11.04.2022 Diese Frage stellt Pro Asyl heute im News-Beitrag, den wir hier zitieren:
Eine andere Flüchtlingspolitik ist möglich!
Europa zeigt dieser Tage eindrucksvoll, dass es in der Lage ist, große Fluchtbewegungen zu bewältigen. Geflüchtete aus der Ukraine kommen vielfach die ersten Tage privat unter, erhalten nach der Registrierung direkt einen Status, dürfen sich frei bewegen und arbeiten. Es stellt sich die Frage: Warum nicht immer so?
Über sieben Millionen Menschen sind laut UNHCR innerhalb der Ukraine auf der Flucht vor dem Krieg, mehr als 4,5 Millionen sind bereits in Nachbarstaaten geflohen und rund 300.000 davon befinden sich mittlerweile in Deutschland (Stand: 08. April). Die Aufnahme läuft größtenteils unproblematisch ab: Für Flüchtlinge aus der Ukraine gilt die Dublin-Verordnung, nach der Asylanträge im EU-Ersteinreisestaat gestellt werden müssen, nicht. Sie dürfen sich ihr Zufluchtsland frei aussuchen. Geregelt wurde das ist in der »Richtlinie über den vorübergehenden Schutz«, die von der Europäischen Union am 3. März aktiviert wurde und auch dafür sorgt, dass ukrainische Geflüchtete schnell ein Aufenthaltsrecht erhalten.
Aufnahme von Millionen Flüchtlingen: Kein Problem für die EU
Die Aufnahme all dieser Schutzsuchenden ist offensichtlich für die Staaten der EU möglich. Unzählige Menschen helfen bei der Erstversorgung der Geflüchteten, sie dürfen in vielen Ländern kostenlos mit öffentlichen Verkehrsmitteln an ihren Zielort reisen, staatliche Stellen werden durch vorübergehende oder sogar dauerhafte private Aufnahme von Ukrainer*innen entlastet und allerorts werden in Windeseile Anlaufstellen und Unterbringungsmöglichkeiten hochgezogen. Dazu kommt der erwähnte EU-Ratsbeschluss, der den Flüchtlingen einen Aufenthaltsstatus gibt, Sozialleistungen garantiert und ihnen ermöglicht, eine Arbeit aufzunehmen.
Dieses Zusammenspiel ist ein großartiges Beispiel dafür, wie Flüchtlingsaufnahme funktionieren kann!
Dieses Zusammenspiel ist ein großartiges Beispiel dafür, wie Flüchtlingsaufnahme funktionieren kann. Menschen, die gerade vor einem schrecklichen Krieg fliehen, oft in großer Sorge um Angehörige sind und vor einer ungewissen Zukunft stehen, müssen keinen großen bürokratischen Apparat durchlaufen, sind nicht ständig in Unsicherheit und Angst über ihr Bleiberecht und können sofort damit beginnen, hier in Deutschland Fuß zu fassen.
Es geht auch ohne Bürokratie und Restriktionen!
Vielen anderen Geflüchteten, die ebenfalls aus Kriegs- und Krisengebieten wie Syrien, Afghanistan und dem Irak stammen und ebenso schreckliche Dinge erlebt haben, ist das leider nicht vergönnt. Sie dürfen die erste Zeit in Deutschland nicht aus der Erstaufnahmeeinrichtung ausziehen, erhalten je nach Nationalität keinen Zugang zu Integrationskursen, werden mit Wohnsitzauflagen und Arbeitsverboten gegängelt. Viele von ihnen müssen lange auf Entscheidungen über ihren Asylantrag warten oder müssen sogar eine Abschiebung fürchten.
