09.06.2023 Etwas überraschend erzielten gestern die in Luxemburg versammelten EU-Innenminister*innen schnell Einigkeit bei der EU-Asylrechtsreform. Ministerin Faeser zeigte sich im Interview der Tagesthemen sehr zufrieden mit dem Ergebnis. (s. Video Tagesthemen: "Durchbruch: Weitreichende Reform des EU-Asylrechts + Interview Faeser" Stand: 08.06.2023 22:41 Uhr)
Wir versammeln verschiedene Berichte und Bewertungen:
Widerstand gegen EU-Asylreform : Polen will Migrationsquoten nicht zulassen
ZDF 09.06.2023 Polen lehnt die Einigung innerhalb der EU zur Verteilung von Flüchtlingen ab. Regierungschef Morawiecki kündigte Widerstand an.
Nach der Asyleinigung der Europäischen Union hat Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki Widerstand gegen den geplanten Solidaritätsmechanismus zur verpflichtenden Aufnahme von Flüchtlingen angekündigt.
"Solange es die PiS-Regierung geben wird, werden wir nicht zulassen, dass uns irgendwelche Migrationsquoten, Quoten für Flüchtlinge aus Afrika, aus dem Nahen Osten, für Araber, Muslime oder wen auch immer auferlegt werden", sagte Morawiecki in Warschau.
Am Donnerstag hatten sich die Innenminister der EU-Mitgliedsstaaten in Luxemburg auf eine Verschärfung der Asylverfahren geeinigt. Die beschlossenen Pläne sehen auch mehr Solidarität mit den stark belasteten Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen vor.
Sie soll künftig nicht mehr freiwillig, sondern verpflichtend sein. Länder, die keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, würden zu Ausgleichszahlungen gezwungen werden. Nicht unterstützt wurde die Reform bei dem Treffen von Polen, Ungarn, Malta, der Slowakei und Bulgarien.
Denkbar ist aber, dass das EU-Parlament noch Änderungen durchsetzt. Es hat bei der Reform ein Mitspracherecht und wird in den kommenden Monaten mit Vertretern der EU-Staaten über das Projekt verhandeln.
Pressemitteilung von Pro Asyl:
PRO ASYL: Bundesregierung redet schön, sie stimmt dem Ausverkauf der Menschenrechte in Europa zu.
09.06.2023 Mit Zustimmung von Nancy Faeser und Befürwortung durch die grüne Außenministerin Baerbock und den liberalen Justizminister Buschmann haben die Innenminister*innen der EU einen Frontalangriff auf den Rechtsstaat und das Flüchtlingsrecht gestartet. PRO ASYL wirft insbesondere Faeser und Baerbock vor, das menschenrechtliche Desaster schön zu reden.
Es ist eine Fehlinformation, dass Geflüchtete aus Afghanistan und Syrien nicht in das Grenzverfahren kommen. Auch für diese Gruppen wird absehbar zum Beispiel in Griechenland in den verpflichtenden Grenzverfahren unter haftähnlichen Bedingungen zuerst die Zulässigkeit eines Asylantrages geprüft. Die massiv verwässerten Kriterien für angeblich sichere Drittstaaten öffnen Tür und Tor, um sich der Schutzsuchenden auf scheinlegale Weise zu entledigen. Selbst Familien mit Kindern werden künftig an Europas Grenzen in Haftlagern hinter Stacheldraht landen – nicht einmal diese oft beschworene rote Linie hielt die Bundesregierung Medienberichten zufolge ein.
„Wenn Geflüchtete in Grenzverfahren weggesperrt werden, um sie in unsichere Drittstaaten abzuschieben, dann hat das mit Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit nichts mehr zu tun“, sagt PRO ASYL-Sprecher Karl Kopp.
Und die viel zitierte Solidarität unter den Mitgliedsstaaten sieht so aus: Wer keine Flüchtlinge aufnehmen möchte, muss das auch weiterhin nicht tun. Diese Länder können stattdessen finanzielle Zahlungen leisten – zum Beispiel an die sogenannte libysche Küstenwache zur Flüchtlingsabwehr.
Die Originaltexte inklusive der Annexe, die gestern beim Rat für Inneres der EU beschlossen wurden, sind immer noch nicht veröffentlicht. PRO ASYL fordert die sofortige Veröffentlichung.
