Ein Jahr Taliban-Regime in Afghanistan: Berichte und Forderungen

13.08.2022 Zum Jahrestag der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan veröffentlichte Pro Asyl Pressemitteilungen, Berichte und einen Appell. Hier können sie nachgelesen werden:

  1. Pressemitteilung: Evakuierte afghanische Frauen appellieren: Vergesst nicht die anderen!

  2. Pressemitteilung: Ein Jahr Taliban an der Macht – PRO ASYL fordert sofortige Umsetzung der Koalitions-Versprechen zu Afghanistan
  3. News: Aufnahme von Ortskräften aus Afghanistan ist kein Gnadenakt, sondern Pflicht!
  4. News: Afghanische Frauen im Exil kämpfen weiter für ihre Träume und ihre Rechte

  5. News: »Meine Tochter betete zu Gott, dass er die Taliban verscheucht und ihre Eltern rettet«

 

1. Pressemitteilung

Evakuierte afghanische Frauen appellieren: Vergesst nicht die anderen!

09.08.2022 PRO ASYL veröffentlicht und unterstützt den Appell evakuierter Frauen aus Afghanistan und fordert die Bundesregierung auf, endlich mehr für die Aufnahme gefährdeter Menschen aus Afghanistan zu tun. Das Ortskräfteverfahren muss reformiert und die Aufnahme über Humanitäre Visa muss, auch nachdem ein Bundesaufnahmeprogramm in Kraft tritt, fortgeführt werden. 

Die meisten von ihnen haben es geschafft: 31 Frauen der Gruppe „United Voice of Women for Peace“, die durch das ehemalige afghanische Friedensministerium ins Leben gerufen wurde, sind in Deutschland oder auf dem Weg dorthin. Die ehemalige Staatssekretärin im afghanischen Friedensministerium, Dr. Alema, wurde kurz nach der Machtergreifung durch die Taliban aus Afghanistan nach Deutschland evakuiert. Zusammen mit PRO ASYL gelang es ihr für 31 Frauen der Gruppe ein humanitäres Visum nach § 22 Absatz 2 Aufenthaltsgesetz zu erlangen. Für drei weitere Mitglieder der Gruppe sind ebenfalls Visumanträge eingereicht, die noch in Bearbeitung beim Auswärtigen Amt (AA) sind. Insgesamt hatten sich 34 Frauen der Gruppe an Dr. Alema und PRO ASYL gewandt, mit der Bitte um Unterstützung bei der Flucht aus Afghanistan.

Auf Einladung von PRO ASYL trafen sich am 4. August ein Großteil der Gruppe in Frankfurt. Schnell wurde deutlich, dass trotz der Erleichterung über die eigene Sicherheit die Sorge um die Zurückgebliebenen andauert:

„Wir wurden aus der Hölle gerettet. Jetzt sind wir in Deutschland und in Freiheit. Aber die grausamen Taten der Taliban gegenüber Tausenden weiteren Frauen und Männern, die Ähnliches erleiden wie wir, gehen uns nicht aus dem Kopf. Auch ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban warten Zehntausende immer noch auf eine Aufnahmezusage und ihre Evakuierung. Der Prozess, bis eine Person endlich aus Afghanistan ausreisen darf, dauert viel zu lange.“

Daher haben die Aktivistinnen einen eindringlichen Appell an die deutsche Bundesregierung und an die Weltgemeinschaft formuliert. Unter anderem fordern sie darin,

  • dass die Aufnahme über humanitäre Visa nach § 22 Absatz 2 Aufenthaltsgesetz auch neben einem künftigen Bundesaufnahmeprogramm fortgeführt wird,
  • dass für das Ortskräfteverfahren der Begriff „Ortskraft“ auf alle entlohnten und ehrenamtlichen Tätigkeiten für deutsche Institutionen, Organisationen und Unternehmen sowie Subunternehmen ausgeweitet wird,
  • ein Bundesaufnahmeprogramm,
  • eine Beschleunigung des Familiennachzugs und eine Anpassung des Begriffs Familie auf die Lebensrealität in Afghanistan.

