Erklärung "sicherer Drittstaaten" gefährdet den Flüchtlingsschutz

11.03.2023 Wir zitieren die News von Pro Asyl:

Das Ende vom Flüchtlingsschutz in Europa? Die Gefahr von »sicheren Drittstaaten«

Mauern überall: Nicht nur in Europa, sondern auch in der vermeintlich sicheren Türkei. Im Foto auf der Seite von Pro Asyl die neue Grenzbefestigung in Richtung Iran.

10.03.2023 Das, wovon u.a. Jens Spahn bei »Hart aber Fair« träumt, ist für viele Schutzsuchende in Griechenland schon bittere Realität: Ihr Asylantrag wird abgelehnt, weil die Türkei für sie sicher sei – obwohl diese ihnen keinen Schutz bietet. Die Erfahrungen zeigen: Das Konzept von »sicheren Drittstaaten« ist brandgefährlich für den Flüchtlingsschutz.

Khaled* kommt aus Syrien. Dort wurde er wegen seiner politischen Meinung verfolgt, inhaftiert und gefoltert. Auf seiner Flucht wurde er in der Türkei unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert und mehrfach illegal von türkischen Grenzbeamt*innen zurück nach Syrien gebracht. 2019 schaffte er es endlich in die EU, er kam in Griechenland an. Eigentlich ist es eindeutig: Bei politischer Verfolgung im Heimatland sollte er Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention bekommen. Doch das ist nicht das, was passierte.

Anstatt ihm Flüchtlingsschutz zu geben, lehnte die griechische Asylbehörde seinen Asylantrag ein Jahr später als »unzulässig« ab: Die Türkei sei für ihn ein »sicherer Drittstaat«. So wird in Griechenland seit dem EU-Türkei Deal von 2016 regelmäßig entschieden. Das Gericht bestätigte die Entscheidung. Daraufhin wurde Khaled im Februar 2021 auf der Insel Kos für über zwei Monate in Abschiebungshaft genommen – obwohl die Türkei seit 2020 keine abgelehnten Asylsuchenden aus Griechenland mehr zurücknimmt (siehe folgenden Bericht, Rn. 36). Auch den folgenden Asylantrag lehnte Griechenland ab.

Weltoffen-Bonn-Hinweis: Online-Schulung, 29.03.2023, Flüchtlingsrat NRW: „Das Konstrukt ‚sichere Herkunftsstaaten' – Hintergründe und Auswirkungen auf Betroffene“, 17:00 - 18:30 Uhr. Weitere Informationen und Anmeldung auf Flüchtlingsrat NRW.

Wie kann es sein, dass jemand, der so eindeutig politisch verfolgt ist wie Khaled, in der EU keinen Flüchtlingsschutz bekommt?

Angebliche Sicherheit in »sicheren Drittstaaten«

Eigentlich geht es im Asylverfahren um die Frage, ob einer Person im Herkunftsland schwere Menschenrechtsverletzungen und Verfolgung drohen. Doch vorgeschaltet wird oft eine andere Frage: Ist der Asylantrag zulässig? Das soll zum Beispiel nicht der Fall sein, wenn die schutzsuchende Person sich zuvor in einem angeblich »sicheren Drittstaat« aufgehalten hat.

Anstatt die Fluchtgründe zu prüfen, wird die Person also mit dem Argument abgelehnt, dass sie in diesem Drittstaat schon sicher gewesen sei und wird dahin abgeschoben. 

Anstatt die Fluchtgründe zu prüfen, wird die Person also mit dem Argument abgelehnt, dass sie in diesem Drittstaat schon sicher gewesen sei und wird dahin abgeschoben. Dass diese vermeintliche Sicherheit, wie das Beispiel von Khaled und der Türkei zeigt, in der Praxis nur selten der Realität entspricht, ist ein Teil des Problems des Konzepts.

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PRO ASYL – Aufruf zur Grundgesetzänderung  Nein zum Bonner Asylkompromiss

Der deutsche  »Asylkompromiss« von 1993 machte es vor

Das deutsche Grundgesetz kennt eine solche Regel schon länger und ist gleichzeitig lebendiger Beweis dafür, wie gefährlich das Konzept der »sicheren Drittstaaten« für den Schutz verfolgter Menschen ist. Seit dem sogenannten Asylkompromiss von 1993, der nach den rassistischen Anschlägen in Rostock-Lichtenhagen und Mölln von CDU/CSU,SPD und FDP vereinbart wurde, ist das deutsche Grundrecht auf Asyl in Artikel 16a Grundgesetz wie folgt eingeschränkt: Auf das Asylrecht für politisch Verfolgte kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der EU oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention gelten.

