EU-Gipfel: Stundenlange Auseinandersetzung um eine Verschärfung der Asyl- und Abschiebungspolitik ohne konkrete Beschlüsse

21.10.2024 Nach der fortgesetzten Rechtsentwicklung in der EU und vielen ihrer Mitgliedsstaaten gab es im Vorfeld des Gipfels Rufe, GEAS weiter zu verschärfen. Mehrere Staaten kündigten an, das Asylrecht aussetzen zu wollen. Scholz stand unter Druck durch vorangegangene Forderungen seitens der CDU/CSU. Und Meloni sonnte sich im Ruhm des gerade mit 16 dorthin verbrachten Schutzsuchenden eröffneten Lagers in Albanien und erntete damit Bewunderung und Neid einiger Kolleg*innen. (Das gerichtlich verkündete Verbot für deren Verschleppung ins Lager und ihen Transport nach Italien wurde erst bekannt, als der Gipfel schon geendet hatte.)

Doch Beschlüsse gab es diesmal nicht. "Der Europäische Rat wird sich wieder mit dem Thema beschäftigten", endet die Abschlusserklärung. Wir zitieren den Bericht der Deutschen Welle, der oft auf die Abschlusserklärung Bezug nimmt:

Asylverfahren auslagern, Abschiebezentren einrichten oder ganz aussteigen? Der EU-Gipfel beriet diverse Konzepte für die Migrationspolitik ohne Beschlüsse zu fassen.

Eine "strategische Debatte" über die Migrationspolitik haben die Staats- und Regierungschefs und -chefinnen geführt. So steht es in der am Abend veröffentlichten Abschlusserklärung des Gipfeltreffens in Brüssel. Die Auseinandersetzung um eine Verschärfung der Asyl- und Abschiebungspolitik dauerte viele Stunden, beschlossen wurde nichts Konkretes. "Der Europäische Rat wird sich wieder mit dem Thema beschäftigten", lautet der letzte Satz in der Erklärung zur Migration. Dabei sei das Thema eigentlich dringend zu behandeln, meinte der Bundeskanzler von Österreich, Karl Nehammer.

17 der 27 Regierungen in der EU hatten schon im Mai eine Verschärfung der Migrationspolitik verlangt. Nach den Europawahlen und Wahlen in einigen Staaten, in denen rechtspopulistische bis rechtsradikale Parteien erfolgreich waren, stehe der Ruf der Demokratie auf dem Spiel, warnte Nehammer. Die EU müsse in der Migrationspolitik "zeigen, dass die Ordnungsmacht der Demokratie funktioniert." Viele Menschen in der EU seien der Ansicht, dass es zu viele Migranten gebe, die sich ohne Anspruch auf Asyl oder Flüchtlingsstatus, in der EU aufhielten. In Österreich war die in Teilen rechtsextreme "Freiheitliche Partei Österreichs" (FPÖ) zur stärksten Kraft im Parlament gewählt worden. Kanzler Nehammer ist Christdemokrat und versucht eine Regierungskoalition gegen die FPÖ zu bilden.

Weniger Ankünfte sind das Ziel

Einig sind sich die meisten Regierungen der EU, dass die Zahl der Ankünfte weiter sinken müsse, mehr ausreisepflichtige Menschen in Transit- und Herkunftsländer zurückgeführt werden müssten. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) stimmt diesen Zielen zu und lobt die verstärkten Grenzkontrollen an den deutschen Grenzen, die allesamt Binnengrenzen innerhalb der EU sind, als erfolgreiches Rezept. Luxemburgs Premierminister Luc Frieden kritisiert diese Grenzkontrollen, weil sie eigentlich absolute Ausnahmen sein sollten. Frieden hat aber Verständnis für die deutschen Schritt, solange die Außengrenzen der EU nicht richtig geschützt seien und zu viele unerlaubte Einreisen möglich seien.

