Drohen jetzt wieder Sammelabschiebungen nach Afghanistan?

18.11.2020 Ein Hin-und-Her der Gefühle: Ein Abschiebeflug nach Afghanistan war für vergangenen Montag angekündigt, wurde aber kurzfristig abgesagt. Die Bundesregierung will nach der langen Corona-Pause unbedingt wieder zurück zu ihrer "Normalität der Abschiebungen", doch wie im Frühjahr hatte auch jetzt die afghanische Regierung darum gebeten, den Flug auszusetzen. Engagierte Kreise befürchten aber, dass im Dezember aufs Neue eine Sammelabschiebung drohen könnte. Möglicherweise Betroffene (keineswegs nur "Straftäter"!) leben wieder in Angst und Schrecken.

Warum so viele Afghan:innen beim BAMF keine Anerkennung finden und ein hoher Anteil (54,9 % z. B. im laufenden Jahr) erst durch Verwaltungsgerichte den nötigen Schutz zugesprochen bekommen, dürfte politisch motiviert sein. Davon geht die Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke aus. Sie mahnte am 16.11.2020 auf ihrer Webseite an: Dauerhafter Abschiebestopp für das gefährlichste Land der Welt!

ProAsyl News informierten am 11.11. (Update 17.11.):

"Mitten in der Pandemie: Drohende Wiederaufnahme von Abschiebungen nach Afghanistan

Am kommenden Montag, den 16. November, soll nach dem Willen der Bundesregierung wieder ein Sammelabschiebungsflug nach Kabul starten. Nach achtmonatiger, pandemiebedingter Pause – aber mitten in der zweiten Coronawelle sowohl in Deutschland als auch in Afghanistan und trotz der dortigen desaströsen Sicherheitslage

Von Dezember 2016 – dem Beginn der Sammelabschiebungen – bis März 2020 wurden insgesamt 907 Afghanen in das seit nahezu vier Jahrzehnten von Krieg und Bürgerkrieg zerrüttete Land abgeschoben. Seit der letzten Sammelabschiebung am 11. März 2020 waren in Folge der Corona-Pandemie Abschiebungen auf Bitten der afghanischen Regierung ausgesetzt. Nun droht am 16. November deren Wiederaufnahme.

UPDATE 17.11.2020: Der für den 16.11. geplante Abschiebeflieger wurde letztlich kurz vorher abgesagt, offenbar aufgrund von Bedenken von afghanischer Seite wegen der Corona-Pandemie. In den Tagen zuvor waren schon einige Afghanen in Deutschland in Abschiebehaft genommen worden – es ist also nicht davon auszugehen, dass die deutschen Behörden ihre Abschiebebemühungen einstellen werden, egal wie absurd und gefährlich das Vorgehen in diesen Zeiten ist."

 

Die Abschiebungen nach Afghanistan und die Lage dort waren am 11.11. "Tagesthema" von nd DER TAG.

Politisch motivierte Fehlerquoten Afghanische Flüchtlinge haben es vor dem Bundesamt für Flüchtlinge schwerer, Schutz zu erlangen

sowie

Eine der tödlichsten Regionen weltweit Die Sicherheitslage in Afghanistan ist unverändert katastrophal. Jahrelange Dürre und Rückkehr Hunderttausender Flüchtlinge und mehr Covid-19-Fälle kommen hinzu

Wir zitieren im Folgenden die Zeitungsartikel und die Information von Ulla Jelpke.

Politisch motivierte Fehlerquoten Afghanische Flüchtlinge haben es vor dem Bundesamt für Flüchtlinge schwerer, Schutz zu erlangen

Am Montag explodierte in der afghanischen Hauptstadt Kabul eine Autobombe. Dabei soll es Opfer gegeben haben, hieß es. Auf Fotos sieht man ein gänzlich zerstörtes Fahrzeug. Die Lage in Afghanistan ist unsicher, auch in der Hauptstadt ist man sich seines Lebens nicht sicher. Der angekündigte Truppenabzug der USA verschiebt die Kräfteverhältnisse im Land, was mit zunehmender Brutalität von beiden Seiten - den Taliban wie auch den Regierungstruppen - beantwortet wird.

