20.05.2023 Gestern veröffentlichte die unabhängige Plattform FRAG DEN STAAT ihre Recherchen bezüglich der in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannten Organisation ICMPD, in ohne öffentliche Kontrolle weitreichende Wirkung auf das Geschehen um Flucht und Migration hat.
"Unsere Recherchen führen an die EU-Außengrenzen im Westbalkan und nach Nordafrika, es geht um Trainingslager, Schnellboot-Training und „Leichen-Management“ und eine Rolle bei all dem spielen nicht nur Ministerien und Regierungen, sondern auch die deutsche Bundespolizei, ein ehemaliger österreichischer Vizekanzler und der mittlerweile international gesuchte Wirtschaftskriminelle Jan Marsalek."
International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) Die Migrations-Manager
Wie eine kaum bekannte Organisation fernab von öffentlicher Kontrolle Europas Migrationspolitik mitgestaltet.
„Making Migration Better“ – das verspricht das International Centre for Migration Policy Development, kurz ICMPD, seinen Mitgliedern. ICMPD berät Staaten im Hintergrund, schafft internationale Vernetzungen und wird auch selbst in Grenzregionen der EU aktiv. ICMPD ist eine Organisation, die nur wenige kennen, die aber zugleich ein wichtiger Player der EU-Migrationspolitik geworden ist.
Gemeinsam mit einem Team aus internationalen Journalist:innen haben wir recherchiert, was genau ICMPD macht. Wir haben zahlreiche Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz gestellt, hunderte Dokumente erhalten und diese ausgewertet. Wir konnten aber auch interne Dokumente des ICMPD einsehen, von denen wir einzelne nach eingehender Prüfung und sorgfältiger Abwägung ebenfalls veröffentlichen. Unsere Ergebnisse haben wir vorab mit dem ZDF Magazin Royale und der österreichischen Tageszeitung DerStandard geteilt und gemeinsam Beiträge koordiniert.
Unsere Recherchen führen an die EU-Außengrenzen im Westbalkan und nach Nordafrika, es geht um Trainingslager, Schnellboot-Training und „Leichen-Management“ und eine Rolle bei all dem spielen nicht nur Ministerien und Regierungen, sondern auch die deutsche Bundespolizei, ein ehemaliger österreichischer Vizekanzler und der mittlerweile international gesuchte Wirtschaftskriminelle Jan Marsalek.
Unsere Recherchen zeigen:
- Als Internationale Organisation unterliegt ICMPD kaum Transparenzpflichten. So kann ICMPD einen Raum schaffen, in dem Mitgliedstaaten wie Deutschland abseits der Öffentlichkeit die Migrationspolitik besprechen können.
- ICMPD beeinflusst direkt und indirekt die europäische Migrationspolitik. Asylrechtsverschärfungen, die von Politiker:innen öffentlich vorgeschlagen werden, wurden teils vorher in informellen Treffen ausgearbeitet oder in Dokumenten von ICMPD skizziert.
- ICMPD unterstützt direkt und indirekt die Küstenwachen in Libyen, Marokko und Tunesien – Behörden, denen massive Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Damit hilft ICMPD dabei, die EU-Außengrenze nach Nordafrika zu verschieben. Derzeit diskutiert die EU im Rahmen der Asylsystem-Reform auch Grenzverfahren an den EU-Außengrenzen.
- ICMPD entwickelte Ideen für ein dubioses Asyl-Projekt in Deutschland mit. Involviert war dabei auch der mittlerweile untergetauchte Wirtschaftskriminelle Jan Marsalek.
ICMPD wurde 1993 gegründet. Die Organisation sollte es möglich machen, sich transnational zu Migrationspolitik auszutauschen. Der Fokus lag damals durch den Jugoslawienkrieg vor allem auf dem Balkan – das hat sich jedoch mit einem Wechsel an der Spitze der Organisation zwei Jahrzehnte später verändert.