PRO ASYL befürchtet, dass letzte menschenrechtliche Bedenken der Bundesregierung fallen gelassen wurden und Faeser und Baerbock, wissentlich oder unwissentlich, bar jeder Grundlage die Realität schön färben.
Die von Faeser aufgestellte Behauptung, dass syrische und afghanische Flüchtlinge nicht in das Grenzverfahren kommen, ist sachlich falsch. Neben der verpflichtenden Anwendung der Grenzverfahren für Asylsuchende aus Herkunftsstaaten mit einer Schutzquote von unter 20 Prozent sowie Schutzsuchenden, denen vorgeworfen wird, zum Beispiel Ausweisdokumente zerstört zu haben, steht es den Mitgliedstaaten offen, die Grenzverfahren auch auf jene Schutzsuchenden anzuwenden, die zum Beispiel über einen „sicheren Drittstaat“ fliehen. Alle Ankommenden werden bereits jetzt im EU-Modell-Projekt in Griechenland einer Zulässigkeitsprüfung unterworfen. Selbst Familien mit Kindern, die aus Syrien oder Afghanistan stammen, sind davon betroffen. Diese Praxis soll nun zur europäischen Norm werden.
PRO ASYL hat die nach und nach bekannt werdenden Zwischenergebnisse der Verhandlungen analysiert und legt in einer ersten Reaktion den Schwerpunkt auf die Grenzverfahren und die Auslagerung in Drittstaaten
Grenzverfahren sind keine schnellen Asylverfahren an der Grenze. In jedem Asylverfahren – auch in den diskutierten Grenzverfahren – wird zuallererst entschieden, ob ein Asylantrag zulässig ist. Wer über einen angeblich sicheren Drittstaat kommt, wird zurückgewiesen. Und das gilt auch für Kinder und ihre Familien. Und weil die EU aktuell nicht von funktionierenden Demokratien mit guten Schutzsystemen umgeben ist, sollen die Kriterien gesenkt werden, damit unsichere Staaten für sicher erklärt werden können. Das Kriterium, wann ein dritter Staat als sicher gilt, soll so aufgeweicht werden, dass angeblich sichere Teilgebiete ausreichen, um Menschen in das Land abzuschieben.
„The designation of a third country as a safe third country both at Union and both at Union and at national level may be made with exceptions for specific parts of its territory or clearly identifiable categories of persons.“ (Artikel 45 Absatz 1a AVVO)
Mitgliedstaaten sollen bei der nationalen Bestimmung von „sicheren Drittstaaten“ auch nur Teile eines Staates als sicher erklärt können. Eine europäische Norm, die dies verhindert, gibt es dann nicht mehr. Die Justiz als dritte Gewalt wird damit entscheidend geschwächt. Bisher haben europäische Gerichte regelmäßig Verstöße gegen Europäisches Recht gerügt.
Noch unklar ist, wie das Kriterium formuliert ist, nach dem ein Gebietskontakt des Schutzsuchenden zu diesem Staat noch nötig sein soll. Großbritanniens Ruanda-Modell könnte nur scheinbar vom Tisch sein.
Viele Mitgliedsstaaten haben gefordert, dass noch nicht einmal eine Verbindung der Schutzsuchenden zu diesem Staat, in den sie abgeschoben werden sollen, bestehen müsse. In der letzten Stunde der Verhandlungen am Donnerstag wurden Verabredungen getroffen, die für den Schutz entscheidend sein werden – die aber noch nicht bekannt sind. Äußerungen in der Pressekonferenz weisen darauf hin, dass auch hier die Mitgliedstaaten selbst darüber entscheiden können, ob sie eine solche Verbindung voraussetzen. Damit wäre der Weg zum Beispiel für einen Österreich-Ruanda-Deal geebnet.
PRO ASYL fordert: Die Beschlüsse müssen gerade an dieser Stelle umgehend öffentlich gemacht werden. Die Bedeutung wird an den Zwischenständen deutlich.