Dorthin will die Bundesregierung wieder abschieben lassen. Angeblich sind es straffällig gewordene, alleinstehende junge Männer, denen die Bundesregierung bescheinigt, dass sie in ihrer Heimat sichere Regionen finden, in denen sie nicht bedroht seien. Doch Menschenrechtsorganisationen haben immer wieder Beispiele genannt, dass bei Sammelabschiebungen vor der Coronapandemie auch junge Familien getrennt wurden, dass die Abgeschobenen keine Straftäter waren. Eine aktuelle Nachricht vom Montag berichtet von Sardar Dschafari, der im Januar 2019 aus München abgeschoben wurde und nun, nach einem zähen Ringen auch seiner Unterstützer in Deutschland, wieder zurück darf. Der 23-Jährige muss sein Visum dafür in Indien holen, weil ein Bombenanschlag vor drei Jahren nahe der deutschen Botschaft in Kabul mit über 100 Todesopfern die Entscheidung nach sich zog, dass die deutsche Vertretung keine Visa mehr ausstellt. Am Mittwoch bereits will der 23-Jährige den Flug nach Deutschland antreten und die bereits vereinbarte Ausbildung in Neu-Ulm antreten. Er wolle Bäcker werden wie sein Vater, berichteten die Agenturen.

Bereits Thomas de Maizière hatte kein Hehl aus seinem Unmut gemacht, dass immer mehr Menschen aus Afghanistan nach Deutschland kamen. Das war 2015, die Zahl der Migranten stieg sprunghaft, und der damalige Bundesinnenminister nannte es »inakzeptabel«, dass Afghanistan inzwischen hinter Syrien auf Platz zwei der Herkunftsländer stand. Deutschland stelle Soldaten, Polizisten und viel Entwicklungshilfe zur Verfügung - da könne man »erwarten, dass die Afghanen in ihrem Land bleiben«, wurde de Maizière damals zitiert.

Unter Verweis auf angeblich sichere Gebiete in Afghanistan sah sich das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) damals einem wachsenden politischen Druck der Bundesregierung ausgesetzt. Im November 2015 vereinbarten die Vorsitzenden der Regierungsparteien der Großen Koalition: »Wir wollen zur Schaffung und Verbesserung innerstaatlicher Fluchtalternativen beitragen und vor diesem Hintergrund die Entscheidungsgrundlagen des BAMF überarbeiten und anpassen.« Die internen Leitsätze des BAMF wurden verschärft.

Im Oktober 2016 vereinbarte Deutschland mit der afghanischen Regierung, die sich dem anfangs widersetzt hatte, die Rückführung abgelehnter Asylbewerber. Abschiebungen erfolgten danach im Monatstakt. Und die Zahlen stiegen kontinuierlich - von 121 Abgeschobenen im Jahr 2017 auf 284 im Jahr darauf und über 360 im vergangenen Jahr. Im März wurden die Sammelabschiebungen wegen der Coronapandemie auf Bitten der afghanischen Regierung eingestellt. Wann sie wieder aufgenommen werden, ist unklar, aber nur eine Frage der Zeit, nachdem ein für Montag geplanter Charterflug kurzfristig abgesagt wurde.

Noch immer folgen die Entscheidungen des BAMF der politischen Vorgabe, die von Bundesinnenminister de Maizière begründet wurde. Sie beschönigen die Lage in Afghanistan und die Aussichten der Geflüchteten nach ihrer Rückkehr. Gerichte bewerten die Lage anders, wie die Erfolge nahelegen, die afghanische Flüchtlinge haben, wenn sie den Entscheidungen des BAMF widersprechen. Mit 54,9 Prozent ist die Quote bei den Aufhebungen negativer, also ablehnender BAMF-Bescheide für Afghanen im bisherigen Jahr 2020 überdurchschnittlich hoch. Insgesamt, das heißt unabhängig von der Herkunft der Flüchtlinge, lag die Quote erfolgreicher Widersprüche in dieser Zeit bei 29,8 Prozent. Von den 25 700 in den ersten fünf Monaten dieses Jahres nach einer Klage inhaltlich überprüften Bescheiden des BAMF wurden 7646 wieder aufgehoben. Das geht aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine Anfrage der Linken hervor.