Seit 2016 ist Michael Spindelegger der Generaldirektor des ICMPD. Er ist ehemaliger österreichischer Vizekanzler, Ex-ÖVP-Generalsekretär und der politische Ziehvater von Österreichs ehemaligen Kanzler Sebastian Kurz. Zu seinem Antritt bei ICMPD sagte Spindelegger in einem Interview: „Ich will der Organisation mehr politisches Gewicht und Visibilität verleihen.“
Seit Spindeleggers Antritt haben sich die Projekte, das Personal sowie das Jahresbudget des ICMPD stetig vergrößert. Lag das Budget im Jahr 2015 noch bei 16,8 Millionen Euro, war es 2022 bereits bei 74,5 Millionen. 56 Prozent des Gelds bekam das ICMPD 2022 von der EU Kommission. Der Rest stammte von EU-Mitgliedstaaten, Transitländern sowie Herkunftsländern – den Mitgliedern des ICMPD.
Technokratische Begriffe, die das wahre Wesen verschleiern
Selbst beschreibt das ICMPD sein Hauptgeschäft als ein Drei-Säulen-Modell des „Migrationsmanagement“: Forschung, Dialog und Kapazitätsaufbau. Die Organisation verfasst Studien zur Migration, bringt Staaten für Verhandlungen an einen Tisch und setzt dann teilweise um, was von Regierungen beschlossen wurde. Doch was in der Theorie banal klingt, hat in der Praxis weitreichende Folgen.
„Ich denke, dass der Begriff Migrationsmanagement vielen gefällt, weil er das Thema Migration eher zu einer technokratischen Angelegenheit macht“, erklärt Jeff Crisp. Er war hochrangiger Mitarbeiter des Flüchtlingskommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) und ist Experte im Bereich Migration. Der Begriff Migrationsmanagement sei, laut Crisp, bei Regierungen und Organisationen so beliebt, weil er das wahre Wesen ihrer Maßnahmen verschleiere und man nicht offen über Beschränkung und Abschreckung sprechen müsse.
Wie ICMPD-Chef Spindelegger sich erfolgreiches Migrationsmanagement unter ICMPD vorstellt, beschrieb er im Jahr 2020 in mehreren Interviews. EU-Staaten sollten mehr Partnerschaften mit Herkunftsländern für eine „effizientere Rückführungspolitik“ eingehen, also mehr Menschen abschieben. Asylanträge sollten in wenigen Tagen grenznah abgewickelt werden, was von Menschenrechtsorganisationen kritisiert wird, da diese Zeit für ein faires Verfahren gemäß der Menschenrechtskonvention nicht ausreiche. Ebenso plädierte der ICMPD-Chef dafür, dass man Migrant:innen in den Herkunftsländern nach Bedürfnissen von Unternehmen in den Zielländern auswählen sollte.
Es sind Ideen, die zahlreich von Menschenrechtsaktivist:innen und -jurist:innen kritisiert wurden, jedoch in die politische Linie vieler europäischer Regierungen passen – vor allem mit Blick auf die aktuelle Debatte um eine Reform des EU-Asylsystems.
Anfang 2023 sind Abschiebungen und die Zusammenarbeit mit Drittstaaten nun öffentlich das Dogma der EU-Migrationspolitik. In Deutschland kam die Ampel-Koalition nach einem Gipfel zu Ergebnissen, die entgegen der Koalitionsvereinbarungen stehen: Sie wollen mehr Abschiebungen, Asylverfahren an den EU-Außengrenzen, Abkommen mit Drittstaaten, wie ein Dokument zeigt, das wir kürzlich veröffentlicht haben. Um mehr Abschiebungen durchzusetzen, hat Deutschland mittlerweile seit Anfang des Jahres einen eigenen Sonderbeauftragten.
Diskutiert wurde diese strategische Ausrichtung bereits länger, jedoch in einem informellen Rahmen: bei Verhandlungsrunden, Veranstaltungen und Kongressen, wie sie ICMPD organisiert. Nur dringt davon bisher wenig nach außen, weil ICMPD kaum Transparenzpflichten hat.
Hinterzimmer-Gespräche und rassistische Kommentare
Rechtlich ist ICMPD eine „Internationale Organisation“ – ein zwischenstaatlicher Zusammenschluss, um eine überstaatliche Aufgabe zu erfüllen. Es ist der gleiche Status, den beispielsweise auch die Organisation ölexportierender Länder (OPEC) hat. Als Internationale Organisation zahlt ICMPD keine Steuern, kann nur schwer vor Gericht belangt werden und ist keinem Parlament zu einer Auskunft verpflichtet.
