28.12.2022 Hier bündeln wir mehrere Beiträge der letzten Tage mit Rück- und Ausblicken zur EU-Migrationspolitik:
24.12.2022 Spiegel ebenso wie zahlreiche andere Medien: Halbzeit von EU-Mechanismus Bisher 255 Asylsuchende umgesiedelt – von geplanten 8000
28.12.2022 Tagesschau Beitrag: EU und Migration Viele Aktionspläne, kaum Einigkeit
28.12.2022 nd Beitrag: Die Macht und das Geld von Frontex sind in der EU beispiellos
1. Spiegel am 24. 12. 2022
Halbzeit von EU-Mechanismus Bisher 255 Asylsuchende umgesiedelt – von geplanten 8000
13 Länder haben zugesagt, den Mittelmeerstaaten mehr als 8000 Asylsuchende abzunehmen. Doch bisher geht es unter dem im Sommer vereinbarten EU-Solidaritätsmechanismus kaum voran.
Nach halber Laufzeit eines europäischen Mechanismus zur Entlastung der Mittelmeerländer im Umgang mit Asylbewerbern haben Deutschland und andere Staaten bislang erst 255 Schutzsuchende aufgenommen. Allein 212 davon kamen in den vergangenen Monaten nach Deutschland. Dabei haben mit dem im Juni beschlossenen Solidaritätsmechanismus eigentlich insgesamt 13 Länder angeboten, insgesamt mehr als 8000 Schutzsuchende aufzunehmen, wie es nach Angaben der Deutschen Presse-Agentur aus der EU-Kommission heißt.
Mechanismus ist zunächst auf ein Jahr angelegt
Die EU-Staaten hatten sich am 22. Juni auf einen Solidaritätsmechanismus verständigt, der Griechenland, Zypern, Italien, Malta und Spanien im Umgang mit Asylsuchenden unterstützen soll. Sie können den Mittelmeerländern entweder Schutzsuchende abnehmen oder ihnen etwa mit Geld oder Sachleistungen helfen. Die Aufnahme von Schutzsuchenden gilt als bevorzugte Option. Die Teilnahme an dem Programm ist freiwillig und steht auch Nicht-EU-Ländern wie Norwegen und der Schweiz offen. Der Mechanismus ist zunächst auf ein Jahr angelegt.
2. Tagesschau
EU und Migration Viele Aktionspläne, kaum Einigkeit
Laut der Grenzschutzagentur Frontex ist die Zahl der Menschen, die versuchen in die EU zu gelangen, im abgelaufenen Jahr stark angestiegen. Viele europäische Politiker fürchten eine neue Migrationskrise. Matthias Reiche, ARD-Studio Brüssel
Russlands Krieg gegen die Ukraine zeigt eine völlig neue Seite der EU. Nur wenige Tage nach dem 24. Februar einigten sich die 27 Mitgliedsstaaten, die so genannte Massenzustrom-Richtlinie zu aktivieren, um Vertriebenen unbürokratisch einen Schutzstatus, medizinische Versorgung sowie Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten bereitzustellen.
"Etwas, worauf man stolz sein kann"
Millionen Geflüchtete aus der Ukraine machten davon Gebrauch, sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson im Oktober. "4,3 Millionen Menschen haben auf Grundlage dieser EU-Richtlinie in der EU Schutz gefunden", so Johansson. "670.000 ukrainische Kinder besuchen die Schulen in den EU-Mitgliedsstaaten. Das ist etwas, worauf man stolz sein kann."
Tatsächlich stellt sich die Situation heute völlig anders dar als 2015, als 1,5 Millionen syrische Kriegsflüchtlinge nach Europa kamen. Nicht nur der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell kritisiert, dass es in der europäischen Migrationspolitik doppelte Standards gebe und "Schutzsuchende, die blond, blauäugig und Christen sind, anders als Moslems oder Afrikaner behandelt werden."
