El Hiblu3 - Interview mit dem Anwalt dreier aus Seenot Geretteter, denen vor Gericht in Malta schwere Vorwürfe gemacht werden

22.11.2021 Mit einem Interview macht ProAsyl auf das Schicksal dreier Jugendlicher aufmerksam, die 2019 von einem Handelsschiff aus Seenot gerettet wurden und sich mit den anderen Geretteten gegen die vom Kapitän beabsichtigte Anlandung in Libyen zur Wehr setzten. Für sie wurde Malta kein sicherer Hafen: Ihnen droht lebenslange Haft.

El Hiblu 3: »Wir fechten einen Informationskrieg aus«

Wie es um den El Hiblu-Prozess um drei junge Geflüchtete steht und warum er mit Sorge auf die aktuellen Entwicklungen in Europa schaut, erklärt Rechtsanwalt Neil Falzon aus Malta im Interview.

Im März 2019 wurde das Handelsschiff »El Hiblu 1« von einem Flugzeug der EU-Militärmission EUNAVFOR MED angewiesen, 108 Menschen aus Seenot zu retten. Nach der Rettung nahm der Kapitän Kurs auf Libyen. Als den Schutzsuchenden dies bewusst wurde, drängten sie den Kapitän dazu, umzukehren. Dies gelang, er steuerte Malta an. Drei der Geflüchteten, zu dem Zeitpunkt 15, 16 und 19 Jahre alt, wurden dort nach Ankunft inhaftiert. Was wird ihnen vorgeworfen?

 

Es gibt eine lange Liste mit Anklagepunkten gegen die drei Jugendlichen. Das ist bisher eine vorläufige Anklage, noch nicht die endgültige, aber die Vorwürfe gegen die drei Jungs wiegen schwer. Ihnen wird unter anderem Terrorismus vorgeworfen.

Waren sie denn bewaffnet oder haben sie den Kapitän und die Crew bedroht?

13.000 Flüchtlinge wurden im ersten Halbjahr 2021 zurück nach Libyen geschleppt.

Nein. Der Kapitän und die Crew haben ausgesagt, dass sie um ihre Sicherheit fürchteten, aber niemand wurde verletzt – darin stimmen alle überein –, das Schiff nicht beschädigt, und vor Gericht sagen sie nun aus, dass laut ihrer Erinnerung niemand bewaffnet war. Es waren insgesamt 108 Migranten an Bord; dass ausgerechnet diese Drei nun angeklagt sind, liegt daran, dass einer von ihnen englisch spricht und zwischen der Schiffsbesatzung und den Schutzsuchenden vermittelt hat. Der Kapitän hat ihn sogar zu sich gerufen und um Übersetzung und Vermittlung gebeten; die zwei anderen Jungs begleiteten ihn. Die Drei haben dann eine Schlüsselrolle dabei gespielt, die Menschen an Bord zu beruhigen und die Lage zu entspannen.

»Der Kapitän hatte den Schutzsuchenden versprochen, sie in Sicherheit zu bringen, nach Europa. Aber entgegen dieser Aussage nahm er Kurs auf Libyen.«

Wie ist es möglich, dass in einem EU-Staat unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung – einer Allzweckwaffe, die man sonst aus Diktaturen kennt – Menschen angeklagt werden?

Das liegt daran, dass der Kapitän des Handelsschiffes die maltesischen Behörden vor dem Einlaufen in den Hafen darüber informiert hatte, dass das Schiff von den Migranten »übernommen« worden sei und er keine Kontrolle mehr habe. Völlig außer Acht gelassen wird dabei aber der Kontext: Der Kapitän hatte den Schutzsuchenden versprochen, sie in Sicherheit zu bringen, nach Europa. Aber entgegen dieser Aussage nahm er Kurs auf Libyen. Als die Geflüchteten das begriffen und die Lichter Libyens sahen, fühlten sie sich zurecht getäuscht. Sie waren in Aufruhr und versuchten verzweifelt, die Besatzung zur Umkehr zu bewegen. Aber um den Vorwurf der Piraterie und des Terrorismus zu verstehen, muss man auch die politischen Zusammenhänge sehen: Malta stellt eine Festung dar, um ganz Europa die Migranten vom Leib zu halten.

Wo steht das Verfahren momentan, wann ist mit einem Urteil zu rechnen?

Das ist schwer zu sagen. Momentan befinden wir uns im Vorverfahren, die Beweisaufnahme läuft noch. Wir Anwälte haben von Anfang an darauf gedrungen, dass die anderen Migrant*innen an Bord als Zeug*innen geladen werden. Doch das ist zu unserem großen Ärger zwei Jahre lang nicht passiert. Stattdessen wurden vor Gericht nur die Besatzung und Beamte befragt. Erst vor wenigen Monaten wurden erstmals einige der anderen Schutzsuchenden geladen. Aber jetzt, fast zwei Jahre später, sagt die Polizei, dass sie viele von ihnen nicht mehr finden könne. Nicht überraschend sind einige Migrant*innen weiter gezogen. Gerichtstermine finden ein bis zwei Mal im Monat statt, bei dem langsamen Tempo, das wir bisher haben, und der großen Anzahl an Zeug*innen kann es noch viele Monate dauern – zur großen Frustration meiner Mandanten.