Gegenüber dem Vorjahr sind die unerlaubten Einreisen in die EU in diesem Jahr nach Angaben der Grenzschutzagentur Frontex um rund 42 Prozent auf 144 000 gesunken. Das sei ein Erfolg der Migrationspolitik. Das reiche aber nicht auch, meint Bundeskanzler Olaf Scholz. "Wir müssen Schutz gewähren, denen, die Schutz brauchen. Aber es kann nicht jeder kommen. Wir müssen uns nach unseren Regeln aussuchen, wer kommen kann", fasst Scholz seinen Ansatz zusammen.

Schnellere Reformen

Die Bundesregierung und 16 weitere Mitgliedsstaaten fordern eine schnellere Umsetzung der vereinbarten Reformen der Asylverfahren in der EU. Die sollen, so hatten es die Mitgliedsstaaten im Frühjahr vereinbart, bis Mitte 2026 in Kraft treten. Nun soll es schneller gehen. Ob Asylverfahren für Bewerber mit wenig Aussichten direkt an den Außengrenzen schneller kommen können, als geplant ist aber unklar. Italien und Griechenland müssten dazu Lager mit bis zu 30.000 Plätzen an ihren EU-Außengrenzen einrichten. Ungarn lehnt den gesamten Migrationspakt der EU ab und will auf keinen Fall Asylbewerber aus den Staaten der ersten Einreise, also hauptsächlich Griechenland, Italien und Spanien, aufnehmen.

Verfahren außerhalb der EU?

Die neue rechtspopulistische Regierung der Niederlande möchte die Asylverfahren am liebsten ganz außerhalb der EU stattfinden lassen. Ministerpräsident Dick Schoof brachte das afrikanische Land Uganda als potenzielles Aufnahmeland für Asylbewerber aus den Niederlanden ins Spiel. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte "innovative Überlegungen" und Abschiebezentren in einem Brief an die Gipfelteilnehmerinnen und -teilnehmer als Möglichkeit aufgezeigt. Der Vorschlag ist allerdings nicht neu.

Schon 2018 hatte die EU-Kommission auf Anregung Österreichs sogenannte "Ausschiffungsplattformen" für schiffbrüchige Flüchtlinge am Mittelmeer vorgeschlagen. Über ein Konzept-Papier sind die Überlegungen nicht hinausgekommen, weil sich kein Land fand, das diese geschlossenen Lager einrichten wollte. Das ehemalige EU-Mitglied Großbritannien hatte vergeblich versucht, ein Asylzentrum in Ruanda einzurichten und auch Menschen, die Anspruch auf Asyl hätten dort dauerhaft unterzubringen. Dieses Ruanda-Modell ist an rechtlichen Hürden gescheitert und wurde von der Labour-Regierung in London auf Eis gelegt. "Diese Idee mit dem Ruanda-Modell war ziemlich dämlich", mokierte sich der irische Premierminister Simon Harris in Brüssel. Es sei auf keinen Fall Vorbild für eine EU-Asylpolitik.

Nachahmer könnte ein ausgelagertes Asylverfahren finden, dass die rechtsextreme italienische Ministerpräsidenten Giorgia Meloni jetzt im EU-Bewerberland Albanien einrichten ließ. Meloni lässt in einem geschlossenen Lager über Asylanträge von Bootsflüchtlingen nach italienischem Recht entscheiden. Anders als beim Ruanda-Modell erhalten erfolgreiche Asylbewerber eine Einreisegenehmigung für Italien. Abgelehnte Asylbewerber sollen direkt aus Albanien abgeschoben werden. Gelingt dies nicht, werden auch diese Menschen von Albanien nach Italien gebracht. Am Rande des EU-Gipfels lud Giorgia Meloni Kolleginnen und Kollegen zu einer Präsentation ihres Projekts ein. Dänemark, die Niederlande und Tschechien interessieren sich für das Albanien-Modell. Die 16 Menschen sind in der italienischen Außenstelle in Albanien angekommen. Maximal könnten dort 3000 untergebracht werden.