2022 versuchten wieder deutlich mehr Menschen aus Afrika und anderen Weltregionen in die EU zu kommen. Piotr Switalski, Sprecher der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, erklärt, dass "in den ersten elf Monaten dieses Jahres an den Außengrenzen der Europäischen Union mehr als 308.000 irreguläre Einreisen festgestellt wurden. Dies entspricht einem Anstieg von fast 70 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum und ist der höchste Wert seit 2016".
Geschlossenheit der EU auf dem Prüfstand
Die meisten Menschen kämen nach wie vor über das östliche und zentrale Mittelmeer und vor allem über die Westbalkanroute. Registriert werde dabei kaum jemand, klagte wiederum Österreichs Bundeskanzler Karl Nehammer und spricht von einer Art "Asyltourismus". Um hier gegenzusteuern, bildete Österreich bereits eine Allianz mit Ungarn.
Gemeinsam stellten die beiden Länder Serbien finanzielle Anreize in Aussicht, damit illegale Migranten direkt aus Serbien zurückgeführt werden und das Land mit mehr Personal und besserer Technik seine südliche Grenze zu Nordmazedonien abriegelt.
Weil viele Migranten auch über Bulgarien und Rumänien nach Österreich kommen, boykottierte Wien im Dezember gemeinsam mit den Niederlanden auch die Aufnahme beider Länder in den Schengenraum. Es ist nur ein Beispiel dafür, dass die Migrationspolitik die Geschlossenheit der EU immer wieder auf die Probe stellt.
Mehr gemeinsame Verantwortung gefordert
Angesichts der rasant steigenden Zahl von Geflüchteten und immer neuer Fluchtrouten fühlen sich die Länder an den EU-Außengrenzen allein gelassen. Vor allem die fünf Mittelmeer-Anrainerstaaten Italien, Zypern, Malta, Griechenland und Spanien fordern, dass Brüssel die irreguläre Migration endlich als gemeinsame Verantwortung aller 27 Mitgliedsstaaten sieht. Andere EU-Staaten sollten ihnen mehr Migranten abnehmen, als die derzeit versprochenen 10.000 Menschen im kommenden Jahr, auf die sich die EU-Innenminister im Frühjahr geeinigt hatten.
Währenddessen versucht die EU-Kommission mit immer neuen Aktionsplänen, die Situation in den Griff zu bekommen. Man will eine bessere Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern, eine gerechtere Lastenverteilung zwischen den Mitgliedsstaaten, effektivere Grenzschutzmaßnahmen und neue Regelungen für die Seenotrettung.
"Wir können eine Menge Aktionspläne machen", erklärt EU-Innenkommissarin Johansson. "Die sind auch wichtig. Aber ohne die Umsetzung des gesamten Migrations- und Asylpakets werden wir das Problem nicht lösen." Es brauche einen generellen Rahmen für die Migrations- und Asylpolitik der EU.
Migrationsdruck bleibt 2023 hoch
Möglicherweise wird durch eine im November geschlossene Vereinbarung zwischen Frankreich und Großbritannien die illegale Migration über den Ärmelkanal zurückgehen. Auch auf der Westbalkanroute könnten die Zahlen sinken, da inzwischen weniger Menschen über die Türkei nach Griechenland kämen und weil der Weg über Serbien in die EU schwieriger werde, erklärt Frontex-Sprecher Switalski.
"Ende November hat Serbien seine Visaregelung eingeschränkt, was die Zahl von illegalen Grenzübertritten in den kommenden Monaten voraussichtlich verringern wird", so Switalski. Aufgrund geopolitischer Entwicklungen, aber auch aus Gründen des Klimawandels sei auch 2023 mit einem hohen Migrationsdruck zu rechnen.
Das Thema Migration und Asyl wird auch im kommenden Jahr zu den größten Herausforderungen gehören, denen sich die Europäische Union stellen muss. Bereits am 9. und 10. Februar wollen die Staats- und Regierungschefs der EU deshalb bei einem Sondergipfel das weitere Vorgehen beraten, um die illegale Migration einzuschränken.