PRO ASYL schließt sich den Forderungen vollumfänglich an und befürchtet zugleich, dass das AA und das BMI planen, die Erteilung von humanitären Visa künftig wieder äußerst restriktiv zu handhaben und auf wenige handverlesene Fälle zu beschränken. In der Zwischenbilanz sechs Monate „Aktionsplan Afghanistan“ des AA heißt es: „Das im Koalitionsvertrag vereinbarte Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan befindet sich aber noch immer im Aufbau. Der Bundestag hat hierfür Mittel zur Verfügung gestellt. Aktuell laufen die Abstimmungen zwischen BMI und Auswärtigen Amt. Bis zu dessen Verwirklichung wurde für besonders dringende Fälle ein vereinfachtes Verfahren für humanitäre Visa vereinbart.“ [Hervorhebung durch PRO ASYL]

Das heißt, Menschenrechtsverteidiger*innen in Afghanistan, die akut gefährdet sind und es nicht ins Bundesaufnahmeprogramm schaffen, haben künftig das Nachsehen. Für die Bearbeitung von humanitären Visa nach §22 Abs. 2 AufenthG ist das AA zuständig, für den komplizierten Auswahl- und Umsetzungsprozess eines Bundesaufnahmeprogrammes nach §23 AufenthG das BMI. Im Koalitionsvertrag hat die Ampel, die Erteilung von humanitären Visa versprochen. Dies ist nicht gekoppelt an ein Bundesaufnahmeprogramm über dessen Umfang seit Monaten gestritten wird und das absehbar viel zu eng gestrickt ist. „Wir fordern, dass die Ampel zu den Versprechen steht und nicht mit faulen Ausreden und Sprachtricksereien die Erteilung von humanitären Visa einstellt“, warnt Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL. „Wer akut in Gefahr ist, muss sofort gerettet werden. Deshalb müssen humanitäre Visa kontinuierlich auch weiterhin erteilt werden. Ministerin Baerbock muss als ersten Schritt dafür sorgen, dass in ihrem Haus die hochgradig gefährdeten Fälle bearbeitet werden und dann an das BMI weitergeleitet werden.“

Hintergrund

Die Gruppe „United Voice of Women for Peace“ wurde im Jahr 2019 durch das Friedensministerium der damaligen afghanischen Regierung ins Leben gerufen, um das für den Friedensprozess zuständige Verhandlungsteam der afghanischen Regierung zu beraten und mit Konzepten zur Friedensstrategie zu unterstützen. Die Gruppe umfasste viele Frauen in der Hauptstadt Kabul und in allen 34 Provinzen Afghanistans, die sich als Frauen- und Menschenrechtlerinnen mutig für das einsetzten, was die Taliban verachten und bekämpfen: gleiche Rechte für Frauen und Männer, eine demokratische Verfassung, Frieden und Freiheit. Bereits zum Internationalen Frauentag am 8. März 2022 hatten sie sich mit Unterstützung von PRO ASYL mit dem Appell „Holt uns hier raus!“ an die deutsche Bundesregierung gewandt.

2. Pressemitteilung

Ein Jahr Taliban an der Macht – PRO ASYL fordert sofortige Umsetzung der Koalitions-Versprechen zu Afghanistan

13.08.2022 Auch ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban sind in Afghanistan noch immer Zehntausende Menschen in Lebensgefahr, während die Bundesregierung ihre Pläne, gefährdete Menschen zu retten, nur ungenügend umsetzt. Die Zahl der Menschen, die Schutz bekommen sollen, ist viel zu gering. 

Mit der Übergabe der Unterschriften zur Petition „Retten statt reden“ am Samstag im Rahmen des 1. Ortskräftekongresses in Berlin an die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung Luise Amtsberg fordert PRO ASYL erneut: eine Reform des Ortskräfteverfahrens, ein den Namen verdienendes Bundesaufnahmeprogramm, die kontinuierliche Erteilung humanitärer Visa und die Beschleunigung des Familiennachzugs. Auch nach Beginn eines Bundesaufnahmeprogramms müssen Humanitäre Visa weiter erteilt werden. Rund 20.000 Menschen unterstützen diese Forderungen.