»Ihrer Ansicht nach haben sie das einzig Vernünftige getan: nämlich geholfen, dass sie nicht in die Folterkeller Libyens zurückgebracht werden. Hier werden sie wie Verbrecher behandelt.«

Sie vertreten die jungen Männer als Anwalt. Wie geht es ihnen heute?

Es geht ihnen psychisch nicht gut, die Unsicherheit, in die das Gerichtsverfahren sie stürzt, ist zermürbend. Sie sind extrem gestresst und verstehen nicht, warum das so lange dauert. Sie haben gedacht, in Europa gäbe es schnell Gerechtigkeit. »Warum werden wir wie Verbrecher behandelt?«, fragen sie mich immer wieder. Die anderen Migrant*innen, die mit auf dem Schiff waren, nennen sie Helden. Ihrer Ansicht nach haben sie das einzig Vernünftige getan: nämlich geholfen, dass sie nicht in die Folterkeller Libyens zurückgebracht werden, sondern die Chance haben, in Europa einen Asylantrag zu stellen.

Was droht ihnen?

Lebenslange Haft. Verständlicherweise ist das eine irrsinnige Last auf ihren Schultern. Das sind noch halbe Kinder, um die es hier geht! Die Drei wurden im November vor zwei Jahren auf Bewährung aus der Haft entlassen, aber nun igeln sie sich ein, haben kaum Kontakte nach außen, treffen sich höchstens zu Dritt und sprechen immer wieder über das Verfahren. Wir versuchen gemeinsam mit Unterstützer*innen, sie individuell zu begleiten und beispielsweise auch Sportangebote für sie zu finden, damit sie eine Möglichkeit haben, sich abzulenken von dieser schrecklichen Situation.

Bild entfernt.

Homepage der Kampagne Free the Elhiblu Three Foto: Joanna Demarco / Amnesty International

Was sind das für Menschen, wovon träumen sie?

Der Älteste ist verheiratet und gerade Vater geworden. Er hat eine gute Arbeit, aber er hat Angst vor der Instabilität, die der Prozess für ihn und seine junge Familie bedeutet. Die beiden jüngeren Männer haben Gelegenheitsjobs, um ein bisschen Geld zu verdienen, aber eigentlich würden sie gerne studieren oder eine Ausbildung machen. Einer von ihnen nimmt gerade an einem Online-Trainingskurs zu IT-Sicherheit teil.

Ein internationales Bündnis, zu dem auch PRO ASYL gehört, fordert die sofortige Einstellung des Verfahrens gegen die »El Hiblu 3«. Ist das rechtlich denn möglich?

Die Staatsanwaltschaft entscheidet, welche Anklagepunkte letztlich zu einem Verfahren führen oder ob die Anklage ganz fallen gelassen wird. Es ist momentan nicht absehbar, in welche Richtung es geht. Wir hoffen, dass sie den Gesamtzusammenhang berücksichtigt und moralisches Urteilsvermögen an den Tag legt. Fest steht: Die Anklage ist völlig überzogen, die drei jungen Männer sind definitiv keine Piraten oder Terroristen!

»Was nützt es, wenn wir auf dem Papier ein schönes Asylsystem haben, aber die EU-Staaten den Zugang zu fairen Asylverfahren systematisch erschweren oder verhindern?«

Im griechischen Lesbos soll bald ein Prozess gegen die Syrerin Sarah Mardini und den Deutschen Seán Binder beginnen. Beiden drohen bis zu 25 Jahre Gefängnis, weil sie 2018 eine griechische Organisation dabei unterstützten, Menschen aus Seenot zu retten. Was hat dieser Fall mit den El Hiblu 3 gemeinsam?

In vielen Regionen Europas beobachten wir, dass die Regierungen gerichtlich gegen Geflüchtete und ihre Unterstützer*innen vorgehen – diese Kriminalisierung ist eine erschreckende Tendenz, die leider zunimmt. Für NGOs wird die Luft immer dünner, viele Hilfsorganisationen sehen sich restriktiven Gesetzen gegenüber, sie werden sanktioniert oder strafrechtlich verfolgt. Schutzsuchenden werden seit einigen Jahren immer mehr Hürden in den Weg gelegt, Europa zu erreichen. Das erleben wir ja gerade sehr eindrucksvoll an der polnischen Grenze. Was nützt es, wenn wir auf dem Papier ein schönes Asylsystem haben, aber die EU-Staaten den Zugang zu fairen Asylverfahren systematisch erschweren oder verhindern? Genau das passiert: Überall zieht Europa Mauern hoch, und für Geflüchtete ist es fast unmöglich geworden, überhaupt ins Asylverfahren zu gelangen.

