07.04.2022 Keine Rückendeckung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs erhielten die acht Kläger*innen und die über 1500 namenlosen Opfer der illegalen und gewaltsamen Zurückschiebungen von 2016. Das entschied jetzt, sechs Jahre nach dem brachialen Zurückdrängen des "March of Hope" in Idomeini (Nordmazedonien / Balkanroute) der EGMR.
"Im März 2016 zogen rund 1500 Menschen vom überfüllten Flüchtlingslager Idomeni in Nordgriechenland weiter nach Nordmazedonien. Von dort wurden sie teils brachial zurückgewiesen. Acht Frauen und Männer haben mit Unterstützung von ECCHR und PRO ASYL gegen diese Behandlung geklagt. Heute ist das beunruhigende Urteil des EGMR ergangen", so Pro Asyl in den News vom 05.04.2022
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied, dass die Massenabschiebungen nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen. Es ist eine Entscheidung, die vollkommen unverständlich bleibt. Denn eine der Begründungen lautet, die Schutzsuchenden hätten an einem der regulären Grenzübergänge ihr Asylgesuch stellen können (vgl. Rn. 121). Das lässt die realen Gegebenheiten vor Ort vollkommen außer Acht. Zu dieser Zeit waren die Grenzen dicht, Geflüchtete hatten gar keine Chance, an einem solchen Grenzübergang um Schutz zu bitten!
"... ein beunruhigendes Signal in einer Zeit, in der nicht nur in Griechenland, sondern auch in Polen, Kroatien, Ungarn, Serbien und in weiteren Ländern Menschen in illegalen Push-Back-Aktionen zurückgeschickt werden. Noch immer sitzen an der polnisch-belarussischen Grenze einige hundert Schutzsuchende fest, die von Polen – anders als ukrainische Geflüchtete – nicht reingelassen werden. ..."
Pro Asyl prüft mit den Kläger*innen jetzt die Möglichkeit einer Berufung.
Wir zitieren die News zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Folgenden:
Sechs Jahre nach dem »March of Hope« in Idomeni – Keine Gerechtigkeit für die Geflüchteten
Im März 2016 zogen rund 1500 Menschen vom überfüllten Flüchtlingslager Idomeni in Nordgriechenland weiter nach Nordmazedonien. Von dort wurden sie teils brachial zurückgewiesen. Acht Frauen und Männer haben mit Unterstützung von ECCHR und PRO ASYL gegen diese Behandlung geklagt. Heute ist das beunruhigende Urteil des EGMR ergangen.
Es gab eine Zeit, da ließen sich die Europäer noch berühren von Bildern von geflüchteten Menschen, die gezwungen waren, mitten in Europa in Schlamm und Dreck zu hausen. 2016 war so eine Zeit – und das Flüchtlingslager in Idomeni im Norden Griechenlands war ein Ort des Elends. Völlig überfüllt, aufgeweicht vom Regen, der beißende Gestank von brennendem Plastik in der Luft, denn die Menschen, die dort strandeten, verbrannten alles, was sie fanden, um ein bisschen Wärme zu erzeugen. Der Name Idomeni wurde zum Synonym für die «Schande Europas». Der frühere Bundesarbeitsminister Norbert Blüm sprach von einem »Anschlag auf die Menschlichkeit«.
Weil die Regierungen europäischer Staaten die sogenannte Balkanroute geschlossen hatten, saßen mehr als 10.000 Menschen in Idomeni fest. Am 16. März machte sich ein Teil von ihnen auf in Richtung Nordmazedonien, in der Hoffnung, von dort aus weiter zu kommen in andere europäische Länder. Rund 1500 Schutzsuchende zogen verzweifelt an die Grenze, darunter Familien mit kleinen Kindern und Menschen im Rollstuhl. Bekannt wurde die Aktion als »March of Hope« – doch ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Von mazedonischen Sicherheitsleuten wurden die Schutzsuchenden ohne Anhörung brutal zurückverfrachtet nach Griechenland. Das ist rechtswidrig, denn nach Völkerrecht muss jeder die Möglichkeit erhalten, individuell um Asyl zu bitten, und nach der Europäischen Menschenrechtskonvention sind Kollektivausweisungen verboten, wenn nicht bei jedem Einzelnen die individuellen Umstände geprüft werden. Acht Männer und Frauen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan haben deshalb vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geklagt. Unterstützt wurden sie dabei von PRO ASYL und der Menschenrechtsorganisation ECCHR.