Stand 17. Mai: „Member States may under national law provide for rules requiring a connection between the applicant and the third country concerned on the basis of which it would be reasonable for that person to go to that country.“ (Artikel 45 Absatz 2 AVVO)
Stand 6. Juni: The concept of safe third country may only be applied provided that:
b) there is a connection between the applicant and the third country in question on the basis of which it would be reasonable for that person him or her to go to that country, including because the applicant has transited through that third country, or if there is no such connection, the applicant consents to go there;
Hierzu haben aber mehrere Mitgliedstaaten gesagt, dass das für sie nicht akzeptabel ist. Für die Streichung des verpflichtenden Verbindungselements und für mindestens eine Rückkehr zum vorherigen Kompromissvorschlag der Präsidentschaft sprachen sich AUT, CZE, NLD, GRC, HUN, POL, LTU (einziger offener Punkt), LVA, GRC, MLT, CYP, ITA, DNK aus. Siehe Bericht vom Ausschusses der Ständigen Vertreter (AstV) vom 6. Juni: https://fragdenstaat.de/dokumente/238445–2899-astv-2-am-05–06-2023-fortsetzung-vorbereitung-ji-rat-am‑8–9‑juni-2023/
Ausführlicher Bericht des Deutschlandfunk 09.06.2023:
Reform des EU-Asylrechts So soll das europäische Asylverfahren verschärft werden
Die EU-Staaten haben sich auf eine Verschärfung des europäischen Asylverfahrens geeinigt. Vorgesehen ist unter anderem ein restriktiverer Umgang mit Migranten ohne Bleibeperspektive. Ein Überblick über die konkreten Pläne – und die Kritik daran.
.... Wir zitieren nur die Schlusspassagen, mündend in der Feststellung "Nur in Sachen Abschottung herrscht weitgehend Einigkeit."
Welche Kritik gibt es an der Reform des europäischen Asylrechts?
Es gibt eine ganze Reihe von Kritikpunkten, vor allem der faktischen Haft während des Asylverfahrens. Kritiker erinnert dies Zustände von Rechtlosigkeit wie in dem griechischen Flüchtlingslager Moria. Denn die Mitgliedstaaten sollen selbst für die Einhaltung der Verfahrensstandards zuständig sein. Befürchtet wird zudem, dass es keinen regulären Rechtsschutz geben wird, weil es an der EU-Außengrenze an spezialisierten Anwälten fehlt. Auch dies sind Erfahrung von den griechischen Inseln.
Der Migrationsforscher Ruud Koopmans befürchtet, dass durch das geplante neue EU-Asylrecht die derzeitigen katastrophalen Zustände weiter bestehen werden. „Die Menschen werden weiterhin im Mittelmeer sterben.“ Der Migrationsforscher Bernd Kasparek bezeichnete es als beunruhigend, dass sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Grunde mit gar keinem Punkt habe durchsetzen können. Das zeige, wie weit rechts sich der Konsens in der EU im Moment befinde. Auch in einer Demokratie gebe es ein paar rote Linien, die man nicht überschreiten sollte.
Die Pro Asyl spricht im Bezug auf die geplante Reform von einem „Frontalangriff auf das Asylrecht“. Der Leiter der Europaabteilung der Menschenrechtsorganisation, Karl Kopp, kritisierte die Position der Bundesregierung als „historischen Fehler“. Die Ampel-Koalition nehme in Kauf, dass Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ausverkauft würden, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Ähnlich äußerte sich Amnesty International.
An der neuen Definition der sogenannten sicheren Drittstaaten besteht ebenfalls Kritik, denn diese könnte den Schutz für viele Menschen aushebeln. Linken-Politikerin Clara Bünger befürchtet, dass Rechte ausgehöhlt werden, weil Menschen aus Staaten mit einer hohen Anerkennungsquote wie Syrien, Türkei, Afghanistan oder Iran „schnell in vermeintlich sichere Drittstaaten abgeschoben“ werden. Das Fazit Büngers: Es gehe eher um die Demontage des europäischen Asylrechtes und des Menschenrechtsschutzes.
Unmut an der Reform äußerten im Vorfeld auch Kirchen, Sozialverbänden und weitere Menschenrechtsgruppen: In einem offenen Brief kritisieren zudem Prominente die Vorschläge, zuvor hatten das schon Juristen getan.
