EU am Scheideweg: „Europa vor Flüchtlingen abschirmen“ oder „Geflüchtete schützen“?

31.03.2020 Angesichts der Corona-Krise rückt die europäische Flüchtlingspolitik derzeit in den Hintergrund. Doch die Situation der Geflüchteten an der EU-Außengrenze, auf den Inseln der Ägäis und an anderen Orten an den Rändern Europas verschlechtert sich zunehmend, verstärkt durch die globale Pandemie. Benjamin Etzold vom Bonner Friedens- und Konfliktforschungsinstitut BICC und weitere Forscherinnen und Forscher des EU-geförderten Projekt TRAFIG sind nicht nur über die humanitäre Situation, sondern auch über die Politik der EU zutiefst besorgt. Nachdrücklich fordern sie EU-Maßnahmen zum Schutz der Geflüchteten – und nicht vor ihnen.

Der erneute von vielen befürchtete „Massenansturm“ an den Außengrenzen Europas ist erst einmal vorbei. Auch wenn noch kein neuer „EU-Türkei-Deal“ steht, das virtuelle Treffen letzte Woche zwischen dem türkischen Präsidenten sowie den Regierungschefs Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens führte zusammen mit parallel laufenden Verhandlungen zu neuen Zusagen der EU und ihrer Großmächte. Die Türkei wird weiterhin – und nun wieder verstärkt – dabei unterstützt, Flüchtlinge innerhalb des Landes zu versorgen und ihnen berufliche und schulische Perspektiven zu bieten. Die humanitären und diplomatischen Anstrengungen zur Verbesserung der verheerenden Situation der Menschen in Idlib, der letzten Rebellenhochburg in Syrien, werden erhöht. Und Griechenland wird beim Ausbau der Grenzsicherung gestärkt, ohne dass es zur Einhaltung grundlegender menschenrechtlicher Prinzipien sowie den eigenen Regeln der EU gezwungen wird. Mittlerweile ließ die Corona-Krise diese jüngste Episode des von der Türkei bewusst kalkulierten Ausnahmezustands an der europäischen Außengrenze aus den Schlagzeilen verschwinden. Weder die Türkei noch Griechenland, Deutschland oder die EU-Kommission können es sich jetzt leisten, die volle politische Aufmerksamkeit auf etwas anderes als die Bewältigung des Ausnahmezustands im Gesundheitssystem zu legen. Doch was lernen wir aus den letzten vier Wochen?

Das „griechische Schild“ dient der Abschreckung und weicht das Genfer Flüchtlingsregime auf

In der griechischen Evros-Grenzregion wurden Anfang März die Weichen der europäischen Flüchtlingspolitik neu gestellt: Das zwangshafte Festsetzen von Schutzsuchenden an oder jenseits der Außengrenzen Europas, scheint nun eine anerkannte Methode zu sein, um gemischte Flüchtlings- und Migrationsströme in die EU zu steuern. Anstatt Griechenland zur Einhaltung des Menschenrechts auf Asyl und des internationalen Rechts zu drängen, applaudieren die Präsidenten von EU-Kommission, -Parlament und europäischem Rat dem griechischen Staat für seine Bemühungen, die griechischen und damit auch die europäischen Außengrenzen um jeden Preis zu schützen.

Griechenland gelang es unter Hinnahme von zum Teil rassistischer, zum Teil massiver staatlicher Gewalt und Menschenrechtsverletzungen Geflüchtete im EU-Grenzraum abzudrängen und viele von weiteren Versuchen die Grenze zu überwinden abzuschrecken. Die Unterstützung des „griechischen Schildes“, wie Kommissionspräsidentin von der Leyen die Grenzsicherungsmaßnamen anerkennend bezeichnete, durch die EU stellt aber auch einen weiteren Schritt dar, das internationale Flüchtlingsregime aufzuweichen. De facto billigt die EU die Verletzung des international anerkannten Prinzips, Schutzsuchende nicht ohne Anhörung zurückzuführen (non-refoulement). Noch mehr FRONTEX-Kräfte und -Ausrüstung werden seit Wochen eingesetzt, um Griechenlands Rolle als Europas „Schutzschild“ zu stärken. Weitere 700 Millionen Euro wurden für ein besseres „Migrationsmanagement“ zugesagt, ohne dass faire Umsiedlungsmaßnahmen zur Diskussion standen und ohne zu spezifizieren, wie die Situation der Flüchtlinge in Griechenland nachhaltig verbessert werden kann. Die EU verschließt die Augen vor den eigentlichen Plänen der griechischen Regierung, die verheerenden Zustände auf den ägäischen Inseln, wo zehntausende Flüchtlinge auf engstem Raum unter menschenunwürdigen und gesundheitsgefährdenden Bedingungen zusammenleben, zum Mittel der Abschreckung aufrechtzuerhalten.