Und sie erhalten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, also noch unter dem Niveau von Hartz IV. Für Ukrainer*innen wurde das vergangene Woche beim Bund-Länder-Gipfel geändert: Sie können ab Juni reguläre Sozialleistungen nach dem SGB II oder XII beziehen. Das ist grundsätzlich sehr begrüßenswert, aber auch hier stellt sich die Frage: Warum nicht für alle? Weshalb gelten für nicht-ukrainische Geflüchtete Restriktionen, wieso erhalten sie nicht die gleichen Leistungen? Die aktuellen Erfahrungen zeigen ja eindrücklich, dass eine menschenwürdige Aufnahme nicht nur funktioniert, sondern auch für alle Seiten Vorteile hat.
Auch im Fall Ukraine: Selektive Solidarität
Mit einer traurigen Einschränkung: Drittstaatsangehörige, die ebenso vor dem Ukraine-Krieg fliehen, stehen oft vor den altbekannten Problemen – vor allem, wenn sie eine andere Hautfarbe haben oder zu den Roma gehören. Allein in Polen erhalten zehntausende von ihnen aus rassistischen Beweggründen nicht die gleiche Unterstützung wie andere Flüchtlinge aus der Ukraine. Laut Berichten werden unter anderem internationale Studierende in Polen in Haftzentren interniert – ähnlich wie die Geflüchteten, die über Belarus Schutz in Europa finden wollten. Auch in der Ukraine selbst gibt es von der EU finanzierte Haftzentren für Flüchtlinge aus anderen Staaten, die zum Teil weiterhin betrieben werden und in denen aus der EU abgeschobene Menschen um ihr Leben bangen.
Es ist Krieg und die Fluchtwege in die EU sind offen
Aber trotzdem fällt noch eine Sache auf: Man findet man nur wenige Meldungen über erfrorene oder ertrunkene Menschen an den EU-Grenzen. Zum Glück gibt es keine brutalen Pushbacks oder Familien, die im Wald campieren müssen und dort verhungern. Und es werden auch keine Kinder von Zügen überfahren, weil sie mitten in der Nacht illegal zurückgewiesen werden, wie die sechsjährige Medina 2017 an der kroatischen Grenze. Offene Fluchtwege sind also möglich!
Was ist mit den anderen?
Und mitunter treibt der Paradigmenwechsel in Europa interessante Blüten: Mittlerweile fordert Polen von der EU-Kommission einen Solidarmechanismus und Unterstützung von den anderen EU-Staaten bei der Flüchtlingsaufnahme. Jahrelang hatte man sich dort, gemeinsam mit anderen osteuropäischen Hardlinern, seinerseits einer solidarischen Beteiligung, ob durch Aufnahme von Menschen oder finanzielle Beiträge, verweigert. Aber auch jetzt scheint die neue Willkommenskultur weiterhin nur für bestimmte Menschengruppen zu gelten. Denn just an der polnisch-belarussischen Grenze, wo Geflüchtete immer noch versuchen, in die EU zu gelangen, spielt sich nach wie vor eine humanitäre Katastrophe ab.
Vergessen: Die Menschen an der polnisch-belarussischen Grenze
Die Bilder an der polnisch-belarussischen Grenze könnten nicht konträrer sein zu denen an der polnisch-ukrainischen Grenze: Weiterhin werden Schutzsuchende dort brutal zurückgedrängt, illegal abgeschoben, misshandelt. Und die gleichen Flüchtlingshelfer*innen, die etwas weiter südlich für ihr Engagement gefeiert werden, werden anderswo sogar inhaftiert, wenn sie einer vor dem Hungertod stehenden Familie das Leben retten.
Wenn Millionen ukrainische Geflüchtete in Europa Hilfe erhalten – wieso dann nicht auch die wenigen hundert Menschen, die seit Monaten an der Grenze zwischen Polen und Belarus ausharren?
Wenn Millionen ukrainische Geflüchtete in Europa Hilfe erhalten – wieso dann nicht auch die wenigen hundert Menschen, die seit Monaten an der Grenze zwischen Polen und Belarus ausharren?