Da Deutschland somit von »sicheren Drittstaaten« umgeben ist, können sich nur Menschen auf Artikel 16a Grundgesetz berufen, die per Flugzeug einreisen – was für die meisten fliehenden Menschen unmöglich ist. So wurden im Jahr 2022 nur 1.937 Menschen als asylberechtigt nach dem Grundgesetz anerkannt (0,8 Prozent aller Entscheidungen). Dagegen erhielten 40.911 Menschen Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention.

Deutsches Grundrecht auf Asyl wurde in der Praxis irrelevant 

Da die beiden Anerkennungen faktisch die gleichen Rechte beinhalten, macht es für die Menschen keinen Unterschied, welchen Status sie bekommen. Doch das Fazit bleibt: Die Einführung von »sicheren Drittstaaten« im Grundgesetz hat dazu geführt, dass das deutsche Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte – eine Lehre der Mütter und Väter des Grundgesetzes aus der Nazidiktatur – in der Praxis irrelevant geworden ist.

Wenn nun systematisch auch der Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention in Europa über das Konzept der »sicheren Drittstaaten« ausgehebelt wird, dann besteht die Gefahr, dass der Flüchtlingsschutz nur noch auf dem Papier existiert. Wie ist hierzu also die aktuelle Rechtslage in der EU?

Die Genfer Flüchtlingskonvention kennt keine »sichere Drittstaaten« 

In der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist von einem solchen Konzept nicht die Rede. Zwar gibt es in ihr kein explizites Recht auf freie Wahl des Schutzlandes, genauso wenig gibt es in ihr aber eine Verpflichtung für Flüchtlinge, im ersten möglichen Staat Asyl zu suchen. Wie auch im Faktencheck von Hart aber Fair zu Äußerungen des stellvertretenden CDU-Vorsitzenden Jens Spahn klar gestellt wird: Die Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtet die Staaten zudem, stets vor einer Abschiebung zu prüfen, ob einer schutzsuchenden Person Verfolgung droht (sogenanntes Non-Refoulement-Gebot, Artikel 33 GFK). Auch in Artikel 18 der EU-Grundrechtecharta, die das Asylrecht nach der Genfer Flüchtlingskonvention in der EU garantiert, steht nichts von »sicheren Drittstaaten«.

Die »sicheren Drittstaaten« tauchen erst in Artikel 38 der EU-Asylverfahrensrichtlinie auf. Diese ermöglicht es den EU-Mitgliedstaaten, Asylanträge als unzulässig abzulehnen, wenn sie sich in einem individuellen Verfahren davon überzeugt haben, dass die Person in dem Drittstaat unter anderem

  • keiner Gefährdung von Leib und Leben aufgrund von Rassismus, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischer Überzeugung ausgesetzt ist;
  • nicht Gefahr läuft, einer illegalen Zurückweisung (sogenannte Pushbacks) zum Opfer zu fallen;
  • die Möglichkeit hat, einen Asylantrag zu stellen und als Flüchtling gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt zu werden.

Außerdem muss es eine Verbindung zwischen der in der EU asylsuchenden Person und dem außereuropäischen Mitgliedstaat geben, aufgrund derer es »vernünftig« erscheint, dass die Person sich in diesen Staat begibt.

Soweit die Theorie, doch wie die Praxis etwa in Griechenland zeigt, werden diese Kriterien schon jetzt nicht eingehalten.

Die gefährlichen Pläne aus Brüssel

Der EU-Türkei Deal und die aktuelle Praxis in Griechenland zeigen, wie gefährlich das Drittstaaten-Konzept für den Schutz von Geflüchteten ist und wie sich die EU so nur noch abhängiger von eben diesen Drittstaaten macht. Trotzdem wachsen die Begehrlichkeiten in der EU, diese Auslagerung des Flüchtlingsschutzes weiter voran zu treiben.

Beim Sonderratsgipfel der europäischen Regierungschef*innen am 9. Februar 2023 wurde zum Beispiel festgehalten, dass das Konzept »sicherer Drittstaaten« stärker genutzt werden und die Europäische Asylagentur hierfür Leitlinien aufstellen soll. Auch eine gemeinsame EU-Liste von »sicherer Drittstaaten« soll laut den Schlussfolgerungen erstellt werden (Rn. 22).