Leben in Würde: Von Hilfsabhängigkeit zu Eigenständigkeit

Mit der Unterstützung der griechischen Grenzschutz- und Eindämmungspolitik trägt die Europäische Kommission zu Verletzungen des Völkerrechts und ihrer eigenen Charta der Grundrechte bei. Sie schadet darüber hinaus aber auch ihren bisherigen eigenen, erheblichen Bemühungen, die Eigenständigkeit von Flüchtlingen zu stärken und dauerhafte Lösungen für sogenannte langanhaltende Vertreibungssituationen zu finden. So umreißt etwa bereits die Mitteilung der Europäischen Kommission „Leben in Würde: Von Hilfsabhängigkeit zu Eigenständigkeit“ von 2016, wie Flüchtlingsschutz, humanitäre Maßnahmen und Entwicklungszusammenarbeit besser miteinander verzahnt werden können. Um tatsächlich nachhaltige Lösungen für die Geflüchtete zu entwickeln, muss die EU jedoch noch über den „konventionellen“ Dreiklang von Rückkehr, Integration und Neuansiedlung hinausgehen. Vor allem muss sie von dem scheinbar übergeordneten Ziel abweichen, Schutzsuchende möglichst weit entfernt von Europa zu verwalten. Es ist an der Zeit, weitere Optionen auszuloten, statt die selbstorganisierte Mobilität von Flüchtlingen so radikal und gewaltsam zu unterbinden, wie wir es in den letzten Wochen an den EU-Außengrenzen erlebt haben.

Nachhaltige Lösungen für marginalisierte Geflüchtete – europaweit!

Nicht nur auf den griechischen Inseln, sondern auch in einigen Landstrichen Italiens und entlang der Grenze zwischen Bosnien-Herzegowina und Kroatien ist die Zahl der marginalisierten Geflüchteten im Laufe der Jahre nicht nur gewachsen, sondern chronisch geworden. Menschen auf der Flucht mit einem prekären administrativen Status – wenn sie überhaupt einen haben – leben unter extrem eingeschränkten Möglichkeiten auch im Herzen europäischer Hauptstädte wie Brüssel, Berlin, Paris oder Rom. Dies ist ein deutliches Symptom dafür, dass das Gemeinsame Europäischen Asylsystem (CEAS) nicht funktioniert bzw. nur selektiv umgesetzt wird. „Europäische Werte“, „Solidarität“, „geteilte Verantwortung“ und „Grundrechte“ stellen nur Schlagworte, nicht aber Leitprinzipien für alle Mitgliedstaaten dar. Die Politik der Europäischen Kommission und der Regierungen der Mitgliedstaaten zielt nicht auf die Beendigung der Vertreibung ab, sondern versucht, die Zwangsvertriebenen aus den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt in Orten außerhalb oder am Rande Europas zu isolieren und damit die Möglichkeiten, die ihnen asylrechtlich oder humanitär zur Verfügung stehen, bewusst einzuschränken.

Europa vor Flüchtlingen abzuschirmen und sie außerhalb oder zumindest an so entlegenen Orten zu halten, dass ihre Notlage für uns nicht so sichtbar ist, ist keine nachhaltige Lösung. Dies trifft für die Flüchtlinge genauso zu wie für die Länder an den Außengrenzen oder die großen Zielländer innerhalb der EU. Ein Europa, das in Sachen Menschenrechte und Schutz mit gutem Beispiel vorangehen will, muss es besser machen. In einem solchen Europa sollte (erneut) oberste Priorität haben, „Schutzschilde für Flüchtlinge“ bereitzustellen, ihre Eigenständigkeit zu stärken und sie bei der Suche nach Wegen in die Zukunft, die sie selbst für wünschenswert halten, zu unterstützen. Voraussetzung hierfür ist, rechtliche und moralische Grundsätze zu respektieren und rassistischer Gewalt entgegenzuwirken.

Gemeinsames Statement von

Benjamin Etzold (BICC, Deutschland), Ferruccio Pastore und Emanuela Roman (FIERI, Italien), Panos Hatziprokopiou und Eva Papatzani (Aristotle Universität Thessaloniki, Griechenland), Albert Kraler (Donau Universität Krems, Österreich)

https://trafig.eu/blog/eu-shield (erweiterte englische Version)

am 25.03.2020 auf der Seite von BICC veröffentlicht.

Quelle: https://www.bicc.de/fileadmin/Dateien/Publications/other_publications/Kommentar_Fl%C3%BCchtlingspolitik_M%C3%A4rz_2020/Kommentar_EU_Fluechtlingspolitik.pdf