Vergessen: Die Menschen in den griechischen Lagern
Vor Krieg und Verfolgung sind auch viele Menschen geflohen, die noch immer in Griechenland feststecken. Die meisten von ihnen stammen aus Afghanistan, Syrien, dem Irak. Zehntausende von ihnen harren dort aus, einige Tausend davon in den Elendslagern auf den griechischen Inseln. Jene Elendslager, die nach dem Brand in Moria große öffentliche Aufmerksamkeit erfuhren. Eine niedrige vierstellige Zahl an Menschen nahm Deutschland damals auf – und das Prozedere dauerte monatelang. Aber auch, wer es von den Inseln heruntergeschafft hat, lebt nicht unbedingt in besseren Umständen: Die Lager auf dem Festland sind ebenso elendig. Und anerkannte Schutzberechtigte erhalten in Griechenland keinerlei staatliche Unterstützung. Viele Familien leben daher auf der Straße.
Wenn Deutschland hunderttausende Menschen aus der Ukraine ohne Klagen und größere Schwierigkeiten aufnehmen kann – wieso können wir dann nicht endlich auch den Kriegsflüchtlingen und verfolgten Menschen helfen, die seit Jahren ohne Perspektive in Griechenland festsitzen?
Vergessen: Die Menschen, die im Mittelmeer ertrinken
Erst vor wenigen Tagen war es wieder eine Randnotiz in den Medien: Fast 100 Menschen sind im Mittelmeer bei einem Bootsunglück ertrunken, auf der Flucht nach Europa. Knapp 2.000 Todesopfer waren es 2021 gemäß UNHCR, die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein. Rund 30.000 Menschen wurden bei der Flucht abgefangen und zurück nach Libyen gebracht. Viele von ihnen dürften in den berüchtigten Haftlagern festgehalten werden.
Wenn offene Fluchtwege, um Menschenleben zu retten, jetzt endlich möglich sind – wieso wird dem massenhaften Ertrinken im Mittelmeer dann immer noch tatenlos zugesehen und warum kooperiert die EU mit denjenigen, die Schutzsuchende in Folterlagern einsperren?
Vergessen: Die zurückgelassenen Ortskräfte in Afghanistan
Auch mehr als ein halbes Jahr nach der Machtübernahme der Taliban sind immer noch nicht alle Menschen gerettet, die in Afghanistan für deutsche Institutionen gearbeitet haben, sich für Menschenrechte einsetzten oder deren Familie in Deutschland lebt. Von den rund 30.000 gefährdeten Personen mit einer Aufnahmezusage hat es erst weniger als die Hälfte nach Deutschland geschafft! Die Evakuierungen stocken, der politische Wille scheint nicht vorhanden zu sein – dabei wird besonders für engagierte Frauen die Situation immer prekärer. Gerade weil die Weltöffentlichkeit auf die Ukraine blickt, scheinen die Repressionen und die Brutalität der Taliban immer weiter zuzunehmen.
Europa kann, wenn es will. Auf dieser positiven Erfahrung muss nun aufgebaut werden! Es darf keine Geflüchteten erster und zweiter Klasse geben!
Wenn eine Luftbrücke zur Umverteilung von Ukraine-Flüchtlingen möglich ist – wieso gibt es immer noch keine nach Afghanistan und Menschen, die dort in Lebensgefahr schweben und auf Rettung durch uns angewiesen sind, werden seit Monaten im Stich gelassen?
Solidarität mit allen Menschen auf der Flucht!
Die Europäische Union mit ihren rund 447 Millionen Einwohnern hat die Möglichkeit, auch mehreren Millionen Menschen Schutz zu bieten. Das sagen wir und viele andere schon lange und die aktuelle Situation zeigt es mehr als deutlich: Europa kann, wenn es will. Auf dieser positiven Erfahrung muss nun aufgebaut werden. Unsere Solidarität ist unteilbar. Sie darf nicht nur einzelnen Gruppen gelten. Sie muss allen Menschen, die vor Krieg, Folter und Verfolgung fliehen, zuteilwerden. Es darf keine Geflüchteten erster und zweiter Klasse geben!
(mk / wj)