Scholz: Tropfen sind keine Lösung

Bundeskanzler Olaf Scholz lehnte beim EU-Gipfel die Auslagerung von Asylverfahren und hochfliegende Pläne für Albanien, Ruanda oder Uganda ab. "Klar ist, dass Konzepte, die kleine Tropfen darstellen, für ein großes Land wie Deutschland keine Lösung sind", sagte Scholz und wies darauf hin, dass Deutschland im letzten Jahr 300.000 Asylanträge verzeichnet hat. Der Kanzler setzt eher auf mehr direkte Zurückweisungen an den deutschen Grenzen. Er begrüßt, wie viele andere Staats- und Regierungschefs auch, die Absicht der EU-Kommission verschärfte Regeln für die Rückführung und Abschiebung von Menschen, die keine Aufenthaltsberechtigung haben oder bekommen werden, zu erarbeiten.

"Wenn jetzt das gemeinsame Asylsystem schneller umgesetzt wird, dann hilft das schon", sagte Olaf Scholz. Alle Staaten müssten die Regeln beachten, die es bereits gebe. Gemeint ist damit auch, dass Ersteinreise-Länder wie Griechenland und Spanien die Asylsuchenden wirklich registrieren und sich um deren Asylverfahren kümmern. Heute reisen viele Asylsuchende einfach richtig nördliche EU weiter. "Wenn alle die regeln beachten, dann wären wir schon weiter", so der Kanzler. Man brauche bessere Grenzkontrollen an den Außengrenzen der EU, die auch wirklich funktionieren müssten. Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis wies die Kritik zurück. Griechenland tue alles, was möglich sei und setze die europäischen Regeln strikter durch als in den vergangenen Jahren.

Opt-outs werden nicht hingenommen

Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk hatte vor dem Gipfel für Aufregung gesorgt, weil er ankündigte, das Asylrecht zeitweise ganz aussetzen zu wollen. Das wäre höchstwahrscheinlich eine Verletzung europäischen und internationalen Rechts. Tusk relativierte seine Ankündigung in Brüssel ein wenig, in dem er klarstellte, dass es nur Zurückweisungen von gewaltbereiten Asylsuchenden geben solle, falls Russland und Belarus diese massenhaft an die Grenze schaffen sollten. In diesem Jahr waren an der polnischen Ostgrenze rund 28000 illegale Einreiseversuche registriert worden. Ein Abweichen von der gemeinsamen EU-Asylpolitik, sogenannte Opt-outs wie sie die Niederlande und Ungarn verlangt haben, sei nicht vorgesehen, sagte Bundeskanzler Scholz nach den Beratungen.

Der EU-Gipfel wurde um einen Tag verkürzt, weil am Freitag US-Präsident Joe Biden zu einem Besuch nach Deutschland kommt. An die Kürze könnte man sich gewöhnen, scherzte Bundeskanzler Scholz in seiner Pressekonferenz. Es sei ein kurzer, aber erfreulicher Gipfel gewesen. EU-Treffen sind eigentlich wegen ihrer quälenden Nachtsitzungen berüchtigt.

 

Eigentlich hatte die EU sich gerade erst auf einen Asylpakt geeinigt - doch nun war Migration schon wieder das bestimmende Thema des Gipfeltreffens. Das hat auch mit dem Rechtsruck in einigen Mitgliedsstaaten zu tun.

Von einer "extrem tiefgründigen Debatte" spricht nach seinem letzten EU-Gipfel als Ratspräsident Charles Michel, "umfassend" nennt sie Kommissionschefin Ursula von der Leyen, "sehr konstruktiv" Bundeskanzler Olaf Scholz: Bis in den späten Abend hinein befasst sich dieser EU-Gipfel am Donnerstag mit der Migration, nachdem die Tagesordnungspunkte Ukrainekrieg und Nahostkonflikt bereits am Vormittag und am Nachmittag abgearbeitet worden waren.

