EU-Migrationspolitik: Tödliche Auswirkungen in Niger - Frontex-Überwachung aus dem All

09.05.2023 Die Mission ist erfüllt, ist der Beitrag von Matthias Monroy überschrieben. Er bezieht sich auf die gerade veröffentlichte Studie der Organisation Border Forensics mit dem Titel »Mission erfüllt?« . Die in Genf und Berlin ansässige Organisation untersucht und dokumentiert die staatliche Gewalt gegen Geflüchtete und Migranten an verschiedenen Grenzen. Wir zitieren den Beitrag, der wie ein weiterer (EU-Migrationsabwehr: Bewegungsmelder im Weltall - Um Geflüchtete aufzuspüren, fährt Frontex auf einer »Weltraumdatenautobahn«)  am 8. Mai im nd erschien:

Neue Studie belegt die tödlichen Auswirkungen der europäischen Migrationspolitik in Niger

Verantwortlich für das Sterben im Mittelmeer ist die Asyl- und Migrationspolitik der Europäischen Union, die verlangt, dass Asylanträge nur in einem ihrer 27 Mitgliedstaaten gestellt werden können. Auch weitab der Festung Europa verlieren jedoch Menschen deshalb ihr Leben. Diesen Zusammenhang belegt eine am Montag veröffentlichte Studie der Organisation Border Forensics mit dem Titel »Mission erfüllt?«. Ein 2015 auf Druck der EU in Niger verabschiedetes Gesetz gegen den »illegalen Handel mit Migranten« sorgt demnach dafür, dass immer mehr Menschen auf riskantere Fluchtrouten ausweichen müssen und deshalb in der Sahara verdursten. Die Regierung des Niger und ihre internationalen Partner stellen dies jedoch positiv dar und haben zur Bekämpfung irregulärer Migration das Narrativ einer »erfüllten Mission« entwickelt, kritisiert Border Forensics. 

Die in Genf und Berlin ansässige Organisation untersucht und dokumentiert die staatliche Gewalt gegen Geflüchtete und Migranten an verschiedenen Grenzen. Die Ermittler und Analysten nutzen unter anderem Technologien der sogenannten Fernerkundung wie etwa Satelliten- und Wetterdaten sowie Informationen aus öffentlichen Quellen. Daraus generiert Border Forensics Berichte, Karten, Videorekonstruktionen und andere Visualisierungen. Die Studie zu Niger ist die dritte Ausarbeitung der jungen Organisation. Frühere Studien in 2022 widmeten sich der Komplizenschaft von Frontex mit der libyschen Küstenwache sowie der Rekonstruktion des Todes eines Flüchtlings in den französischen Alpen.

Das in Niger vom Parlament beschlossene Gesetz »2015-036« drängt Migrationsdienste in den Untergrund. Hierzu gehören Transportdienstleister, Anbieter von Unterkünften oder Vermittler. Bis zum Erlass des Gesetzes waren ihre Tätigkeiten in dem Land, das seit jeher Migration gewöhnt ist, legal. Kriminalisiert wird seitdem nicht nur die Unterstützung beim irregulären Grenzübertritt, sondern auch bei der Durchreise durch das Land. Die Regierung von Niger behindert mit dem Gesetz zudem die Freizügigkeit, die das Land als Teilnehmer der Wirtschaftsgemeinschaft Westafrikanischer Staaten (Ecowas) eigentlich garantieren muss.

Durch seine zentrale Lage ist der Niger zum Korridor für Geflüchtete aus Subsahara-Staaten wie dem Sudan, aber auch Nigeria oder Burkina Faso geworden. Die Fluchtrouten führen sämtlich durch die Sahara. Die Studie von Border Forensics betrachtet drei Standorte des Abschnitts der Strecke zwischen der am Rand der Wüste gelegenen Hauptstadt Agadez und der libyschen Stadt Sabha. Dort liegen die Stadt Séguédine, der militärische Außenposten Madama und der Kontrollpunkt Toummo an der nigrischen und libyschen Grenze.

Wie viele Menschen dort tatsächlich verdursten, ist weitgehend unbekannt. Zahlen liefert die Internationale Organisation für Migration (IOM) mit ihrem Vermisste-Migranten-Projekt, das bereits einen deutlichen Anstieg seit dem Erlass des Gesetzes »2015-036« feststellt. Demnach sind 2015 noch 56 Menschen in der Wüste gestorben oder werden dort vermisst, zwei Jahre später waren es bereits 433. Insgesamt zählt die IOM seit 2014 insgesamt 1092 Migranten, die bei dem Versuch, die Wüste in Niger zu durchqueren ums Leben kamen oder verschwanden. Für die gesamte Sahara soll diese Zahl bei 1329 liegen – mit einer vermutlich deutlich höheren Dunkelziffer. 