Jeder Tag des Wartens bedeutet Lebensgefahr 

„Dass die Bundesregierung fast ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban und mehr als sechs Monate nach Regierungswechsel noch immer kein funktionierendes Bundesaufnahmeprogramm für gefährdete Menschen aus Afghanistan realisiert hat, ist unverantwortlich gegenüber den Menschen, die sich in Afghanistan für Menschenrechte und Demokratie eingesetzt haben und in Gefahr sind“, sagt Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL. „Die Aufnahme muss sofort beginnen, denn jeder Tag des Wartens ist ein Tag in Lebensgefahr für die betroffenen Menschen.“

Bundesaufnahmeprogramm noch immer unklar 

Die Zahl der Menschen, die über dieses Bundesaufnahmeprogramm in Sicherheit kommen sollen,  ist immer noch umstritten und die Finanzmittel für das Programm sind viel zu niedrig. „Doch die Aufnahme aus Afghanistan darf nicht gedeckelt werden, sondern muss sich nach der Gefährdungslage der Menschen richten“, sagt Burkhardt. Es gibt weit mehr gefährdete Menschenrechtler*innen, Frauenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen  und Kulturschaffende in Afghanistan, die Schutz in Deutschland brauchen, als die Bundesregierung retten will.
Unklar ist auch noch immer, wie die Menschen nach Deutschland kommen sollen. Charterflüge mit Erteilung von Visa bei der Ankunft in Deutschland wären ein Weg zur Beschleunigung. PRO ASYL fordert zudem, auch die bedrohten Familienangehörigen mit nach Deutschland zu holen, die nicht in die deutsche Definition von Kernfamilie fallen.

Aufnahme der Ortskräfte ist Verpflichtung, nicht Gnade 

Überhaupt keine Fortschritte gibt es bisher bei der versprochenen Reform des Ortskräfteverfahrens. Die Definition, wer als Ortskraft gilt, muss alle Gefährdeten einschließen, zum Beispiel auch Subunternehmer*innen, die für die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gearbeitet haben. PRO ASYL fordert deshalb: „Wer durch das Handeln Deutschlands in Gefahr gebracht wurde, muss als Ortskraft Aufnahme finden. Und dazu gehören selbstverständlich auch die Familienangehörigen. Diese Aufnahme ist kein Gnadenakt, sondern eine rechtliche gut begründete Verpflichtung Deutschlands“, sagte Günter Burkhardt mit Blick auf den 1. Ortskräftekongress in Berlin, zu dem das Patenschaftsnetzwerk  Afghanische Ortskräfte e.V., der Bundeswehrverband , die Evangelische Akademie Berlin und  PRO ASYL für Samstag eingeladen hatten.

Ortskräfteverfahren muss reformiert werden

Solange das Ortskräfteverfahren nicht reformiert ist, müssen alle Menschen Zugang zum Bundesaufnahmeprogramm erhalten, die für deutsche Institutionen und deren Subunternehmen gearbeitet haben und einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt sind – aber nicht die engen Voraussetzungen für das Aufnahmeprogramm für Ortskräfte erfüllen. Denn die Taliban unterscheiden bei ihren Racheaktionen nicht nach der Art der Vertragsverhältnisse.

Auch eine kürzlich veröffentlichte Studie der FAU Human Rights Clinic (Universität Erlangen-Nürnberg) in Kooperation mit PRO ASYL zeigt, dass Deutschland seinen menschenrechtlichen Verpflichtungen zur Aufnahme von Ortskräften aus Afghanistan bislang nicht ausreichend nachkommt. Zudem ist das Verfahren derart intransparent, dass viele Ortskräfte einen Antrag scheuen, weil sie weder Dauer und Zuständigkeiten noch die angewendeten Gefährdungskriterien einschätzen können.

Die Studie problematisiert darüber hinaus besonders die Rechtskonstruktion für die Aufnahme von Ortskräften, wonach die Aufnahme komplett im Ermessen der Regierung liegt. Das führt auch dazu, dass es kaum zu einer wirksamen rechtlichen Kontrolle durch die Gerichte kommt. Die Aufnahme ist aber kein Gnadenakt, sondern Pflicht.

Koalitionsvertrag muss eingehalten werden

Auch weitere Zusagen aus dem Koalitionsvertrag sind bisher ungenügend umgesetzt: die Erteilung von humanitären Visa für besonders gefährdete Afghan*innen und eine Beschleunigung beim Familiennachzug. Dazu haben PRO ASYL, Kabul Luftbrücke und das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte schon ein halbes Jahr nach dem Fall von Kabul den Zehn-Punkte-Plan „Vergesst Afghanistan nicht, handelt jetzt“ veröffentlicht. Darin enthalten waren schon damals Bundes- und Landesaufnahmeprogramme, der Verzicht auf bürokratische Visaverfahren und die Einführung von Visa on Arrival, die kontinuierliche Erteilung von humanitären Visa für Menschen in Lebensgefahr (Paragraf 22), Schutz bedrohter Ortskräfte und ein zügiger Familiennachzug.