Europas politische Landkarte verändert sich

Obwohl sich die EU gerade erst und nach jahrelangen Verhandlungen auf einen Asylpakt geeinigt hat, steht das Thema nun doch wieder weit oben auf der Tagesordnung. Die Zahl der Ankommenden nimmt zwar ab, aber es geht auch um die, die europäischen Boden wieder verlassen sollen, dies aber nicht tun.

Diese Debatte ist gerade in Deutschland durch Fälle wie den tödlichen Messerangriff von Solingen wieder entbrannt. Außerdem hat sich die politische Landkarte in Europa in den vergangenen Monaten spürbar verändert: In den Niederlanden ist eine Regierung gebildet worden, die vom Wohlwollen des Rechtsaußen Geert Wilders abhängig ist; die neue Regierung in Frankreich ist ebenso abhängig von Marine Le Pens Rassemblement National; in Deutschland hat die AfD bei mehreren Landtagswahlen erfolgreich abgeschnitten, und bei den Europawahlen konnte die Rechtsaußen-Seite des Parlaments ebenfalls erheblich dazugewinnen.

Scholz: Offen bleiben für Arbeitskräfte

Der Versuch, dies alles auszubalancieren, spiegelt sich in den Äußerungen rund um diesen Gipfel wider. Dazu gehört einerseits das klare Bekenntnis zum Asylpakt, inklusive Beschleunigung, wenn es vorher schon geht. "Wir müssen schneller werden", erklärt der Kanzler. Die irreguläre Migration müsse zurückgehen und man habe in Deutschland gerade schon einiges auf den Weg gebracht.

Scholz mahnt aber zugleich, "dass die Europäische Union offen bleibt für die Zuwanderung der nötigen Arbeitskräfte und Fachkräfte, damit unsere Volkswirtschaft trotz der demografischen Herausforderungen, vor denen wir stehen, wachsen kann."

EU will italienisches Modell beobachten

Dazu gehört auch, dass eine gewisse nationale Freiheit für Sonderwege besteht. Den italienischen Versuch mit ausgelagerten Asylverfahren auf albanischem Boden will man beobachten.

Die EU-Kommission soll nun zügig ein Konzept vorlegen, mit dem die Verfahren zur Rückführung gestrafft und beschleunigt werden können, fordern die Mitgliedsstaaten. Von einer verstärkten "Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern" - also weiteren Abkommen mit Drittstaaten - ist in der Schlusserklärung die Rede und überhaupt von "entschlossenem Handeln auf allen Ebenen".

Scholz gegen Aufnahmezentren außerhalb der EU

Von Aufnahmezentren für Asylverfahren außerhalb der EU - ob nun in Albanien oder Ruanda oder, wie jetzt von den Niederlanden ins Spiel gebracht, Uganda - hält der deutsche Kanzler übrigens nicht viel. Er könne "mit diesen Diskussionen wenig anfangen", sagte er.

Mehr als 300.000 Frauen und Männer seien im vergangenen Jahr irregulär nach Deutschland gekommen, sagt Scholz, von denen einige Schutz gefunden hätten, viele nicht. Mit Blick auf diese Zahlen, die sich ja auch aus anderen Ländern berichten ließen, machten solche Spekulationen "wenig Sinn", findet Scholz.

Solidarität mit Polen

Ausdrücklich wird in der Schlusserklärung die Solidarität mit Polen hervorgehoben, das an seiner Grenze zu Belarus das Asylrecht aussetzen will, weil Belarus gezielt Migranten an diese EU-Außengrenze bringt.

Das sei auch schon den baltischen Staaten und Finnland so gegangen, das seine Grenzen nach Russland ebenfalls geschlossen hat, erinnert Kommissionschefin von der Leyen. "Putin und Lukaschenko wollen Druck auf uns ausüben", sagt von der Leyen, "Sie versuchen, die Sicherheit und territoriale Integrität Europas zu untergraben, das sind hybride Attacken durch staatliche Akteure."