»Anstatt Menschen im Mittelmeer ertrinken oder an der Ostgrenze erfrieren zu lassen, braucht es endlich mehr legale Zugangswege.«

Lassen sich Schutzsuchende und Flüchtlingsaktivist*innen Ihrer Erfahrung nach einschüchtern von derartigen Verfahren?

Wir beobachten viel Mut seitens der Hilfsorganisationen und Aktivist*innen. Trotz der politischen Abschreckungsversuche sind da draußen im Mittelmeer noch immer private Seenotretter*innen unterwegs. Es gibt nach wie vor Europäer*innen, die Geflüchtete rechtlich beraten, sie medizinisch versorgen oder sie begleiten und informieren. Aber irgendwann ist man als Einzelne*r schon eingeschüchtert. Niemand will mit Strafen belegt werden, niemand will ins Gefängnis gehen, alle machen sich Gedanken um ihre Familien, die das ebenfalls betrifft. Manche Leute überlegen es sich unter diesen Umständen sicher zwei Mal, ob sie sich wirklich für Schutzsuchende einsetzen sollen.

Und Schutzsuchende, lassen sie sich abschrecken?

Solange es Kriege gibt, werden Menschen ihre Heimat verlassen auf der Suche nach einem besseren Leben. Solange es unfaire Wirtschafts- und Handelssysteme gibt, werden Menschen auswandern. Niemand wird sie davon abhalten können – egal wie viele Mauern wir hochziehen und wie viele Stacheldrahtzäune wir bauen. Europa ist das Versprechen auf ein besseres Leben. Anstatt Menschen im Mittelmeer ertrinken oder an der Ostgrenze erfrieren zu lassen, braucht es endlich mehr legale Zugangswege.

In Griechenland ist »Menschenschmuggel« der zweithäufigste Inhaftierungsgrund. Im Gefängnis landen Geflüchtete, die sich irgendwie hervorgetan haben, indem sie etwa ein Schlauchboot gesteuert haben. Gelingt der Versuch der Politik, mithilfe absurder Gerichtsverfahren die Menschenrechte auszuhebeln, oder hält die Justiz stand?

Es gibt einige Fälle und Gerichtsurteile, die mich optimistisch stimmen, mutige Richter*innen, die sich mit ihren Urteilen gegen den Versuch politischer Vereinnahmung wehren und gegen das Bestreben, Geflüchtete und ihre Unterstützer*innen zu kriminalisieren. Ich denke da beispielsweise an das Urteil von Italiens oberstem Gericht, das die Freilassung der deutschen Kapitänin Carola Rackete bestätigte, oder auch an das jüngste Urteil, bei dem ein Gericht in Neapel den Kapitän eines Handelsschiffes zu einer Haftstrafe verurteilte, weil er Geflohene nach Libyen zurückbrachte. Ich hoffe, dass sich unsere Staatsanwaltschaft in Malta im El Hiblu-Fall ein Beispiel daran nehmen wird.

Haben Sie den Eindruck, dass die Europäer*innen begreifen, um was es hier geht – um die Aushöhlung des Rechtsstaats, wesentliches Fundament der EU und unserer Demokratien?

 

Manche schon – aber wir befinden uns in einem Informationskrieg. Es ist eine moralische und rechtliche Pflicht, Menschen in Not zu retten, aber der Migrationsdiskurs ist in den vergangenen zehn Jahren zunehmend aggressiver geworden. Europa bewegt sich rückwärts: Eine Welle von Nationalismus hat die EU erfasst, die einhergeht mit populistischer Rhetorik. Wir bewegen uns immer weiter weg von der dringend nötigen Solidarität. Das spiegelt sich auch in der medialen und öffentlichen Debatte wider, in der häufig von Geflüchteten als Gefahr gesprochen wird. Umso wichtiger ist es, die Menschen mit Fakten aufzuklären und zudem die menschlichen Tragödien zu erzählen, die sich hinter den Fluchtgeschichten verbergen. Aber es ist ein schwieriger Informationskrieg, den wir hier ausfechten. Denn wir Menschenrechtler*innen sind mit unseren Informationskampagnen nicht so gut aufgestellt wie die Regierungen.

(er)

Dr. Neil Falzon vertritt als Rechtsanwalt die drei Angeklagten. Er ist Gründer und Direktor von »aditus foundation«, einer NGO in Malta, lehrt als Dozent für Menschenrechtsfragen an der Universität von Malta und koordiniert die Plattform der Menschenrechtsorganisationen des Landes (PHROM). Zuvor leitete er das Malteser Büro des UNHCR.