Diesen Sonderstatus scheinen vor allem EU-Staaten zu begrüßen, deren Migrationspolitik besonders umstritten ist. So sagte der damalige stellvertretende Migrationsminister Griechenlands laut Protokoll bei einem Treffen mit Spindelegger im Juli 2020: „Das ICMPD kann ein flexibles und informelles Forum (für Diskussionen) ohne den Druck der Medien bieten; ein Forum zur Lösung von Problemen“. Eine Lösung, die Griechenlands Migrationsminister damals womöglich diskutieren wollte, war ein stark kritisiertes Asylgesetz. Der damalige Plan: Abgelehnte Asylsuchende sollten pauschal inhaftiert werden.
Im informellen Rahmen, den ICMPD bietet, scheinen sich manche zu trauen, das zu formulieren, was öffentlich vermutlich stark kritisiert würde. Ein Vertreter des niederländischen Justiz- und Sicherheitsministerium äußerte bei einem informellen Austausch mit Vertreter:innen von EU-Staaten und EU-Institutionen im Mai 2020 zum Thema „Der Schutz der menschlichen und öffentlichen Sicherheit in der neuen Migrationsagenda“: Das Migrationsabkommen sei nicht das Problem, sondern die europäische Menschenrechtskonvention. Das Recht, Asyl zu beantragen, mache Migrationsmanagement sehr schwierig.
Einblicke in das Innere von ICMPD liefert ein interner Diversitätsbericht von 2019, den wir einsehen konnten. Die Hälfte der Befragten sei der Meinung, dass nicht alle Mitarbeitenden die gleichen Chancen hätten. Mehr als jeder Dritte gab an, im Rahmen seiner Arbeit bei ICMPD diskriminiert oder belästigt worden zu sein. Ebenso würden Mitarbeitende rassistische und diskriminierende Kommentare über Menschen aus Regionen machen, in denen ICMPD arbeitet – vor allem vom afrikanischen Kontinent.
Auf Nachfrage sagte ICMPD, dass seit dieser Auswertung „interne Schritte“ gesetzt worden seien.
Externalisierung der EU-Außengrenzen
2015 wurde von der EU der Trust Fund for Africa mit einem Fördervolumen von fünf Milliarden Euro aufgesetzt. Es war eine indirekte Reaktion darauf, dass vermehrt Migrant:innen nach Europa kamen. Seither fließen EU-Gelder unter anderem zum technologischen wie personellen Ausbau an die Grenzinstitutionen nordafrikanischer Staaten – und ICMPD hilft dabei.
Wie das genau aussieht, zeigt sich bei einem Treffen im Januar 2019 zwischen Spindelegger und der EU-Kommission. Das Protokoll dokumentiert, dass ein Abkommen mit Marokko für die Unterstützung der Grenzkontrolle durch das ICMPD abgeschlossen wurde. Eine vorangegangene Recherche zeigt, dass die EU im Zuge dieses Projektes Überwachungstechnologien an Marokko geliefert hat, die den Zugriff auf sichergestellte Telefone ermöglicht. Laut einer ehemaligen ICMPD-Mitarbeiterin gebe es keine Mechanismen, um zu verhindern, dass diese Technik zum Ausspionieren von Oppositionellen und Journalist:innen missbraucht wird.
Außerdem ging es bei dem Treffen zwischen ICMPD und der EU-Kommission um die Verbesserung der Grenzsicherung durch „Training und technische Hilfe“ in Libyen. Die EU betonte, dass die Beteiligung von ICMPD „entscheidend“ sei, um dies schnell voran zu treiben. Ein Kernelement dieses Vorhabens ist ein sogenanntes „White Paper“, ein Strategiepapier, das die politische Richtung und die nächsten Schritte vorgibt.
Seit mehreren Jahren berichten Journalist:innen und Menschenrechtsorganisationen darüber, wie Migrant:innen am zentralen Mittelmeer systematisch zurückgedrängt werden und welche unmenschlichen Haftbedingungen sie in Libyen erwarten. Dass die EU sowie einige Mitgliedstaaten Libyen unterstützen, ist dabei ebenso Thema. Welche Mittlerrolle ICMPD bei der Ausarbeitung dieser Strategie hatte, war jedoch bisher kaum bekannt.