Die Routen der Geflüchteten und Migranten haben sich seit der Umsetzung des Gesetzes »2015-036« im Jahr 2016 drastisch verändert, wie die Studie von Border Forensics mithilfe von Satellitendaten nachweist. Dazu haben die Autoren hochauflösende Bilder aus offenen Quellen verarbeitet, darunter Karten des Microsoft-Dienstes Bing und von Google Earth, außerdem Satelliten- und Luftbilder der Firma ESRI und in Fällen, in denen die Analysen eine höhere Auflösung benötigten, auch von kommerziellen Anbietern. So ergibt sich laut Border Forensics »ein wiederkehrendes Muster, das auf einen klaren Zusammenhang zwischen verstärkten Grenzkontrollen und der Aufsplitterung der Migrationswege hinweist«.

Die nigrische Regierung sowie EU-Agenturen wie Frontex machen Transportfahrer, die gemäß dem neuen Gesetz als »Menschenschmuggler« gelten, für die Zunahme der Todesfälle und des Verschwindens verantwortlich. Ein solcher Zusammenhang existiert zwar, jedoch steckt auch dahinter die Politik der Migrationsabwehr. Das Gesetz »2015-036« zwingt die Fahrer in entlegenere Gebiete der Wüste und erhöht das Risiko, wenn ihr Pick-Up oder Lastwagen dort eine Panne hat. Weil die Fahrzeuglenker nicht bestraft werden wollen, fliehen sie in vielen Fällen vom Ort des Geschehens um einer Festnahme zu entgehen. Für die Passagiere sinken die Chancen, in der Wüste an Wasser zu gelangen, auf diese Weise beträchtlich. Auch dies stellt Border Forensics in ihrer Studie dar: Durch wiederkehrende Ereignisse wie Fahrzeugpannen oder Wassermangel nehmen die Überlebenschancen der Passagiere stark ab.

Das Risiko der Dehydrierung will Border Forensics in der Studie mess- und damit vergleichbar machen. In einer »Kosten-Distanz-Analyse« werden Faktoren wie Windgeschwindigkeit, Beschaffenheit der Landoberfläche, Vegetation, Sonneneinstrahlung und Temperatur einberechnet um abzuschätzen, wie viel Trinkwasser eine Person benötigt. Muss diese Person wegen Wassermangels durch ein Problem in der Wüste zu einer Hauptstraße zurücklaufen, um eine Wasserquelle oder einen Ort menschlicher Aktivität zu erreichen, trocknet sie weiter aus. Auch diesen Schweißverlust versucht Border Forensics zu messen und den »Punkt der tödlichen Dehydrierung« zu ermitteln.

Border Forensics fordert mehr Anstrengungen zur Verhinderung der »menschlichen Kosten der Grenzkontrollen«. Verantwortlich dafür sind laut der Organisation unter anderem Italien und Dänemark an der Ausarbeitung und Umsetzung des Gesetzes »2015-036« beteiligt waren. »Alle Akteure – ob aus Niger, Europa, den UN-Organisationen oder anderen -, die an der Ausarbeitung und Umsetzung des Gesetzes beteiligt waren, sollten für den vermehrten Tod und das Leiden von Migranten, das es verursacht hat, zur Rechenschaft gezogen werden«, sagt Rhoumour Ahmet Tchilouta, einer der leitenden Ermittler von Border Forensics bei diesem Projekt. Die EU, ihre Agenturen und Mitgliedsstaaten sollten alle Maßnahmen und Programme beenden, die zur Externalisierung der Grenzen beitragen, heißt es in einer Pressemitteilung weiter. 

Danach sieht es allerdings nicht aus, im Gegenteil. Durch den Rückzug aus Mali wird der Niger als neuer Stützpunkt von europäischem Militär immer wichtiger, die Truppen werden dabei auch im Grenzgebiet eingesetzt. Vor einem Jahr hat die EU mit Niger außerdem eine »Partnerschaft zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität« vereinbart. Sie soll Tote in der Wüste verhindern und das »Geschäftsmodell krimineller Netzwerke« durchkreuzen, heißt es in einer Pressemitteilung der EU-Kommission. Unterstützung kommt auch von Frontex, die mit der in Niger gestarteten EU-Mission zur Beratung und Ausbildung der nigrischen Sicherheitsbehörden eine Arbeitsvereinbarung geschlossen hat. Darin will Frontex weitere nigrische Behörden in die Kontrolle der Grenzen einbinden. Außerdem erhalten die Beteiligten Zugang zu Daten des Grenzüberwachungssystems Eurosur, das weitgehend auf der Satellitenaufklärung beruht.