Im Rahmen der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylrechts sollen zudem die Kriterien für »sichere Drittstaaten« so weit herunter gefahren werden, dass einer massenhaften Ablehnung eigentlich schutzberechtigter Menschen in der EU kaum noch etwas entgegensteht. Während die Anwendung des Konzepts bislang optional für Mitgliedstaaten ist, soll diese Prüfung laut den Vorschlägen der Kommission für eine Asylverfahrensverordnung zukünftig stets verpflichtend sein. (siehe hierzu eine Analyse von PRO ASYL zu den Vorschlägen). Außerdem soll es nicht mehr Voraussetzung sein, dass die abgelehnte Person im Drittstaat vollen Flüchtlingsschutz nach der Genfer Flüchtlingskonvention bekommen kann. Offenkundig hat die Kommission hierbei die Türkei im Blick, welche die Genfer Flüchtlingskonvention nur mit einem geographischen Vorbehalt ratifiziert hat. Auch soll allein die Durchreise durch einen Drittstaat ausreichen, um eine schutzbedürftige Person in diesen zurück zu schicken.

Bundesregierung muss sich für Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Flüchtlingsschutz einsetzen!

Doch diesen Verschärfungsplänen kann und muss sich die Bundesregierung noch entgegen stellen: Im Rat für Inneres wird unter der schwedischen Ratspräsidentschaft dieser Vorschlag zur Asylverfahrensverordnung in den nächsten Wochen und Monaten diskutiert. Es ist zwingend notwendig, dass Deutschland hier für Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Flüchtlingsschutz eintritt und den Verschärfungen eine Absage erteilt. Dies hat PRO ASYL mit einem Schreiben an die zuständigen Ministerien und Regierungsfraktionen deutlich gemacht und notwendige rote Linien der Bundesregierung bei der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems gefordert.

Auf welche vermeintlich »sicheren Drittstaaten« will die EU die Geflüchteten überhaupt verweisen?

Die standardmäßige Anwendung des Konzepts der »sicheren Drittstaaten« könnte im schlimmsten Fall das Ende für den Flüchtlingsschutz in Europa bedeuten. Dabei nimmt die EU als wohl reichste Staatengemeinschaft der Welt schon jetzt nur einen Bruchteil der weltweiten Flüchtlinge auf. Von den über 100 Millionen Flüchtlingen leben circa drei Viertel in armen oder einkommensschwachen Aufnahmeländern – und das oft schon seit vielen Jahren. Im Jahr 2021 lebten laut UNHCR weltweit 72 Prozent der Flüchtlinge in Nachbarländern ihres Herkunftsstaates. Die Wahrnehmung in der EU, alle schutzsuchenden Menschen würden nach Europa kommen, ist bewusste Panikmache und Sinnbild für eine europäische Nabelschau.

Internationaler Rückschritt im Flüchtlingsschutz zu befürchten

Ein entsprechender Rückzug der EU aus dem Flüchtlingsschutz würde absehbar einen gefährlichen Dominoeffekt auslösen. Denn wenn sich die EU ihrer Verantwortung entledigen will, warum sollten das andere Staaten nicht auch tun? Schon jetzt sieht man auf den Hauptfluchtrouten, wie Transitländer wie die Türkei es der EU nachmachen und Mauern etwa zum Iran bauen. Die jüngste Entwicklung in Großbritannien ist diesbezüglich besonders dramatisch, wo die Regierung das Asylrecht de facto abschaffen will und damit den Bruch mit Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention wissentlich in Kauf nimmt.

Abschließend bleiben die Verfechter*innen der Auslagerung des Flüchtlingsschutzes stets eine entscheidende Antwort schuldig: Auf welche vermeintlich »sicheren Drittstaaten« will die EU die Geflüchteten überhaupt verweisen? Die EU ist aktuell nicht gerade von Staaten umgeben, in denen Menschenrechte und Flüchtlingsschutz hochgehalten werden. Für die Türkei wurde dies schon ausgeführt. Aber auch wenn man über das Mittelmeer blickt, ist die Situation in Ländern wie Algerien oder Tunesien – ganz zu schweigen von Libyen – für Schutzsuchende schwierig bis gefährlich. Hinzu kommt: Diese Länder haben auch kein Interesse, die Handlanger europäischer Interessen zu werden. Andersherum muss auch die EU sich fragen lassen: Von welcher autokratischen Regierung will sie sich als nächstes abhängig machen?

*Name zum Schutz der Person geändert.

(wj)