22.10. OLAF zeigt in Brüssel Wirkung. OLAF - das ist nicht Kanzler Scholz, das ist die Abkürzung für EU-Anti-Korruptionsbehörde, die vor kurzem ihren "Final Report" zu Frontex vorgelegt hat, ein Report von hoher Brisanz, der auch Journalist*innen zugespielt wurde.
Mit 754 Millionen Euro (im Jahr 2022) ist keine EU-Agentur besser finanziert als Frontex. Wenige Tage nach Erhalt des Reports stimmten die EU-Abgeordneten mit großer Mehrheit gegen die Entlastung des Frontex-Etats.
Bereits im Mai 2022 zeichnete sich die Tendenz ab: "Das EU-Parlament hat Zweifel an der Haushaltsführung der umstrittenen Grenzschutzagentur Frontex. Die Abgeordneten lehnten eine Entlastung des Etats deshalb vorerst ab.", schrieb der Spiegel.
Wir zitieren im Folgenden aus der Berichterstattung mit unterschiedlichen Details und Aspekten:
1. Tagesschau Stand: 18.10.2022 17:36 Uhr
EU-Parlament verweigert Entlastung Ein klares Votum gegen Frontex
Der Grenzschutzagentur Frontex wird vorgeworfen, das illegale Zurückdrängen von Flüchtlingen unterstützt zu haben. Deshalb hat das EU-Parlament der Agentur nun die Haushaltsentlastung verweigert.
Mit 345 zu 284 Stimmen war es am Ende ein unerwartet klares Votum gegen Frontex. Da nützte es auch nichts, dass EU-Innenkommissarin Ylya Johansson bei den Parlamentariern noch einmal für die Grenzschutzagentur geworben hatte:
"Ich vertraue der Geschäftsführung und der Interimsdirektorin Aija Kalnaja, dass sie die Grenzschutzagentur in eine gute Richtung lenken. Wir haben gute und mutige Männer und Frauen, die unsere Außengrenzen rund um die Uhr beschützen - unter Einhaltung der Grundrechte. Das tun Tausende von Grenzbeamten Tag und Nacht."
Pushback-Vorfälle vertuscht
Eine Mehrheit der Abgeordneten sieht das anders. Frontex habe an der griechischen Grenze Pushback-Vorfälle systematisch vertuscht, sie nicht untersucht oder nicht korrekt behandelt.
Juan López Aguilar aus der sozialdemokratischen Fraktion ist Vorsitzender im Innenausschuss des EU-Parlaments, er sagt: "Korruption der Besten führt zu Schlimmsten, heißt es im Latein. Und wenn diejenigen, die für die Einhaltung des Rechts sorgen sollten, das Recht missachten, ist das ein Fehler im System. Und das ist bei Frontex leider der Fall."
"System Frontex beenden"
Und deshalb müsse das System geändert werden, fordert die EU-Abgeordnete Cornelia Ernst. Sie sitzt für die Linke im Parlament: "Dieses System Frontex muss beendet werden. Keinen einzigen Cent Steuergelder darf es für eine Agentur geben, der das Leben von Asylsuchenden nicht mal einen Pfifferling wert ist."
Die Grenzschutzbehörde war 2004 mit der EU-Osterweiterung gegründet worden. Seit 2015 wurden die Mittel der Agentur bedeutend aufgestockt. Bis 2027 soll das Personal weiter auf 10.000 Grenzschützer steigen.
"Wir lassen da den Rechtsstaat zurück"
Das erhitzt vor allem die Gemüter jener, die wie der Grüne Parlamentarier Erik Marquardt für eine deutlich liberalere Migrationspolitik der EU plädieren: "Ich finde es wirklich entwürdigend - auch für dieses Haus - dass wir an den Außengrenzen nicht nur Menschen, schreiende Frauen und Kinder und Männer, zurücklassen auf seeuntüchtigen Booten, sondern wir lassen da den Rechtsstaat zurück. Wir lassen das zurück, wofür eigentlich Europa stehen sollte."