Auch innerhalb der Partei Bündnis90/Die Grünen reist die Kritik an der Asylrechtsreform nicht ab und führt zu innerparteiliche Kontroversen. Der Co-Parteivorsitzende Omid Nouripour räumte im Deutschlandfunk ein, in der Gesamtabwägung sei man sich innerhalb der Partei nicht einig. Hintergrund ist, dass die Grünen in der Vergangenheit strikt gegen Asylverfahren an den EU-Außengrenzen waren. Auch im Koalitionsvertrag hatten FDP, SPD und Grüne eher Gegenteiliges vereinbart. Die Grünen Co-Vorsitzende Ricarda Lang erklärte, Deutschland hätte den Reformplänen nicht zustimmen dürfen. Mehr als 700 Parteimitglieder unterzeichneten im Vorfeld der Verhandlungen einen entsprechenden Brief an die Parteispitze.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock verteidigte gegenüber hingegen die Zustimmung der Bundesregierung. „Der Kompromiss ist ganz und gar kein einfacher. Zur Ehrlichkeit gehört: Wenn wir die Reform als Bundesregierung alleine hätte beschließen können, dann sähe sie anders aus“, schrieb die Grünen-Politikerin in einer Erklärung. „Aber zur Ehrlichkeit gehört auch: Wer meint, dieser Kompromiss ist nicht akzeptabel, der nimmt für die Zukunft in Kauf, dass niemand mehr verteilt wird.“ Auch Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) stellte sich hinter den Asylkompromiss, nannte ihn jedoch schmerzhaft.
Was sind die strittigen Punkte zwischen den EU-Ländern?
Zwar stimmte bei dem Innenministertreffen in Luxemburg eine ausreichend große Mehrheit an Mitgliedstaaten für umfassende Reformpläne, Einigkeit herrscht aber weiterhin nicht innerhalb der EU. Die EU-Staaten haben höchst unterschiedliche Interessen. Diese hängen davon ab, ob die Länder an der EU-Außengrenze liegen, es sich wie bei Frankreich oder Deutschland um Aufnahmestaaten handelt oder sie wie Polen, Ungarn sowie Tschechien keine bindende Verteilung von Flüchtlingen akzeptieren wollen.
Nicht unterstützt wurde die Reform bei dem Treffen in Luxemburg von den Ländern Polen, Ungarn, Malta, der Slowakei und Bulgarien. Tschechien machte nach der Einigung deutlich, dass es sich nicht an dem Solidaritätsmechanismus beteiligen will. Aus dem gleichen Grund lehnen auch Polen und Ungarn die EU-Asylreform weiter kategorisch ab. Sie sollen künftig ein Zwangsgeld von 20.000 Euro für jeden Migranten zahlen, den sie nicht aufnehmen. Das Geld soll in einen Fonds fließen, aus dem Migrationsprojekte finanziert werden.
Die große Streitfrage auf EU-Ebene bleibt damit weiter die Verteilung von Schutzsuchenden auf die Mitgliedsländer und die Reform von Dublin III. Letztere Regelung legt fest, dass die Ersteinreiseländer für die Asylverfahren zuständig sind. Damit nehmen vor allem Mittelmeeranrainer wie Italien oder Griechenland die meisten Geflüchteten auf.
Der Reformvorschlag sieht für sie nun zusätzliche Aufgaben wie die Registrierung der Geflüchteten vor. Für diese Länder ist es deswegen wichtig, dass ihnen Geflüchtete abgenommen werden. Denn sie fürchten, dass sie auf dem Großteil der Asylsuchenden sitzen bleiben. Deswegen pochen sie auch darauf, dass alle Gesetze als Paket verabschiedet werden. Das macht eine Einigung schwierig. Es gibt zudem die Befürchtung, dass sich zu viele Staaten für die Zahlung statt eine Aufnahme von Geflüchteten entscheiden, mit der Folge, dass andere Staaten mehr Menschen aufnehmen müssten.
Nur in Sachen Abschottung herrscht weitgehend Einigkeit. Das hatte sich bereits bei der Sondersitzung des EU-Rats im Februar 2023 gezeigt. Damals einigten sich die Mitgliedsstaaten darauf, Mauern oder physische Grenzbarrieren aus EU-Mitteln zu finanzieren.