroffene fatal: Ihr Schicksal hängt von der jeweiligen Betrachtungsweise ab.
Diese unterschiedlichen Einschätzungen sind für Betroffene fatal: Ihr Schicksal hängt von der jeweiligen Betrachtungsweise ab. Während sich das Oberverwaltungsgericht hauptsächlich auf die Aussagen und Zusicherungen der russischen Regierung stützt, bezieht das Verwaltungsgericht auch Aussagen von Kriegsdienstverweigerungs-Organisationen mit ein. Bemerkenswerterweise ist das Verwaltungsgericht in zwei weiteren Entscheidungen aus dem Januar 2025 entgegen der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts bei seiner Einschätzung geblieben.
Gerade durch die autokratische Regierungspraxis Putins sind sichere Informationen zu den tatsächlichen Gegebenheiten im Land schwer zu erlangen. Das Bild kann sich nur aus der Zusammenschau der staatlichen russischen Angaben einerseits sowie der Informationen von Menschenrechtsorganisationen andererseits ergeben. Es wäre wichtig, dass dies entsprechend zukünftig von allen Gerichten in Deutschland berücksichtigt wird und es zu einer einheitlicheren Rechtsprechung kommt, die Kriegsdienstverweigerer*innen aus Russland effektiv schützt. PRO ASYL und Connection e.V. werden sich weiterhin hierfür einsetzen.
* Wir gendern in diesem Zusammenhang, um nicht nur deutlich zu machen, dass es auch Frauen gibt, die verweigern (wenn sie z.B. bereits im Militär waren), sondern damit auch aufzugreifen, dass es viele russische Militärdienstpflichtige gibt, die sich als queer verstehen und deshalb nicht zum Militär wollen.
Weiter würden für die genannten Vertragsunterzeichnungen lediglich starke Anreize gesetzt werden. Außerdem drohe dem Wehrdienstleistenden keine Gefahr für sein Leben durch Russland, sondern durch die Ukraine, da diese den Wehrdienstleistenden im Zweifel angreife, weshalb Russland nicht als Verfolger anzusehen sei.