29.05.2020 Was geschieht mit den von Deutschland nach Italien abgeschobenen Schutzsuchenden (Stichwort "Dublin")? ARD-Magazin Monitor berichtete in einem Beitrag (https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/fluechtlinge-italien-100.html), aus dem wir hier zitieren.
Georg Restle: „Gerechtigkeit, Solidarität und Menschenrechte, dafür will die Europäische Union vor allem stehen. Dabei hapert es beim Thema Menschenrechte erheblich, insbesondere wenn es um die Flüchtlingspolitik geht. Nach geltendem Recht müssen Flüchtlinge in das Land zurück, in dem sie erstmals registriert wurden. Deshalb schickt Deutschland die meisten so genannten Dublin-Flüchtlinge gerade nach Italien. Dort angekommen droht ihnen allerdings bitteres Elend. Viele landen auf der Straße, weil Italien ihnen das Nötigste zum Überleben verwehrt. Europa von seiner hässlichen Seite. Lara Straatmann, Lisa Seemann und Frank Konopatzki.“
Borgo Mezzanone im Süden Italiens - hier am Stadtrand sind etwa tausend Geflüchtete gestrandet, in diesem informellen Camp, das einige nur „den Slum“ nennen. Drehen ist hier nicht erwünscht. Es gibt keine Toiletten, kaum fließendes Wasser. Die Holzhütten hier haben sie sich selbst zusammengezimmert. Sie leben hier, um auf den Feldern Arbeit zu finden. Nicht weit vom Camp entfernt stoßen wir auf Noraini aus Ghana - er zeigt uns sein Obdach. Ein Zelt im Matsch - es regnet seit Tagen. Noraini hat im vergangenen Jahr noch in Baden-Württemberg gelebt. Im November musste er Deutschland verlassen, weil Italien nach europäischen Regeln für sein Asylverfahren zuständig sei. ...
Wir wollen sehen, wie es Amir geht und fahren nach Bari. Vor wenigen Tagen hat die deutsche Polizei die Iraner dorthin zurückgeschickt, weil Italien für das Asylverfahren zuständig sei. Nächtelang haben sie unter dieser Straßenbahnbrücke geschlafen, erzählt Amir. Er habe sich in Deutschland wohlgefühlt, in der Schule habe er schnell Deutsch gelernt. Aus Angst vor Abschiebung habe er bereits versucht, sich umzubringen...
Wir fahren weiter nach Mailand. Hier landen besonders viele Flüchtlinge, die aus anderen EU-Ländern zurückgeführt werden. Wir erfahren, die italienischen Behörden verweigern sehr vielen von ihnen die Unterkunft. Warum? Vor allem wegen dieser Regelung in einem italienischen Gesetz, das die Unterbringung von Geflüchteten regelt. Darin heißt es:
Zitat: „Der Regierungsbeamte (…) entzieht (…) das Recht auf Unterbringung, falls (…) der Asylbewerber die Sammelunterkunft ohne Angabe von Gründen verlässt.“
Eine Bestimmung, die regelmäßig angewendet werde, sagt Rechtsberaterin Nadia Bovino, die viele der obdachlosen Flüchtlinge betreut. Manchmal reiche nur eine einzige Nacht Abwesenheit, um das Recht auf einen Schlafplatz zu verlieren. Deshalb hätten auch viele Dublin-Rückkehrer, die Italien verlassen hatten, ihren Anspruch auf eine Unterkunft verloren.
Nadia Bovino, Rechtsberaterin Tageszentrum „Naga Har“ (Übersetzung Monitor): „Wenn jemand einige Zeit untergebracht war und dann das Land verlässt, verlässt er auch das Flüchtlingslager, und mit dem Lager verliert er die Unterkunft. Also wenn sie zurückgeschickt werden, werden sie nicht noch einmal eine Unterkunft bekommen, weil das Flüchtlingslager zu verlassen bedeutet das Recht auf Unterkunft zu verlieren.“
Dass Italien Flüchtlingen regelmäßig das Recht auf Unterbringung entzieht, bestätigt auch eine Recherche der italienischen Zeitschrift Altreconomia. Die Journalisten befragten alle italienischen Präfekturen nach dem Entzug der Unterbringung im Jahr 2016 und 2017 - die Hälfte schickte eine Antwort. Das Ergebnis, allein in diesen Präfekturen haben die Behörden 40.000 Flüchtlingen das Recht auf Unterkunft entzogen. Die Zahl für ganz Italien müsste deutlich höher sein. Der Sprecher von „Ärzte ohne Grenzen“ fordert Deutschland auf, diese Realität in Italien zur Kenntnis zu nehmen, in die Flüchtlinge zurückgeschickt werden.
Marco Bertotto, Ärzte ohne Grenzen, Italien (Übersetzung Monitor): „Ich denke, die deutschen Behörden haben die Verantwortung, bevor sie die Entscheidung treffen, sich darüber klar zu sein, wie die Bedingungen des Unterbringungssystems in Italien sind. Das ist ihr Teil der Verantwortung.“
Deutschland aber schickt jedes Jahr mehr Flüchtlinge nach Italien zurück. Die Zahl stieg auf 2.848 Flüchtlinge im vergangenen Jahr. Mehr als 30 Prozent aller Dublin-Überstellungen gingen also nach Italien. Dabei dürften Flüchtlinge gar nicht in ein Land zurückgeschickt werden, in dem keine menschenwürdige Versorgung garantiert ist. So urteilte der Europäische Gerichtshof im März 2019. Demnach müssen im Zielland die „elementarsten Bedürfnisse“ gewährleistet sein, wie etwa „sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden“. Für Europa-Rechtler Thomas Giegerich ist angesichts unserer Recherche klar, Italien bricht mit dem Entzug der Unterbringung europäisches Recht, und das habe Folgen - auch für Deutschland.
Prof. Thomas Giegerich, Universität des Saarlandes: „Wenn wir eine Gesetzeslage haben in Italien, die dazu führt, dass Hunderte oder Tausende Asylbewerber in die Obdachlosigkeit, ins menschenwürdewidrige Existieren geschickt werden, dann darf Deutschland solche Person nicht mehr nach Italien rückführen, bis die Lage in Italien sich ändert.“
Auf unsere Nachfrage erklärt das Bundesinnenministerium schriftlich, man sehe angesichts ausreichender Plätze in italienischen Unterkünften keine Notwendigkeit, von Rückführungen abzusehen und verweist auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens in der EU. Fraglich, ob dieses Vertrauen gerechtfertigt ist, angesichts Tausender Obdachloser. Noraini bangt um seine Existenz.
Noraini (Übersetzung Monitor): „So leben wir. Jeder, der von einem guten Ort kommt und sieht, wie wir unter diesen Bedingungen leben. Wir leiden.“