Einen politischen Hintergrund für die überdurchschnittlichen Fehlerquoten beim BAMF legt auch die Tatsache nahe, dass ausgerechnet im Anker-Zentrum im bayerischen Manching die Anerkennungsquote für Afghanen mit nur 27,6 Prozent auffallend niedrig ist. Bundesweit liegt sie bei 59,6 Prozent. Bekanntlich hat die bayerische Landesregierung noch unter Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) hier die Modellzentren zentraler Aufnahmelager geschaffen, in denen alles aus einer Hand entschieden werden kann - Erstprüfung, Verfahren und Abschiebung im Falle einer negativen Entscheidung. Von den bundesweit reichlich 800 Abschiebungen nach Afghanistan seit 2016 entfallen knapp 500 auf Bayern. Als die Bundesregierung 2015 daran ging, die Lage in Afghanistan neu zu bewerten, um die Schutzquote afghanischer Flüchtlinge zu senken, lag sie noch bei 86,1 Prozent.

Insgesamt sei die Fehlerquote des BAMF viel zu hoch, findet die innenpolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, Ulla Jelpke. Das Bundesamt müsse zumindest bei Herkunftsländern mit überdurchschnittlicher Fehlerquote alle beklagten Bescheide von sich aus noch einmal überprüfen, statt dies den Gerichten zu überlassen. Die seien schon überlastet und müssten trotzdem oftmals die Arbeit der Behörde übernehmen, weil Anhörungen oder Bescheide den rechtlichen und Qualitätsanforderungen nicht genügten.

 

Eine der tödlichsten Regionen weltweit Die Sicherheitslage in Afghanistan ist unverändert katastrophal. Jahrelange Dürre und Rückkehr Hunderttausender Flüchtlinge und mehr Covid-19-Fälle kommen hinzu

Die Corona-Pandemie kommt in Afghanistan noch zu all den anderen Gefahren für Leben und Gesundheit der Bürger hinzu. Die größte bleiben die immer wieder aufflammenden militärischen Konflikte und die zahlreichen Terroranschläge. Jede Woche sterben dadurch Menschen. Die »kleinen« Vorfälle mit »nur« einzelnen Opfern sind in deutschen Medien nicht einmal eine Randnotiz wert. Die besonders schrecklichen und Dutzende Menschenleben vernichtenden schaffen es immerhin kurzzeitig in die Schlagzeilen.

Auch am Montag explodierte in der Hauptstadt Kabul eine Autobombe, ersten Meldungen zufolge wurden dabei mehrere Menschen verletzt. Der größte Anschlag der letzten Monate ereignete sich am 2. November. Er galt der Universität von Kabul, 35 Menschen starben dabei, die meisten von ihnen waren Studierende. In den westeuropäischen Staaten nahm kaum jemand Notiz davon, denn am selben Tag hatte sich der islamistisch motivierte Amoklauf in Wien ereignet, bei dem vier Menschen getötet und 23 verletzt worden waren.

In Kabul stürmten derweil drei Bewaffnete auf das Hochschulgelände. Es dauerte sechs Stunden, bis die Sicherheitskräfte die Lage unter Kontrolle hatten. Dutzende Menschen wurden verletzt. Studierende im ganzen Land protestierten am Tag nach dem Anschlag gegen die zunehmende Gewalt. Denn erst eine Woche zuvor hatte es ebenfalls in Kabul einen Anschlag auf eine Schule gegeben, bei dem mindestens 30 Menschen getötet und mehr als 70 verletzt worden waren, die meisten von ihnen ebenfalls Jugendliche. Die Terrormiliz »Islamischer Staat« reklamierte beide Bluttaten für sich.

Die Anschläge wurden während der Friedensgespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung in Katar verübt. Seit Beginn der Verhandlungen hat sich die Sicherheitslage in Afghanistan noch einmal zugespitzt. Ende Februar hatten die USA und die Taliban ein Friedensabkommen geschlossen, das den Abzug der USA aus Afghanistan vorsieht. Nach diesen Separatgesprächen hatte Washington angekündigt, bis Ende November die Zahl seiner Soldaten in Afghanistan auf weniger als 5000 zu reduzieren. Zahlreiche Stützpunkte wurden bereits aufgegeben, und wie es scheint, will die noch bis Mitte Januar amtierende Trump-Administration den Truppenabzug noch bis Ende dieses Jahres abschließen.