 

EU-Migrationsabwehr: Bewegungsmelder im Weltall - Um Geflüchtete aufzuspüren, fährt Frontex auf einer »Weltraumdatenautobahn«

Sämtliche Informationen, die Frontex an den EU-Außengrenzen sammelt, werden in ihr 2014 gestartetes Überwachungssystem Eurosur eingespeist. Dabei setzt die EU-Grenzagentur verstärkt auf Daten aus dem Weltraum. Bilder stammen beispielsweise von den Satelliten des EU-Erdbeobachtungsprogramms »Copernicus«, das für Umwelt- und Sicherheitsaufgaben genutzt wird. Es versorgt sowohl die Einrichtungen der Union als auch die Mitgliedstaaten mit relevanten Informationen.

Allerdings ist die Auflösung der Bilder in »Copernicus« vergleichsweise gering, die EU-Grenzagentur nutzt deshalb auch kommerzielle Dienste. Zu den Lieferanten gehören die Rüstungskonzerne Leonardo und Airbus mit Aufnahmen ihrer Radarsatelliten, außerdem kommerzielle Anbieter wie die deutsche GAF AG oder Maxar. Zur »Krisenbeobachtung« und »Konfliktprävention« fragt Frontex zudem Daten anderer Mitgliedstaaten an, darunter von dem auf Radarsatelliten beruhenden multinationalen System »Helios II« sowie dem deutschen »SAR-Lupe«.

Für die Auswertung der Satellitendaten ist bei Frontex eine eigene Abteilung zuständig. Die Analysten wollen damit etwa Schiffe und Boote mit Geflüchteten erkennen, wenn sich diese aus der Türkei oder nordafrikanischen Ländern auf den Weg nach Europa machen. Mit der Technik sollen Boote ab einer Länge von acht Metern mit einer »hohen Zuverlässigkeit« automatisch erkannt werden können. Ähnlich wie bei der Videoüberwachung werden dabei »Unregelmäßigkeiten« in Bewegungsabläufen gesucht und gemeldet. Als Anomalie gelten etwa eine auffällige Nähe der Boote zu anderen Schiffen, der Wechsel der Fahrspur, ein besonderer Tiefgang oder Umladungen auf hoher See. »Schiffe von Interesse« können über einen längeren Zeitraum beobachtet werden, ohne dass menschliches Eingreifen erforderlich wäre.

 

Bis Anbieter wie SpaceX des US-Milliardärs Elon Musk massenhaft kleine Würfelsatelliten ins All schossen, waren die Fähigkeiten der Erdtrabanten durch ihre Umlaufbahn begrenzt. Um die Erde kreisende Satelliten können nur in Sichtweite Daten zum Boden funken; befinden sie sich im Erdschatten, bricht die Verbindung ab. Damit trotzdem weiterhin Daten übertragen werden können, nutzt Frontex die »Weltraumdatenautobahn« von Airbus. Die Firma hat dafür drei Satelliten ins All gebracht, die über eine Laserverbindung mit bis zu 80 000 Kilometer entfernten Bodenstationen kommunizieren. Damit können deren Bilder nahezu in Echtzeit an jeden Ort der Erde übermittelt werden.

Die Weltraumdaten werden bei Frontex für ein »Informationsbild des Grenzvorbereichs« genutzt. Im Mittelmeer ist diese Zone laut der EU-Kommission mehr als 500 Quadratkilometer groß, sie kann sich aber bis weit in den afrikanischen Kontinent hinein erstrecken. Dort will Frontex Orte und Aktivitäten ermitteln, »die von Interesse sind«. Um welche es sich konkret handelt, entscheidet ein »Frontex-Referat für Risikoanalyse« von Fall zu Fall.

Auch die Wüste in Niger könnte derart beobachtet werden. Frontex würde die Informationen aber vermutlich weniger zur Rettung von Menschenleben verwenden, sondern zur Migrationsabwehr, und sie deshalb an nigrische Behörden weitergeben. Unter Umständen erfolgt dies nicht direkt, sondern über einen Umweg durch einen EU-Staat. In den vergangenen beiden Wochen haben die Kommission und Frontex auf eine Anfrage der Europaabgeordneten Özlem Demirel reagiert, die sich nach Abkommen zur Weitergabe von Eurosur-Daten an Drittstaaten erkundigte. 15 Regierungen hätten derartige Verträge geschlossen, antwortete die Kommission der Linke-Politikerin. Welche Länder das betrifft und in welchem Umfang Daten aus der Satellitenüberwachung übermittelt werden, erfuhr die Abgeordnete aber nicht.