Nur wenige Monate nachdem die EU die Bedeutung von ICMPD in diesem Prozess hervorgehoben hatte, trafen sich im Juni 2019 Vertrete:innen von EU, UN, Libyen, Frankreich, Italien und ICMPD in Tunis. Es war der erste Termin zur Ausarbeitung eines Strategiepapiers für ein „vollwertiges Grenzsicherungssystem“, des White Papers.
Trainings und Koordination mit der sogenannten libyschen Küstenwache
Wir hatten das White Paper unter Berufung auf das Informationsfreiheitsgesetz bei der EU-Kommission angefragt, jedoch wurde die Herausgabe verweigert. Würde das Dokument öffentlich werden, wäre die Beziehung zwischen der EU und Libyen gefährdet, lautete die Begründung. Uns liegt das Dokument dennoch vor und wir veröffentlichen es nach eingehender Prüfung. Es handelt sich um eine Version aus dem Dezember 2019, die als final bezeichnet wird.
In dem Dokument wird begründet, warum die Ausarbeitung eines solchen Strategiepapiers notwendig sei: Libyen müsse seine Strukturen reformieren, um wieder die volle Kontrolle über seine Grenzen ausüben zu können. Das Land stehe vor „immensen Herausforderungen“ durch „Migrant:innen, die Libyen größtenteils als Transitstrecke nach Europa nutzen wollen“. Migration habe die „instabile politische Lage weiter verschlimmert“ und sei eine Bedrohung für die Sicherheit von Libyens Bürger:innen, Gesellschaft, Institutionen und dem Staat insgesamt.
Was unter anderem mit Beteiligung von ICMPD daraus folgen sollte, zeigt ein Dokument der EU von 2021: für die sogenannte libysche Küstenwache soll ein Ausbildungszentrum eingerichtet werden. Außerdem sollen Mechanismen etabliert werden, um die Kooperation zwischen Libyen, der EU und Nachbarländern zu stärken – für das Ausbildungszentrum, aber auch die libysche Seenotrettungskoordinationsstelle.
Menschenrechtsorganisationen nennen dieses Vorgehen die „Externalisierung der EU-Außengrenzen“, also die Auslagerung von Aufgaben im Grenzschutz und Migrationsmanagement an Drittstaaten. Die Kooperation mit der libyschen Seenotrettungskoordinationsstelle führe zudem zu mehr „Pull-Backs“. Das bedeutet, flüchtende Menschen werden von Drittstaaten mit Unterstützung der EU davon abgehalten, überhaupt in die europäische Zuständigkeit gelangen und somit unter europäisches Recht zu fallen.
„Die Unterstützung der libyschen Küstenwache durch die EU in Form von Pull-Backs, Push-Backs und Abfangaktionen führte zu Verletzungen bestimmter Menschenrechte“, sagte Chaloka Beyani Ende März 2023 bei einer Pressekonferenz. Er war Mitglied der Fact-Finding Mission in Libyen des UN-Menschenrechtsrats, die in diesem Zuge ihren Bericht veröffentlichte.
„Man kann die Menschen nicht in Gebiete zurückdrängen, die unsicher sind, und die libyschen Gewässer sind für die Einschiffung von Migranten unsicher“, so Beyani weiter. Die EU und ihre Mitgliedstaaten seien nicht verantwortlich für Kriegsverbrechen, aber „die gewährte Unterstützung hat die Begehung der Straftaten begünstigt und gefördert“.
Hass gegen Migrant:innen
Nicht nur in Libyen ist ICMPD aktiv, auch in Tunesien – und seit 2019 in einem weitaus größeren Stil.
Im selben Jahr wählte Tunesien einen neuen Präsidenten, der mittlerweile nicht nur das staatliche System in Richtung Diktatur treibt, sondern auch eine Atmosphäre des Hasses gegenüber Migrant:innen schafft. Ende Februar 2023 forderte er die tunesischen Sicherheitskräfte auf, dringend Maßnahmen gegen Migrant:innen zu ergreifen.
Wie das genau aussieht, erzählt Romdhane Ben Amor, Sprecher des Tunisian Forum for Social and Economic Rights: „Es gibt einen politischen Druck auf die Küstenwache, die Menschen an der Ausreise zu hindern, egal wie hoch der Preis ist, egal wie hoch der Schaden ist. So hat die Gewalt begonnen, und die Küstenwache ist für einen Großteil verantwortlich.“
Zunehmend häufen sich Berichte über Menschenrechtsverletzungen durch die tunesische Küstenwache. Die Initiative Alarmphone berichtet, dass die tunesische Küstenwache Migrant:innen mit Stöcken schlage, von ihnen Geld für die Rettung fordere und sogar die Motoren der Boote stehle.