»Wir sind keine Kriminellen. Wir wollen einfach nur Frieden und eine Zukunft für unsere Kinder, denn in unserer Heimat gibt es die nicht mehr.« Eine der Klägerin
Richter ignorieren die Tatsachen vor Ort
Dayana aus Aleppo, eine der Klägerinnen, sagt: »Wir sind keine Kriminellen. Wir wollen einfach nur Frieden und eine Zukunft für unsere Kinder, denn in unserer Heimat gibt es die nicht mehr.« Mit ihrer Familie und zwei kleinen Kindern schloss sie sich im März 2016 dem »March of Hope« an. Doch Dayana wurde, so wie die allermeisten anderen auch, unter Androhung von Gewalt abgewiesen und zurückgeschickt – zurück in den Schlamm und die unmenschlichen Bedingungen des Camps in Idomeni. »Ich warte darauf, dass uns Gerechtigkeit widerfährt«, sagt sie, den Tränen nahe. Doch heute wurde ihre Hoffnung erneut enttäuscht.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied, dass die Massenabschiebungen nicht gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen. Es ist eine Entscheidung, die vollkommen unverständlich bleibt. Denn eine der Begründungen lautet, die Schutzsuchenden hätten an einem der regulären Grenzübergänge ihr Asylgesuch stellen können (vgl. Rn. 121). Das lässt die realen Gegebenheiten vor Ort vollkommen außer Acht. Zu dieser Zeit waren die Grenzen dicht, Geflüchtete hatten gar keine Chance, an einem solchen Grenzübergang um Schutz zu bitten!
Am 8. März 2016 wurde der sogenannte humanitäre Korridor auf dem Balkan geschlossen – für Schutzsuchende war kein Durchkommen mehr. Dieses Datum markierte zugleich den Beginn für die systematische Ausweitung von Push-Back-Praktiken in ganz Europa. Nordmazedonien nahm eigenen Angaben zufolge zwischen dem 8. März und dem 21. September 2016 keine Asylanträge von Schutzsuchenden mehr an – weder im Landesinneren, noch an den Grenzübergängen.
Es ist alarmierend, dass die Richter in Straßburg die Realitäten vor Ort derart ignorieren. Die Schlussfolgerung des Gerichts, dass eine derartige Massenausweisung menschenrechtskonform ist, höhlt den Menschenrechtsschutz an den Grenzen weiter aus.
Das ist ein beunruhigendes Signal in einer Zeit, in der nicht nur in Griechenland, sondern auch in Polen, Kroatien, Ungarn, Serbien und in weiteren Ländern Menschen in illegalen Push-Back-Aktionen zurückgeschickt werden. Noch immer sitzen an der polnisch-belarussischen Grenze einige hundert Schutzsuchende fest, die von Polen – anders als ukrainische Geflüchtete – nicht reingelassen werden. Berichte darüber, dass polnische und belarussische Grenzbeamte die Menschen wechselseitig auf die andere Seite des Zauns prügeln, sind vielfach zu finden.
Ein bitterer Tag für Schutzsuchende und den Menschenrechtsschutz in Europa
Für Menschen wie Dayana aus Aleppo ist es eine große Enttäuschung, keine Rückendeckung des Menschenrechtsgerichtshofs zu erhalten. Für die acht Kläger*innen und die über 1500 namenlosen Opfer der illegalen und gewaltsamen Zurückschiebungen gibt es keine Gerechtigkeit. Die Gewalt, die Entwürdigung, die Verweigerung von individuellen Rechten bleiben ungesühnt. Es ist ein bitterer Tag für Schutzsuchende und den Menschenrechtsschutz in Europa.
Die acht Beschwerdeführer*innen in dem Fall »A.A. und andere gegen Nordmazedonien« prüfen nun, Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen. PRO ASYL und das ECCHR werden sie auch künftig darin unterstützen und sich weiterhin einsetzen für Gerechtigkeit und die Geltung der Menschenrechte.
(er)