Ein Jahr »vorübergehender Schutz« für Ukrainer*innen: Zeit für eine Zwischenbilanz

24.02.2023 Wir zitieren aus den News von Pro Asyl:

Ein Jahr »vorübergehender Schutz« für Ukrainer*innen: Zeit für eine Zwischenbilanz

Vor einem Jahr greift Russland die Ukraine an. Millionen Menschen flüchten vor dem Krieg, viele davon in die osteuropäischen Nachbarstaaten der Ukraine. Auf die massiven Fluchtbewegungen reagiert die Europäische Union mit der Aktivierung der Richtlinie über den sogenannten »vorübergehenden Schutz«. Ein Erfolgsmodell?

Als am 24. Februar 2022 russische Truppen die Ukraine angreifen, bilden sich an den Grenzübergängen schnell lange Schlangen. Zehntausende Menschen haben nur noch ein Ziel vor Augen: Sich und ihre Kinder schnellstmöglich in Sicherheit zu bringen. In den Gesichtern spiegelt sich das blanke Entsetzen wieder. Obwohl es bereits seit Monaten massive Warnungen vor einem russischen Einmarsch gegeben hatte, hatte sich fast niemand vorstellen können, dass es tatsächlich zum Krieg kommen würde.

Viele Familien fahren in diesen ersten Kriegstagen gemeinsam an die Grenze. Die Familienväter müssen zurückbleiben, denn die ukrainische Regierung hatte umgehend eine bis heute geltende Regelung eingeführt, die es Männern im Alter zwischen 18 und 60 Jahren nur in Ausnahmefällen erlaubt, die Ukraine zu verlassen. Auch die 60.000 ausländischen Studierenden, die sich bei Kriegsausbruch in der Ukraine aufhalten, versuchen, die Ukraine zu verlassen. Vor allem Polen verweigert ihnen jedoch zunächst die Einreise mit der Begründung, dass sie im Gegensatz zu ukrainischen Staatsangehörigen ein Visum für die Einreise in den Schengenraum benötigen.

Innerhalb von nur elf Tagen fliehen fast zwei Millionen Ukrainer*innen in die angrenzenden EU-Staaten. Der Großteil davon nach Polen, aber auch an der Grenze zur Slowakei, nach Ungarn und nach Rumänien werden täglich zehntausende Einreisen registriert. Schnell ist klar: Es handelt sich um eine Fluchtbewegung von historischem Ausmaß, in der EU kommen in wenigen Tagen mehr Schutzsuchende an als 2015 und 2016.

PRO ASYL und Bordermonitoring.eu fahren frühzeitig an die EU-Außengrenze und starten ein gemeinsames Monitoring-Projekt, um die Situation von ukrainischen Geflüchteten in den Nachbarstaaten der Ukraine fortlaufend zu dokumentieren

Schneller Schutz jenseits langwieriger Asylverfahren 

Im krassen Gegensatz zu den repressiven und auf Abwehr ausgerichteten Maßnahmen der EU-Länder, mit denen Geflüchtete aus anderen Ländern konfrontiert sind, herrschte bei den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine von Beginn an große Einigkeit: Sie sollten schnell und unbürokratisch aufgenommen werden. Dafür aktivierte der Rat der Europäischen Union am 4. März 2022 einstimmig und erstmals in der Geschichte der EU die Richtlinie zum vorübergehenden Schutz (auf Deutsch auch »Massenzustrom-Richtlinie« genannt). Seit ihrer Verabschiedung im Jahr 2001 war die Verordnung allenfalls Expert*innen bekannt und hatte in der Praxis keinerlei Bedeutung.

TIMELINE

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Flucht aus der Ukraine

Im Kern zielt die Richtlinie darauf ab, im Fall einer großen Fluchtbewegung in die EU eine pragmatische Aufenthaltsgewährung jenseits langwieriger Asylverfahren zu ermöglichen. Zudem gibt die Richtlinie Mindeststandards vor, die von den Mitgliedstaaten etwa beim Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Sozialleistungen oder zur Gesundheitsversorgung eingehalten werden müssen. Sie ersetzt dabei nicht das Asylverfahren  , sondern ergänzt es: Wer will, kann alternativ auch einen Asylantrag stellen – und dies sogar dann, wenn bereits temporärer Schutz gemäß der Richtlinie erteilt worden ist.