Es sind diese Sicherheitskräfte, die von ICMPD mit Unterstützung der EU, Deutschland, Österreich und Dänemark weiterhin unterstützt und trainiert werden. Tatsächlich wird diese Zusammenarbeit sogar weiter ausgebaut, wie EU-Kommissarin Ylva Johansson bei einem Treffen in Tunis Ende April 2023 noch einmal bekräftigte.
Auf Nachfrage sagt ICMPD dazu, dass sie über die Gewalt, die von der tunesischen Küstenwache ausgehe, nur über Medien erfahren habe und dies deshalb nicht weiter kommentieren könne.
Tatkräftige Unterstützung der Bundespolizei
Zur Unterstützung der tunesischen Küstenwache durch die EU wurde 2019 ein Dossier ausgearbeitet – gemeinsam mit ICMPD. Es seien „bevorzugte Optionen im Einklang mit der nationalen Vision“ identifiziert worden, sowie „Anträge auf Ausrüstung und Maßnahmen zum Kapazitätsaufbau“ gestellt worden. Tunesien sollte Unterwasserdrohnen, Radar und sogar ein eigenes IT-System, das „Integrated System for Maritime Surveillance“, kurz ISMariS, erhalten.
Deutschland wurden die Pläne für Tunesien bei einem Treffen im Januar 2020 zwischen der Bundespolizei und ICMPD mit einer Präsentation vorgestellt. Das offizielle Ziel: „Migration und Mobilität von Menschen geordnet, sicher und regulär gestalten“. Dafür sollten die Küstenwachen nordafrikanischer Staaten trainiert und mit Equipment aufgerüstet werden. In Tunesien werden dafür zwei Trainingszentren gebaut, eines im Süden, eines im Norden des Landes. Das nördliche Zentrum wird finanziert von Deutschland.
Wie Deutschland die tunesische Küstenwache weiter unterstützt, zeigt das Protokoll eines Treffens im Januar 2022. Daraus geht hervor: Die Deutsche Bundespolizei hat offenbar die tunesische Maritime National Guard (MNG) mit 12 Speedbooten ausgestattet. Ebenso sei die Bundespolizei in „SAR-bezogene Schulungen“ involviert. In einer Mail im Nachgang des Treffens warb ein Vertreter der Bundespolizei noch einmal dafür, dass Tunesiens Flotte durch „Unterstützung der Geberländer“ weiter ausgebaut werden solle. Für die darauffolgenden Jahre schlug er „Bootsfahrtrainings für Schnelle Kontrollboote“ vor sowie eine „Modernisierung der Bootsflotte“.
Wir konnten nicht detailliert herausfinden, wie der Lehrplan aussieht, nach dem ICMPD, die Bundespolizei und andere Behörden von EU-Mitgliedstaaten die tunesische Küstenwache weiterbilden. Einen Einblick zu den Themenfeldern bieten aber die Protokolle verschiedener Treffen. Demnach organisierten beispielsweise die französischen Sicherheitsbehörden ein Training zum „Management“ von Leichen auf See.
Die Bundespolizei bestätigte auf Nachfrage, dass sie die tunesische Küstenwache mit „Fortbildungs-, Beratungs- und Beschaffungsleistungen“ unterstützt. Mit Blick auf Kritik zu ihrem Engagement in Tunesien verwies die Bundespolizei darauf, dass Tunesien auf der Website des UNHCR als „sicherer Hafen“ bezeichnet werde. Inzwischen findet sich diese Beschreibung allerdings nicht mehr auf den Seiten des UNHCR.
Mehr Abschiebungen durch „Migrationsdiplomatie“
Nicht nur auf dem afrikanischen Kontinent, auch entlang der sogenannten Balkanroute ist ICMPD sehr aktiv.
Im Juli 2020 fand in Wien das „Salzburg Forum“ statt; ein Treffen von 18 EU-Innenminister:innen, EU-Kommissar:innen, EU-Agenturen wie Frontex und ICMPD. Das Ergebnis war unter anderem die Gründung der „Koordinationsplattform zur Bekämpfung der illegalen Migration entlang der östlichen Mittelmeerrouten“. Den Vorsitz der Plattform übernahm der ehemalige Vizedirektor von Frontex Berndt Körner.