3. nd: Milliarden für die Migrationsabwehr
Die Macht und das Geld von Frontex sind in der EU beispiellos
1995 haben sieben europäische Regierungen im Rahmen des Schengener Abkommens alle Kontrollen an ihren Binnengrenzen abgeschafft. Als Ausgleich schreibt der Vertrag gemeinsame Regeln zur Überwachung der EU-Außengrenzen vor. Zehn Jahre später, im Januar 2005, nahm deshalb die Grenzagentur Frontex in Warschau ihre Arbeit auf.
Das Akronym für Frontex leitet sich von dem französischen Wort für Außengrenzen ab (frontières extérieures). Der offizielle Name lautete damals »Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der EU«. Darin steckte eine wichtige Botschaft an die einzelnen Regierungen, die nämlich ihre hoheitlichen Aufgaben – der polizeiliche Grenzschutz gehört dazu – nicht komplett an Brüssel abgeben wollten.
Die Schaffung der EU-Grenzagentur war deshalb ein – aus heutiger Sicht vorläufiger – Kompromiss. Als zwischenstaatliche Einrichtung sollte Frontex den Schutz der Außengrenzen teilweise »europäisieren«. Sie durfte keinesfalls selbst grenzpolizeiliche Operationen durchführen, sondern die Mitgliedstaaten darin begleiten und unterstützen. Dieses Prinzip sollte die EU jedoch schrittweise über Bord werfen.
Mit einer neuen Verordnung im Jahr 2007 wurden die Kompetenzen von Frontex maßgeblich erweitert. Die Agentur sollte etwa sogenannte Soforteinsatzteams aufstellen, die über ähnliche operative Befugnisse wie die Beamten des aufnehmenden Mitgliedstaats verfügen.
2014 stellte sich die EU zur Migrationsabwehr neu auf, Frontex erhielt dabei eine Schlüsselrolle. Mit der Umbenennung in »Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache« 2016 wurde Frontex erstmals selbst eine Verantwortung für Überwachung und Kontrolle der EU-Außengrenzen übertragen.
Frontex darf seitdem selbst Ausrüstung anschaffen und begann sofort mit dem Aufbau einer eigenen Luftüberwachung mit gecharterten Flugzeugen und Drohnen von zentraler Bedeutung. Seitdem werden im Mittelmeer Boote mit Geflüchteten nur noch aus der Luft beobachtet und in vielen Fällen die libysche Küstenwache informiert, um die Menschen zurückzuholen.
Nun will die Agentur ihre Überwachungsfähigkeiten auch noch verbessern, so sollen etwa Videokameras an Luftschiffen in der Stratosphäre kreisen. Jedoch erstickt Frontex regelrecht an den vielen neuen Datenquellen. Deshalb fließen viele weitere Millionen in Analyseverfahren mit Künstlicher Intelligenz.
Die bislang letzte Änderung der Frontex-Verordnung erfolgte 2019. Die Agentur darf zukünftig unter alleiniger Verantwortung Abschiebeflüge durchführen und errichtet dazu ein »Europäisches Rückkehrzentrum« unter Leitung des deutschen Bundespolizisten Lars Gerdes.
Der Grenzagentur wird außerdem erlaubt, eine »Ständige Reserve« von insgesamt 10 000 Beamten aufzubauen. Ein Drittel davon wird zukünftig direkt aus Warschau kommandiert. Diese als »Kategorie 1« bezeichnete Truppe trägt eigens entworfene Uniformen und Waffen von Frontex und wird mit Schlagstöcken, Handschellen, Pfefferspray und kugelsicheren Westen ausgerüstet.
Mit dieser Neuerung hat sich die EU endgültig von dem einstigen Grundsatz verabschiedet, dass Frontex ausschließlich Polizeien aus den Mitgliedstaaten unterstützen soll. Die Agentur ist nun kaum mehr kontrollierbar: Das Europaparlament kann allenfalls über das Budget entscheiden, ansonsten regelt die Frontex-Verordnung die komplette Unabhängigkeit von Weisungen einer übergeordneten Stelle.
Diese Übermacht zeigt sich auch am Jahresbudget. Dieses Jahr erhielt Frontex satte 754 Millionen Euro, dabei sind die Ausgaben für Forschungen noch gar nicht mitgezählt. 2005, zur Gründung der Agentur, waren es noch sechs Millionen.