Humanitäre Visa weiterhin ausstellen

Doch die im Koalitionsvertrag versprochenen humanitären Visa für stark gefährdete Einzelpersonen nach §22 Absatz 2 Aufenthaltsgesetz werden nach wie vor nur schleppend erteilt. Hier muss großzügiger vorgegangen werden. Und die Erteilung humanitärer Visa darf auf keinen Fall mit der Eröffnung eines Bundesaufnahmeprogrammes enden, wie PRO ASYL nach Äußerungen des Auswärtigen Amts befürchtet.

Denn in der Zwischenbilanz sechs Monate „Aktionsplan Afghanistan“ des Auswärtigen Amts heißt es: „Das im Koalitionsvertrag vereinbarte Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan befindet sich aber noch immer im Aufbau. Der Bundestag hat hierfür Mittel zur Verfügung gestellt. Aktuell laufen die Abstimmungen zwischen BMI und Auswärtigen Amt. Bis zu dessen Verwirklichung wurde für besonders dringende Fälle ein vereinfachtes Verfahren für humanitäre Visa vereinbart.“ (Hervorhebung durch PRO ASYL). PRO ASYL betont: Die Rettung von bedrohten Menschen über humanitäre Visa muss parallel zu einem Bundesaufnahmeprogramm weitergeführt werden.

Familiennachzug zu schleppend 

Viel zu langsam voran geht es auch mit dem Familiennachzug, auch aus Afghanistan, auf den  Ortskräfte und als Flüchtlinge anerkannte ein Recht haben. Doch nach wie vor sind die Hürden, die Behörden und das Auswärtige Amt aufbauen, zu hoch – und die Familienmitglieder bleiben unter Lebensgefahr in Afghanistan. Deshalb muss die Bearbeitung beschleunigt werden, zum Beispiel durch Vorabzustimmungen der lokalen Ausländerbehörden und mit Visa on Arrival.

Ministerin Faeser und Ministerin Baerbock haben wiederholt öffentlich deutlich gemacht, dass die Aufnahme aus Afghanistan für sie eine hohe politische Priorität hat. Auch im Koalitionsvertrag heißt es: „Wir wollen diejenigen besonders schützen, die der Bundesrepublik Deutschland im Ausland als Partner zur Seite standen und sich für Demokratie und gesellschaftliche Weiterentwicklung eingesetzt haben.“

Zum Hintergrund: PRO ASYL hat 2021 den dringenden Handlungsbedarf vor allem für die Ortskräfte schon früh erkannt und schickte schon im April 2021 Vorschläge an deutsche Ministerien – unter anderem mit der Forderung nach einer sofortigen Ausreise mit Visaerteilung bei der Ankunft. Als sich die Sicherheitslage weiter zuspitzte, forderte PRO ASYL am 24. Juni eine rasche Evakuierung der Ortskräfte. Nach dem Vorschlag für ein „Programm zur Aufnahme afghanischer Ortskräfte“ im April 2021 forderte PRO ASYL am 24. Juni 2021, fünf Tage vor dem endgültigen Abzug der Bundeswehr, erneut Schnelligkeit und unbürokratische Verfahren.

Doch statt Ortskräfte und ihre Familien auszufliegen, setzte die Bundeswehr andere Prioritäten. PRO ASYL erklärte: „Es ist mehr als irritierend, dass die Bundeswehr rund 22.000 Liter Bier, Wein und Sekt ausgeflogen hat, aber viele Menschen, die für Deutschland gearbeitet haben, zurückgelassen werden.“ Und als die Machtergreifung der Taliban unausweichlich schien, forderte PRO ASYL am 9. August 2021eine Luftbrücke für Gefährdete. Doch die Warnungen verhallten ungehört, eine Chronik des Versagens.

Eine Kurzfassung der Studie der FAU Human Rights Clinic (Universität Erlangen-Nürnberg) in Kooperation mit PRO ASYL zum Umgang mit den Ortskräften finden Sie hier.