Warum es eine solche Plattform braucht, führte ICMPD in einer Mail und in Vorbereitungsunterlagen für ein Folgetreffen im Februar 2021 aus. „Irreguläre Wirtschaftsmigration“ sei ein geteiltes Problem. Deshalb müsse man die Kapazitäten für schnelle Verfahren, schnelle Rückführungen und für eine Koordinierung bei Grenzschließungen schaffen.
ICMPD werde dabei nicht nur mit Ausbildungen und Kapazitätsbildung unterstützen, sondern auch „die Einführung eines regionalen Rückführungsmechanismus“ mit vorantreiben – gemeint sind Abschiebungen. Durch „Migrationsdiplomatie“ würden sie die Aushandlung von Abkommen mit Drittstaaten unterstützen.
Erfahrungen bei der Unterstützung von Abschiebungen hat ICMPD bereits in der Türkei gesammelt. Unter dem Projektkürzel FRMON sollten in den Jahren 2021 und 2022, die „Kapazitäten für die Durchführung von Rückführungsaktionen in der Türkei“ gestärkt werden. Laut Human Rights Watch stieg die Zahl der Abschiebungen von der Türkei nach Afghanistan in dieser Zeit um 150 Prozent. Zeitgleich hatten viele andere Staaten aufgrund der humanitären Situation nach Machtübernahme der Taliban Abschiebungen nach Afghanistan ausgesetzt.
Mehr Geld für Migrationsmanagement
Wer versucht, über die sogenannte Westbalkanroute in die EU zu gelangen, kommt oftmals von Bosnien-Herzegowina und will nach Kroatien. Journalist:innen und Aktivist:innen haben in den vergangenen Jahren dokumentiert, wie kroatische Grenzbeamt:innen Migrant:innen mit Schlagstöcken zurückdrängen und somit verhindern, dass sie einen Asylantrag in einem EU-Land stellen können.
Die Westbalkanstaaten, in denen viele der Migrant:innen stranden, sind deshalb für die EU von großer Bedeutung. Seit 2022 ist Bosnien-Herzegowina offizieller Beitrittskandidat der EU und muss deshalb gewisse Auflagen erfüllen. Dafür wurde schon Jahre zuvor ein sogenannter IPA-Fund eingerichtet. Ein Teil dieses Gelds geht in „Migrations- und Grenz- Management“.
Was das genau bedeutet, zeigen Dokumente aus Treffen zwischen ICMPD und bosnischen Behörden, die uns vorliegen und die wir nach eingehender Prüfung veröffentlichen.
Im Januar 2021, kurz vor dem zweiten Treffen der Koordinationsplattform, telefonierte Spindelegger für ICMPD mit dem damaligen bosnisch-herzegowischen Sicherheitsminister Selmo Cikotić. Das Telefonat sei laut dem Protokoll von ICMPD initiiert worden. Uns liegen die Vorbereitungsunterlagen vor.
ICMPD kritisierte darin, dass EU-Fördergelder primär „für die Bewältigung der Migrationskrise vor allem für humanitäre Bedürfnisse bereitgestellt“ werden würden. 90 Prozent des Budgets seien für „Grundbedürfnisse von Migranten“ verwendet worden, nur 10 Prozent für das „Migrationsmanagement“. Daher müssten laut ICMPD die Ressourcen der Migrationsbehörden in Bosnien und Herzegowina gestärkt werden.Für ein gutes „Migrationsmanagement“ werde ICMPD Equipment, Training sowie Personal zur Verfügung stellen.
Bei diesem Gespräch ist auch das Lager Lipa Thema, über dessen Hafteinheit („detention centre“) in den Wochen zuvor mehrmals berichtet worden war. Der Sicherheitsminister sei erfreut, dass ICMPD einen „Projektvorschlag“ in Bezug auf Lipa geschickt habe.