Von der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz umfasst sind zwingend alle ukrainischen Staatsangehörigen, die sich vor dem 24. Februar 2022 in der Ukraine aufgehalten haben, in der Ukraine anerkannte Flüchtlinge und die Familienangehörigen dieser beiden Gruppen. Komplizierter wird es bei Menschen aus anderen Ländern, die sich bei Ausbruch des Krieges in der Ukraine aufgehalten haben: Hatten sie in der Ukraine einen dauerhaften Aufenthaltstitel und können nicht sicher und dauerhaft in ihren Herkunftsstaat zurückkehren, ist ihnen ebenfalls Schutz gemäß der Richtlinie zu gewähren. Bei Drittstaatsangehörigen, die wie die ausländischen Studierenden in der Ukraine lediglich eine befristete Aufenthaltserlaubnis hatten, steht es den Mitgliedstaaten frei, ob sie ihnen vorübergehenden Schutz gewähren (zur Anwendung des vorübergehenden Schutzes in Deutschland hat PRO ASYL hier die wichtigsten Informationen zusammen getragen).

Freizügigkeit innerhalb der EU 

Für große Überraschung sorgte der Hinweis in dem Aktivierungsbeschluss, dass die Mitgliedstaaten übereingekommen sind, dass sie Artikel 11 der Richtlinie nicht anwenden werden. In diesem ist eigentlich vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, Rückführungen von Geflüchteten aus anderen EU-Staaten zu akzeptieren, wenn sie diesen zuvor bereits einen Aufenthaltstitel gemäß der Richtlinie erteilt haben. In der Praxis bedeutet das, dass Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine ihren Aufnahmestaat zu jeder Zeit frei wählen können.

Damit überhaupt nachvollziehbar ist, wer in einem anderen EU-Staat bereits Schutz gemäß der Richtlinie erhalten hat, hat die EU-Kommission Ende Mai 2022 die sogenannte Europäische Registrierungsplattform eingerichtet. Darüber können die Mitgliedstaaten Informationen austauschen, wem in welchem Land bereits vorübergehender Schutz gewährt wurde. Aktuell wird die Plattform von den Mitgliedstaaten nur genutzt, um Personen, die bereits Schutz erhalten haben und in einem anderen Land erneut einen Antrag auf vorübergehenden Schutz stellen, im Land der Erstgewährung abzumelden. Damit wird verhindert, dass eine Person in mehreren Mitgliedstaaten gleichzeitig vorübergehenden Schutz erhält. Sollten die EU-Staaten zukünftig beschließen, die Freizügigkeit von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine einzuschränken, könnten die in der Europäischen Registrierungsplattform gespeicherten Daten genutzt werden, um Anträge auf vorübergehenden Schutz als unzulässig abzulehnen, wenn bereits ebendieser Schutz in einem anderen Staat schon gewährt wurde.

EU-Kommission stellt 17 Milliarden Euro bereit 

Die Europäische Kommission hat den Mitgliedstaaten zugesagt, insgesamt 17 Milliarden Euro für die Aufnahme von ukrainischen Kriegsflüchtlingen bereitzustellen. Diese Mittel werden nicht etwa über ein spezifisches Förderprogramm zugänglich gemacht, sondern nicht abgerufene Gelder bereits bestehender EU-Förderprogramme werden umgewidmet. Hierzu wurden im Eiltempo die »Care-Verordnung«, die »Care+-Verordnung« und die »Fast-Care-Verordnung« verabschiedet. Ob die Mittel tatsächlich gerecht auf die Mitgliedstaaten verteilt und im Sinne der ukrainischen Geflüchteten eingesetzt werden, bleibt abzuwarten. Eine gewisse Skepsis ist allein aufgrund der hastig getroffenen Entscheidungen und andauernden Nachbesserungen sicherlich angebracht