Am 5. November berichtete die US-Generalinspektion für den Wiederaufbau Afghanistans (Sigar), allein von Juli bis September habe die Zahl der Überfälle und Anschläge auf Sicherheitskräfte und Bevölkerung gegenüber dem Vorquartal um 50 Prozent zugenommen. Bei Anschlägen wurden demnach in den drei Monaten fast 900 Zivilisten getötet, knapp 1700 wurden verletzt. Die Anschläge trafen vor allem Provinzhauptstädte und Sicherheitseinrichtungen. Das Institute for Economics & Peace mit Sitz im australischen Sidney stufte Afghanistan in seinem im Juni vorgelegten Global Peace Index 2020 das zweite Jahr in Folge als das gefährlichste Land der Welt ein. Weltweit sterben demnach dort die meisten Menschen aufgrund bewaffneter Konflikte.

Bei all hat das afghanische Gesundheitswesen mit einem Anstieg der Zahl der Covid-19-Fälle zu kämpfen. Fachleute gehen davon aus, dass auch in dem zentralasiatischen Land eine zweite Welle der Corona-Pandemie begonnen hat. Das berichtete bereits am 2. November auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Die Dunkelziffer der Infektionen und Krankheitsfälle dürfte angesichts der infolge der Anschläge und Gefechte chaotischen Lage und der schlechten Verfügbarkeit von Tests hoch sein. Nach Schätzungen des afghanischen Gesundheitsministeriums könnte inzwischen bis zu einem Drittel der Bevölkerung infiziert sein.

Darüber hinaus bietet sich Rückkehrern sowohl aus Deutschland als auch aus Nachbarländern kaum eine Perspektive, den eigenen Lebensunterhalt verdienen. Denn auch aus Pakistan und dem Iran kehrten in den letzten Jahren Hunderttausende Menschen nach Afghanistan zurück, im ersten Halbjahr 2020 waren es allein 405 000 Afghanen, die aus dem schwer von der Coronakrise betroffenen Iran einreisten, wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) berichtete. Davon wurden mehr als 125 000 Fälle abgeschoben, die übrigen kehrten »freiwillig« zurück.

Zudem ist Afghanistan seit 2018 unentwegt von langanhaltenden Dürreperioden einerseits und Extremwetterlagen andererseits betroffen. Es ist eines der am stärksten unter dem Klimawandel leidenden Länder, was wiederum dazu führt, dass es sich immer mehr Menschen nicht mehr leisten können, ihre Kinder zur Schule zu schicken. Dies betrifft wiederum Mädchen weitaus stärker als Jungen.

 

Ulla Jelpke: Dauerhafter Abschiebestopp für das gefährlichste Land der Welt!

„Bund und Länder haben ihren grausamen Plan, heute wieder Schutzsuchende in das Kriegsland Afghanistan abzuschieben, kurzfristig abgesagt. Das ist die einzig richtige Entscheidung, denn zusätzlich zu der massiven und alltäglichen Gewalt grassiert auch in Afghanistan das Corona-Virus. Es braucht jetzt dringend einen dauerhaften Abschiebestopp“, erklärt die innenpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, Ulla Jelpke, anlässlich der für heute angekündigten Wiederaufnahme der Sammelabschiebungen nach Afghanistan. Die Abschiebung wurde auf Bitten der Regierung in Kabul kurzfristig abgesagt. Die Abgeordnete weiter:

„In Afghanistan explodieren täglich Bomben. Nicht von ungefähr wird Afghanistan nach dem Global Peace Index das zweite Jahr in Folge als das gefährlichste Land der Welt eingestuft. Erst Anfang November kamen bei einem schweren Anschlag der Terrorgruppe Islamischer Staat auf die Universität in Kabul mindestens 35 Menschen ums Leben, 22 wurden verletzt. Bei einem weiteren Angriff auf eine Schule in Kabul starben mehr als 20 Schüler und Schülerinnen. Die Friedensgespräche zwischen Taliban und der afghanischen Regierung haben bislang nicht zu einem Rückgang an zivilen Opfern geführt, doch die Abschiebewut der Bundesregierung ist ungebrochen.

Nun trifft auch noch die ungebremste Ausbreitung des Coronavirus auf ein völlig desolates Gesundheitssystem. Schätzungsweise ein Drittel der Bevölkerung soll sich nach Angaben des afghanischen Gesundheitsministeriums bereits infiziert haben, die wirtschaftliche Lage hat sich aufgrund der Pandemie dramatisch verschlechtert. Es ist eine Schande, dass die Bundesregierung selbst inmitten einer Pandemie nicht davon ablässt, die afghanische Regierung mit Verweis auf Entwicklungsgelder unter Druck zu setzen, um Abschiebungen durchzusetzen. Menschen dürfen nicht in Krieg und Elend geschickt werden!