Die Parlamentsentscheidung, Frontex die Entlastung des Etats zu versagen, hat vorerst vor allem symbolische Bedeutung - was der neuen Agenturspitze Gelegenheit geben könnte, den Wandel bei der Achtung der Grundrechte und beim Führungsstil voranzutreiben. Allerdings soll es demnächst einen weiteren Bericht der OLAF-Behörde geben, der für neue Unruhe sorgen dürfte.
2. ND - Der Tag 18.10.2022
Vertuschen mit System - Grenzschutzagentur Frontex führte laut Untersuchung interne Kontrollinstanzen systematisch hinters Licht
Dieser Bericht ist so brisant, dass er unter Verschluss bleiben sollte. Doch am vergangenen Freitag kursierte der »Final Report« der EU-Anti-Korruptionsbehörde OLAF in der Brüsseler Journalistenblase. Auch beim »nd« landete eine Kopie dieses Berichts, der den Frontex-Chef Fabrice Leggeri im April dieses Jahres zu Fall gebracht hatte. Der mehr als 120 Seiten umfassende Report war bislang einer kleinen Gruppe von Eingeweihten bei Kommission, Parlament und Frontex zugänglich. Jetzt ist auch klar, warum: Der Bericht zeigt deutlich, dass führende Frontex-Beamte ein System der Verschleierung aufgebaut hatten, um die Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen zu vertuschen. Aufgabe der Agentur mit Sitz in Warschau ist es eigentlich, die EU-Staaten bei der Überwachung ihrer Außengrenzen zu beraten und den Grenzschutz zu optimieren. Dafür stehen den derzeit rund 2000 Frontex-Angehörigen moderne Boote, Flugzeuge, Drohnen und geländegängige Fahrzeuge zur Verfügung.
Dass die Beamten bei ihren Missionen vor Ort auch Zeugen von gravierenden Rechtsverletzungen werden, ist lange bekannt. Doch offiziell leugnete die Behörde dies stets. Der OLAF-Bericht zeigt nun deutlich, wie systematisch Frontex die internen Kontrollinstanzen hinters Licht führte. So gibt es bei Frontex einen Beauftragten für Grundrechte (FRO), der bei heftigen Verstößen aktiv wird. Doch Frontex-Beamte gaben die Informationen über mögliche Menschenrechtsverletzungen bewusst nicht weiter, wie die Untersuchungen von OLAF belegen. Dabei manipulierte man das interne Meldesystem für »schwerwiegende Zwischenfälle« (SIR). Hier können Beamte melden, wenn sie Zeugen von Grundrechtsverletzungen werden oder gar selbst darin involviert sind.
Dieses System umfasst vier Kategorien, wobei bei einem Vorfall der Kategorie 4 automatisch der Grundrechte-Beauftragte tätig wird. Es ging also darum, die beobachteten Vorfälle möglichst niedrig einzustufen. OLAF listet gleich mehrere Beispiele auf: So habe Maltas Küstenwache Schlauchboote »Richtung Italien geschleppt«. Ein Frontex-Flugzeug hatte die Schlauchboote mit »250 Migranten ohne Schwimmwesten« zuvor entdeckt und sie den Behörden Maltas gemeldet. Malta verweigerte die Zusammenarbeit. Stattdessen landete eines der Boote »mit 51 Überlebenden und 5 Toten an Bord« wieder in Libyen, von wo die Migranten ursprünglich gestartet waren. Frontex tat alles, um den Vorfall zu vertuschen und die FRO-Abteilung rauszuhalten. Dazu ordnete man das Geschehen als Vorfall der niedrigen Kategorie 2 ein.
Ein weiteres Beispiel für die systematische Vertuschung ist ein Vorfall in Griechenland aus dem Mai 2020. Hier beobachteten Frontex-Beamte in einem Patrouillen-Flugzeug, wie die griechische Küstenwache Geflüchtete aus einem Schlauchboot an Bord nahm, um diese später in türkischen Hoheitsgewässern wieder auszusetzen, »ohne Rettungswesten«, wie der Bericht betont. In einer Befragung durch OLAF verwiesen die Verantwortlichen auf Spannungen zwischen der Türkei und Griechenland. Diese hätten es schwer gemacht, »in Echtzeit zu beurteilen«, ob das Schlauchboot »tatsächlich Migranten transportierte oder nicht doch türkische Soldaten oder gar Terroristen«. Eine abenteuerliche Rechtfertigung für das Wegschauen. Später wurde das Frontex-Flugzeug übrigens verlegt. Somit kann die griechische Küstenwache ihre Pushbacks nun unbeobachtet durchführen.
