Europäische Gerichtshof: Zugang zum Recht auf Asyl gilt auch in Krisenzeiten

30.06.2022 In einer Pressemitteilung bewertet Pro Asyl das aktuelle Urteil:

Europäischer Gerichtshof verurteilt Litauen und zieht rote Linien

Es ist ein guter Tag für den erodierenden Flüchtlingsschutz in Europa, denn der Europäische Gerichtshof hat ein klares Stoppsignal an die Staaten gesandt, die Pushbacks und andere Völkerrechtsbrüche legalisieren wollen.

PRO ASYL begrüßt, dass der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) mit seinem heutigen Urteil der fortschreitenden Erosion der Flüchtlingsrechte Einhalt gebietet. Die Gesetzesverschärfungen Litauens im Zuge der Fluchtbewegung über Belarus sind ein klarer Verstoß gegen die Verfahrens- und Aufnahmerichtlinie und die Charta der Grundrechte der EU. Der EuGH macht deutlich: Der Zugang zum Recht auf Asyl gilt auch in Krisenzeiten.

Der EuGH verurteilte die durch Gesetzesänderungen kodifizierten Völkerrechtsbrüche Litauens: Pushbacks sind illegal, die Verweigerung von Asyl und die pauschale Inhaftierung von Schutzsuchenden sind nicht im Einklang mit Unionsrecht! Auch bei dem Vorliegen von „außergewöhnlichen Umständen“ oder einem „massiven Zustrom“ von Schutzsuchenden, darf das grundsätzliche Recht auf Zugang zu einem Asylverfahren nicht ausgehebelt werden. Das schließt auch das Verbot der Zurückweisung und das Verbot der willkürlichen, systematischen Inhaftierung von Geflüchteten ein.

„Im Jahr 2022 ist die Feststellung dieser völkerrechtlichen Selbstverständlichkeiten bitter nötig. Der Gerichtshof hat damit den EU-Staaten einige rote Linien aufgezeigt. Ein guter Tag für den geschundenen Flüchtlings- und Menschenrechtsschutz in Europa und ein klares Stoppsignal für die EU-Staaten, die Pushbacks, systematische Inhaftierung und andere Völkerrechtsbrüche ´legalisieren´ wollen“, so Karl Kopp, Leiter der Europaabteilung von PRO ASYL.

Hintergrund       

Seit Sommer 2021 kamen tausende Flüchtlinge über Belarus an die EU-Außengrenze Litauens, wurden dort aber zurückgewiesen. Nach der Ausrufung eines Notstands aufgrund eines „Massenzustroms“ änderte das litauische Parlament ab Juli 2021 die Asylgesetzgebung mehrmals. Durch die Gesetzesverschärfungen wurden die Rechte von Schutzsuchenden, einschließlich des Verbots der Zurückweisung, des Rechts auf Asylantragstellung und des Rechts auf Schutz vor willkürlicher Inhaftierung, massiv eingeschränkt. Die problematischen Bestimmungen schreiben die Verweigerung des Zugangs zu Asylverfahren für Personen, die irregulär ins Land gekommen sind, vor, und eine pauschale Politik der automatischen und daher willkürlichen Inhaftierung von Asylsuchenden.

 

Tagesschau: Asylnotstand in Litauen nicht rechtens

Stand: 30.06.2022

Als der belarusische Diktator Lukaschenko 2021 Tausende Flüchtlinge über die Grenzen in EU-Staaten schickte, erließ Litauen Notstandsregeln. Asylanträge wurden damals kaum angenommen. Dem erteilte der EuGH nun eine Absage.

Im Sommer 2021, vor gut einem Jahr, ging es los: Plötzlich kamen immer mehr Menschen über Belarus nach Litauen, Lettland und Polen. Bald warf die EU dem belarusischen Machthaber Alexander Lukaschenko vor, diese Menschen in großer Zahl über die EU-Außengrenzen zu schleusen, um Druck auszuüben.

Litauen rief daraufhin den Notstand aus und verschärfte seine Gesetze. Wer illegal die Grenze übertreten hatte, durfte danach grundsätzlich im Land keinen Asylantrag mehr stellen. Viele wurden nach diesen Gesetzen auch direkt inhaftiert. Amnesty International kritisiert bis heute, dass die litauischen Behörden seither Tausende von Menschen monatelang willkürlich in heruntergekommenen Haftzentren festhalten, wo sie auch Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt seien. 

Notstandsregeln gesetzwidrig

Ein Mann, der nach illegalem Grenzübertritt im November in Litauen inhaftiert worden war, klagte dagegen. Nach eigenen Angaben hatte er damals einem Beamten einen schriftlichen Antrag auf Asyl überreicht. Aber diesen Antrag hatten die litauischen Behörden wohl schlicht nicht registriert. Und einen weiteren Antrag vom Januar wiesen sie wegen Verspätung zurück. Das Oberverwaltungsgericht Litauens wollte nun vom obersten Gericht der EU, dem EuGH, mit einem Eilantrag wissen, ob diese neuen litauischen Notstandsregeln überhaupt mit dem EU-Recht vereinbar sind.

Die erste Kammer des EuGH antwortet nun sehr deutlich: So gehe es nicht. Auch wenn jemand illegal einreist, müsse er einen Asylantrag stellen können. Das sei in der europäischen Grundrechtecharta so vorgesehen. Sonst würde das Recht auf Asyl leerlaufen. Das gelte auch für den Fall, dass ein Staat den Notstand ausrufe wegen massenhafter Einreise von Menschen aus Staaten außerhalb der EU.

Sondermaßnahmen durchaus möglich

Allerdings, darauf weist das Gericht hin: Die Behörden dürften durchaus an den Grenzen spezielle Verfahren einführen, um offensichtlich unbegründete oder missbräuchliche Anträge zu prüfen. Das sei zum Schutz der Außengrenzen denkbar und könne auch dazu dienen, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten.

Aber die Menschen zu inhaftieren, einfach weil sie illegal eingereist seien, das sei nicht zulässig. Jedenfalls dann nicht, wenn es auch andere Möglichkeiten gebe, sie zu überwachen, wie etwa eine durch Meldepflicht. Das europäische Recht würde zwar Haft in ganz konkreten Fällen erlauben. Aber nur weil jemand ohne Papiere die Grenze übertreten und internationalen Schutz beantragt hätte, dürfe er nicht eingesperrt werden. Selbst im Fall eines Notstands könnten Menschen nur inhaftiert werden, wenn sie durch ihr jeweiliges Verhalten eine echte Bedrohung darstellen würden. Die illegale Einreise an sich sei aber keine gefährliche Bedrohung.

Flüchtlingsorganisation zufrieden

Die Flüchtlingsschutzorganisation Pro Asyl begrüßte die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs. Der EuGH würde der fortschreitenden Erosion der Flüchtlingsrechte Einhalt gebieten. Und er würde deutlich machen: Der Zugang zum Recht auf Asyl gelte auch in Krisenzeiten.