500.000 Euro waren von der EU-Kommission an ICMPD für den Bau der Hafteinheit gezahlt worden. In Auftrag gegeben wurde laut Unterlagen der Bau von „Einrichtungen für die vorübergehende Inhaftierung für Migranten im Mehrzweck-Aufnahmezentrum Lipa im Einklang mit europäischen und internationalen Standards.“. Auf Nachfrage beantwortete ICMPD nicht, was unter diesem Begriff zu verstehen ist. Die Hafteinheit werde gebaut, zur „Unterstützung der Behörden von Bosnien und Herzegowina beim weiteren Ausbau und der Umsetzung von Kapazitäten im Bereich der Rückkehr, um die irreguläre Migration zu bekämpfen“.
Wir veröffentlichen den „Projektplan“, der von ICMPD mit der EU ausgearbeitet wurde.
Wiederaufleben eines Rückübernahme-Abkommens
Ein weiterer Punkt, der im Gespräch von ICMPD und Bosniens Minister angesprochen wurde, ist eine „Erleichterung des Dialogs zwischen Bosnien und Herzegowina und Kroatien und Slowenien in Bezug auf die Rückübernahme und die Verhinderung von Push-Backs“. Zwischen Bosnien und Kroatien gibt es zwar bereits seit 2012 ein sogenanntes „Rückübernahme“-Abkommen. Das ermöglicht es, einem Staat Migrant:innen in ein anderes Land zurückzusenden. Bisher wurde dieses Abkommen jedoch nicht umgesetzt– auch war Kroatien zum Zeitpunkt des Abkommens noch nicht Mitglied der EU.
Die Organisation „Border Violence Monitoring Network“ berichtet, dass Migrant:innen, die über Bosnien-Herzogowina nach Kroatien gelangen, dort aufgegriffen, eingesperrt und gezwungen werden ein Dokument in kroatischer Sprache zu unterschreiben, mit dem sie sich einverstanden erklären, nach Bosnien zurückgeschickt zu werden. Möglich gemacht werde dies laut einem Gespräch mit Vertreter:innen von des Netzwerks und einem Bericht von Human Rights Watch durch das Aufleben des Rückübernahme-Abkommen – jener Dialog, den ICMPD vorantreiben wollte.
Ein dubioses Karten-Projekt
Noch bevor Deutschland Mitglied von ICMPD wurde, hatte sich die Organisation etwas ganz Besonderes für das deutsche „Migrationsmanagement“ überlegt. Mit von der Partie war auch der mittlerweile international gesuchte Wirtschaftskriminelle Jan Marsalek, ehemaliges Vorstandsmitglied des inzwischen insolventen Finanzdienstleister Wirecard. Der Plan: eine „Digitale Flüchtlingskarte“. Asylbewerber:innen sollten kein Bargeld mehr erhalten, sondern alle finanziellen Unterstützungen nur digital auf eine Karte ausgezahlt bekommen.
Diese Karte sollte laut der Projektbeschreibung, die wir jetzt veröffentlichen, nicht nur zum Bezahlen dienen können. Die „Nutzbarkeit gewisser Funktionen, beispielsweise der Zahlungsverkehr“ sollte auf „bestimmte Geografien“ und „Einsatzszenarien“ beschränkt sein. Behörden sollten also dafür sorgen können, dass Asylbewerber:innen nur in bestimmten Orten einkaufen können. Ebenso könne die Karte laut Planungen „dahingehend erweitert werden, dass die Möglichkeit des direkten Abrufs von Karteninhaber-Daten mit behördlichen/polizeilichen Terminals/Equipment besteht“.
Das Projekt sollte sich laut Dokumenten, die wir über eine Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz beim Bundesinnenministerium erhalten haben, nicht nur auf Bayern beschränken. Der bayerische Staatsminister des Inneren Joachim Herrmann schrieb in einem Brief an den damaligen Bundesinnenminister Horst Seehofer im Oktober 2020, er plane, „dieses neue Bezahlsystem in Kooperation mit Prof. Dr. Spindelegger und der ICMPD zu implementieren“. Es könne „als Vorbildfunktion für ähnliche Projekte in Europa dienen“. Seehofer bezeichnete das Projekt in seiner Antwort als „Leuchtturmprojekt“.