3. Die Deutsche Welle 21.10.2022 verbindet ihren Beitrag mit dem Erfahrungsbericht von 4 EU-Abgeordneten, darunter Erik Marquart, die im September im griechisch-türkischen Grenzgebiet unterwegs waren.
EU-Außengrenze EU-Grenzschutzagentur Frontex missachtet EU-Recht - auch in Griechenland
Verstöße gegen die Menschenrechte, Machtmissbrauch, Einschüchterung - der OLAF-Bericht zur EU-Grenzschutzagentur Frontex fällt verheerend aus. Auch Griechenland steht im Fokus.
Der Frau mit dem strengen, blonden Pferdeschwanz steht die Nervosität ins Gesicht geschrieben an jenem Septembermorgen (19.09.2022) auf dem kleinen Flughafen von Alexandroupolis, einer strategisch wichtigen griechischen Hafenstadt, etwa 20 Kilometer entfernt von der türkischen Grenze. Die Frontex-Beamtin ist Einsatzleiterin der europäischen Grenzschutzagentur an der gut 200 Kilometer langen Grenze am Fluss Evros. Wie an anderen europäischen Außengrenzen berichten Asylsuchende auch hier von Polizeigewalt und illegalen Pushbacks.
Da sich die Medien meistens auf die Seegrenzen vor den Inseln Lesbos und Samos konzentriert haben, waren Frontex und die griechischen Grenzschützer bei ihrer Arbeit am Evros bisher ungestört. Nun aber steht die Beamtin vor einer Gruppe Journalisten und Journalistinnen, die vier EU-Parlamentarier bei ihrer "Fact-Finding Mission" begleiten. Eine von ihnen ist die Niederländerin Tineke Strik, Grünenpolitikerin sowie Professorin für Staatsbürgerschaft und Migration. Sie ist eine der bekanntesten Kritikerinnen von Frontex und gehört zu den wenigen europäischen Gesetzgeberinnen, die Länder wie Griechenland, Ungarn oder Kroatien offen dafür kritisieren, Schutzsuchenden mit allen Mitteln den Zugang zu den europäischen Asylsystemen zu verwehren - auch, indem man Menschen gewaltsam an der Grenze abwehrt.
Frontex ist mit 62 Beamten und vier Übersetzern am Evros im Einsatz. Auf Fragen der Journalistinnen und Journalisten zu Menschenrechtsvergehen in ihrem Einsatzgebiet antwortet die Einsatzleiterin: "Frontex ist nicht in allen Gebieten präsent. Wir planen den Einsatz unserer Leute aufgrund der Anfrage des Mitgliedsstaates." Später sagt sie: "Sie müssen verstehen, dass wir unsere Aktivitäten hier immer unter dem Kommando und der Leitung unserer griechischen Kollegen durchführen."
Dann fragt Tineke Strik, ob Frontex von griechischen Kollegen konkret Zutritt zu Gebieten gefordert habe, in denen Pushbacks stattfänden. Eine andere Beamtin zögert kurz und antwortet dann: "Uns wird der Zutritt zu bestimmten Gebieten nicht verweigert, aber unsere Einsatzkräfte sind auf bestimmte Arbeitsbereiche beschränkt. Die griechischen Behörden wissen besser, welche Bedürfnisse sie haben."