Mit Abstand die meisten Ukrainer*innen wurden von Polen aufgenommen

Laut UNHCR wurden bis jetzt EU-weit knapp fünf Millionen Aufenthaltstitel für den vorübergehenden Schutz erteilt,  etwa 1,8 Millionen davon in den Nachbarstaaten der Ukraine: Der Großteil in Polen, wo in über 1,5 Millionen Fällen temporärer Schutz gewährt wurde. In der Slowakei und in Rumänien wurden bisher jeweils knapp über 100.000 Anträge bewilligt, in Ungarn lediglich etwas mehr als 30.000 Anträge. Hinzu kommen etwa 100.000 ukrainische Kriegsflüchtlinge, die sich in dem Nicht-EU-Land Moldau aufhalten, wo der vorübergehende Schutz jedoch nicht gilt.

Die Anzahl der von einem Land erteilten Aufenthaltstitel vermitteln jedoch nur einen groben Eindruck davon, wie viele ukrainische Kriegsflüchtlinge sich tatsächlich (noch) in dem entsprechenden Land aufhalten. Denn es ist unklar, wie viele zwischenzeitlich in die Ukraine zurückgekehrt sind oder in einem anderen EU-Staat erneut Schutz suchen.

Wie unterschiedlich die Aufnahme und die Bedingungen für Geflüchtete aus der Ukraine trotz der Richtlinie über den vorübergehenden Schutz in den Mitgliedstaaten sind, zeigt ein Blick in die Nachbarländer der Ukraine.

Erfolgsmodell »vorübergehender Schutz«?

Ein Jahr nach der Aktivierung der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz zeigt sich immer deutlicher, dass sich dieser Schritt bewährt hat. Und dies nicht nur in Deutschland, sondern auch auf europäischer Ebene und hier insbesondere in den osteuropäischen Nachbarstaaten der Ukraine. Wären ukrainische Geflüchtete ins Asylverfahren gedrängt worden, wären langwierige Verfahren, Arbeitsverbote, überfüllte Lager und großer Streit um eine gerechte Verteilung innerhalb der EU wohl traurige Realität geworden.

In den osteuropäischen Staaten wurden die geflüchteten Ukrainer*innen weitestgehend freundlich empfangen und aufgenommen. Die wenigsten müssen in Sammelunterkünften leben, die meisten sind privat untergekommen. Maßgeblich dazu beigetragen haben staatliche Programme, welche die private Aufnahme gezielt gefördert haben. Auch ist die Bedeutung direkter finanzieller Unterstützung, wie sie der UNHCR zur Verfügung gestellt hat und zum Teil immer noch anbietet, kaum hoch genug einzuschätzen. Dies auch vor dem Hintergrund, dass die Sozialleistungen in den osteuropäischen Staaten vergleichsweise gering sind und oft nicht ausreichen, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können.

 

Trotz aller Herausforderungen muss die Aufnahme von fast fünf Millionen ukrainischen Kriegsflüchtlingen innerhalb nur eines Jahres als Erfolg gewertet werden. Entscheidend für diesen Erfolg ist, dass die Geflüchteten aus der Ukraine den Staat ihrer Aufnahme selbst wählen können. Dabei hat sich auch gezeigt, dass es schlichtweg ein Mythos ist, dass Geflüchtete vor allem in jenen Staaten Zuflucht suchen, in denen die Sozialleistungen vorgeblich am höchsten sind. Viel wichtiger scheinen familiäre und bekanntschaftliche Netzwerke, sprachliche Nähe und Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu sein. Nur so lässt sich erklären, warum mit Abstand am meisten Ukrainer*innen in Polen Schutz ersucht haben. Es bleibt zu hoffen, dass hieraus auch Lehren für die Debatte um ein gemeinsames europäisches Asylsystem gezogen werden.

Marc Speer (bordermonitoring.eu)

Marc Speer berichtet im Rahmen eines gemeinsamen Projekts von PRO ASYL und bordermonitoring.eu über die Situation von Geflüchteten aus der Ukraine in den Nachbarstaaten der Ukraine.