„Würde ein deutscher Politiker vorschlagen, einen Personalausweis einzuführen, der zugleich eine Bankkarte ist, mit der alle Deutschen ihre Einkäufe bezahlen, und der dann von allen Behörden inklusive der Polizei ausgelesen werden könnte, wäre eins sicher: Er wäre innerhalb von Stunden seinen Job los“, sagt Matthias Spielkamp von AlgorithmWatch. „Dass Seehofer und andere es aber als Leuchtturmprojekt bezeichnen, Schutzsuchende zu zwingen, eine solche Karte zu verwenden, zeigt überdeutlich ihre Verachtung für die Menschenrechte derjenigen, die Schutz am dringendsten brauchen.“
Was in den Mails von Herrmann und Seehofer nicht erwähnt wird, ist, wer ursprünglich für die Ausführung des Projektes neben ICMPD gedacht war. Die Projektbeschreibung war der Anhang einer Mail vom November 2019 zur Vorbereitung eines Treffens zwischen Staatssekretär:innen aus Bayern und Brandenburg, einem CDU-Politiker, ICMPD-Chef Michael Spindelegger und Jan Marsalek, damals noch CFO von Wirecard. Eine weitere Mail, die wir veröffentlichen, zeigt, dass Marsalek bereits im Juli 2019 ein Gespräch mit einem Unternehmen zur Idee einer Digitalen Flüchtlingskarte geführt und womöglich die Idee mit entwickelt hatte.
Wie der Bericht aus dem Untersuchungsausschuss zu Wirecard zeigt, hatte Marsalek in Bezug auf Migrant:innen eine ganz eigene Vorstellung. Er wollte eine „Grenzschutztruppe aus 15.000 bis 20.000 Milizionären“ bezahlen, um Menschen, die über Libyen und das zentrale Mittelmeer versuchen, nach Europa zu kommen, bereits an der südlichen Grenze Libyens zu stoppen.
Wirecard ist mittlerweile insolvent und gilt als der größte Finanzskandal Deutschlands. Das Projekt „Digitale Flüchtlingskarte“ ist jedoch nicht vollständig auf Eis gelegt. In Bayern wurden inzwischen die rechtlichen Rahmenbedingungen für das Vorhaben angepasst. In einer E-Mail aus dem bayerischen Staatsministerium an das Bundesinnenministerium im März 2021 steht, dass ein „privatwirtschaftlicher Zahlungsdienstleister“ die Karten zur Verfügung stellen werde. Eine „Einbindung von NGOs“ sei dabei nicht vorgesehen.
Auf eine Presseanfrage antwortete das Staatsministerium, man sei aktuell auf der Suche nach einem ausführenden Unternehmen.
→ Hier geht es zu allen ICMPD-Dokumenten
→ Berichterstattung im ZDF Magazin Royale
→ Berichterstattung im „DerStandard“
Wir haben mehrere Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz gestellt, unter anderem bei der EU-Kommission, dem Bundesinnenministerium und dem Auswärtigen Amt. Alle Dokumente, die wir erhalten haben, veröffentlichen wir vollständig.
EU-Kommission
Wir haben Anfragen zu Dokumenten zur Kommunikation, Verträgen und Meetings mit ICMPD gestellt und zahlreiche Dokumente erhalten, die wir veröffentlichen.
- Halbjährlich trifft sich ICMPD mit Vertreter:innen der EU-Kommission. Wir veröffentlichen die Protokolle und Mails zu diesen Treffen.
- Wie veröffentlichen die Verträge sowie Kommunikation zu Projekten des ICMPD, die von der EU-Kommission finanziert werden.
Bundesinnenministerium:
Auf unsere Anfrage zu ICMPD hat das Ministerium geantwortet, dass diese zu umfangreich sei. Lediglich zur Bezahlkarte für Asylwerber:innen haben wir eine Auskunft erhalten.
Auswärtiges Amt:
Wir haben zwei Anfragen gestellt. Bei einer hatte das Auswärtige Amt die Herausgabe verweigert, die andere wurde noch nicht beantwortet.
Wir veröffentlichen zudem einige weitere Dokumente, die uns unabhängig von den nach dem Informationsfreiheitsgesetz gestellten Anfragen vorliegen. Die Echtheit der Dokumente haben wir mit unterschiedlichen Methoden geprüft: Wir haben unter anderem bei Beteiligten nachgefragt, öffentliche Informationen mit den Inhalten überprüft sowie mit anderen Dokumenten, die uns zur Verfügung standen, abgeglichen. Personenbezogene Daten haben wir - mit wenigen Ausnahmen - geschwärzt.
Diese Recherche wurde unterstützt durch ein Stipendium des „Investigative Journalism for Europe (IJ4EU)“.
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