OLAF-Bericht zu Anschuldigungen gegen Frontex
Frontex steht schon lange in der Kritik. Der 2004 gegründeten EU-Grenzschutzagentur werden Verstöße gegen Menschenrechte und illegale Rückführungen von Flüchtlingen vorgeworfen. Im Frühjahr 2022 trat Frontex-Direktor Fabrice Leggeri zurück. Ein brisanter Bericht des EU-Amtes für Betrugsbekämpfung, OLAF, der schon zu Beginn des Jahres fertiggestellt wurde und nun vom Nachrichtenmagazin Der Spiegel und der NGO Frag den Staat veröffentlicht wurde, macht deutlich, warum. Frontex soll verantwortlich sein für die Irreführung von Gremien, die Einschüchterung von Mitarbeiten und das vorsätzliche Vertuschen von Straftaten.
Massenweise Verstöße gegen Grundrechte
Die Liste der Verstöße gegen EU-Recht, Völkerrecht, das Seerecht und die eigenen Vorschriften ist lang. Omer Shatz, Menschenrechtler und juristischer Leiter der NGO Front-LEX fordert, Frontex sofort von der griechisch-türkischen Grenze abzuziehen: "Der Direktor muss einen Einsatz abbrechen, sobald ernsthafte oder regelmäßige Verstöße gegen das Menschenrecht vorliegen, die in Zusammenhang mit den Aktivitäten von Frontex stehen." Der OLAF-Bericht enthülle, dass Frontex von zahlreichen Verbrechen wusste und diese vertuschte, sagt Shatz der DW.
"Es gibt massenhaft Beweise zu Pushbacks und sogar Todesfälle; Menschen, die starben, weil man ihnen ihre Kleidung abnahm, eine sehr verbreitete Praxis", betont Shatz. Trotz der erdrückenden Beweislast beharren die griechischen Behörden weiter darauf, dass sie sich an den Außengrenzen an geltendes Recht halten. Auch Frontex selbst will keine Verantwortung übernehmen. Shatz sieht darin eine Strategie: "Jedes Mal, wenn man die griechische Regierung konfrontiert, sagt sie: Wir setzen nur Frontex-Regularien um", kritisiert Shatz. Somit legitimiere und unterstütze die Grenzschutzagentur mit ihrem Einsatz die systematischen Gesetzesbrüche der griechischen Behörden."
Wenig Hoffnung auf Besserung
Konservative EU-Parlamentarierinnen wie die zuständige EU-Kommissarin Ylva Johansson sehen nach dem Ausscheiden des ehemaligen Direktors Leggeri sowie zwei weiteren hochrangigen Mitarbeitern keinen Bedarf, Frontex-Einsätze ganz zu beenden oder die Agentur weiter zu reformieren. Für Tineke Strik ist das ein Fehler. Sie fordert transparente Verfahren, unabhängige Kontrollen sowie vollen Zugang zu sensiblen Gebieten: "Frontex muss von dem Mitgliedsland, in dem der Einsatz stattfindet, volle Kooperation bei Untersuchungen und vollständigen Zugang zu den Gebieten und den verfügbaren Informationen des gemeinsamen Einsatzes einfordern."
Die Frontex-Grenzschützer selbst erklärten bei dem Treffen mit den EU-Parlamentariern am Evros, dass der für Grundrechte zuständige Beamte keinen Zugang zu militärischem Sperrgebiet habe. Dort aber finden die Pushbacks statt. Auch Strik und ihren Parlamentskollegen wurde bei ihrem Besuch am Evros der Zugang verwehrt. "Frontex ist nur da im Einsatz, wo keine Pushbacks stattfinden, und die griechischen Behörden können tun, was sie wollen", sagt Strik der DW.
Sie fordert mehr offene Kritik von der EU-Kommission und den Mitgliedsstaaten, die im Verwaltungsrat von Frontex vertreten sind. Man könne keine substantiellen Verbesserungen erwarten, wenn man diese Pushbacks stillschweigend akzeptiere: "Mitgliedsstaaten müssen offen jene EU-Länder kritisieren, die ständig mit Vorwürfen von Pushbacks konfrontiert werden." Mit 754 Millionen Euro (im Jahr 2022) ist keine EU-Agentur besser finanziert als Frontex. Dies müsste laut Strik an Bedingungen geknüpft werden: "Die EU-Kommission sollte die Finanzierung von Grenzschutz an die Einhaltung von Menschenrechten knüpfen."