15.06.2022 Großbritannien will Schutzsuchende, gleich welchen Herkunftslandes, für die Dauer ihres Verfahrens nach Ruanda abschieben und mit diesem Plan weitere abschrecken, zum Beispiel den Weg über den Ärmelkanal zu versuchen. Doch der erste Abschiebeflieder des zynischen Ruanda-Paktes musste gestern am Boden bleiben. Der von einem Iraker angerufene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied mit einer seltenen direkten Intervention gegen die Abschiebung des Mannes. Dieser Entscheidung folgten sofort verschiedene britische Gerichte in anderen Fällen, so dass der Zweck des Fluges nicht zustande kam.
"Die Regierung von Premierminister Boris Johnson will mit dem Verfahren gegen Schleuserbanden vorgehen und unerwünschte Einreisen über den Ärmelkanal unattraktiv machen. Nach Johnsons Plänen erhält Ruanda anfangs 120 Millionen Pfund (etwa 144 Millionen Euro) für die Zusammenarbeit. Vergangenes Jahr sind mehr als 28.000 Migranten und Flüchtlinge über dem Ärmelkanal nach Großbritannien gekommen. Politische Gegner, Wohlfahrtsverbände und hochrangige Geistliche haben sich über das Vorhaben entsetzt geäußert. Die Vereinten Nationen sehen in dem britischen Vorhaben einen Bruch internationalen Rechts und einen gefährlichen Präzedenzfall.", fasste der SPIEGEL den Plan zusammen.
Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 14.06.2022
Umstrittener Abschiebeflug nach Ruanda abgesagt
Trotz einer aufsehenerregenden Niederlage vor Gericht will die britische Regierung an ihrem umstrittenen Plan festhalten, Asylsuchende verschiedener Nationalitäten nach Ruanda auszufliegen. "Wir lassen uns nicht davon abschrecken, das Richtige zu tun und die Grenzen unserer Nation zu schützen", sagte Innenministerin Priti Patel, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg mit einer seltenen Intervention die Pläne ihrer Regierung zunächst durchkreuzt hatte. Man arbeite nun bereits daran, den nächsten Flug vorzubereiten, ergänzte Patel.
"Ich bin enttäuscht, dass Klagen und Rechtsstreits in letzter Minute dafür gesorgt haben, dass der heutige Flug nicht abheben konnte", sagte die Politikerin. Es sei sehr überraschend, dass sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eingeschaltet habe, nachdem britische Gerichte zuvor anders entschieden hätten.
Der erste geplante Abschiebeflug nach Ruanda war kurz vor der Abreise gerichtlich gestoppt worden. London hatte mit dem Flug seinen umstrittenen Ruanda-Pakt einläuten wollen, mit dem die konservative Regierung weitere Schutzsuchende von der Einreise ins Vereinigte Königreich abschrecken will. Die Vereinbarung sieht vor, dass Schutzsuchende, die illegal nach Großbritannien gelangt sind, unabhängig von ihrer Nationalität oder Herkunft in das ostafrikanische Land gebracht werden und dort gegen Zahlungen der britischen Regierung die Möglichkeit für einen Asylantrag erhalten. Selbst wenn sie dort als Flüchtlinge anerkannt werden, soll es in keinem Fall eine Rückkehr nach Großbritannien geben.
Die Vereinten Nationen und viele andere Organisationen sehen darin einen Bruch internationalen Rechts und einen gefährlichen Präzedenzfall. Sogar der zur politischen Neutralität verpflichtete Thronfolger Prinz Charles soll sich Medienberichten zufolge "entsetzt" über den Plan geäußert haben.
Gerichtsentscheidung löst Kettenreaktion aus
Von britischen Gerichten gab es für den Flug zwar grundsätzlich grünes Licht, allerdings waren viele Einzelklagen erfolgreich, weshalb die Zahl der für Dienstagabend eingeplanten Passagiere in den Tagen zuvor immer kleiner wurde.
Die außergewöhnliche Intervention des Straßburger Gerichts in einem Fall löste gewissermaßen eine Kettenreaktion aus: Die verbleibenden Betroffenen konnten sich auf die Entscheidung berufen und auch ihre eigene Ausreise zunächst erfolgreich verhindern. In gerade einmal gut einer Stunde sei der Plan für den ersten Ruanda-Flug "wie ein Kartenhaus" in sich zusammengefallen, kommentierte der BBC-Korrespondent Dominic Casciani nach der Entscheidung.
Straßburg hatte die britischen Behörden in einer sogenannten einstweiligen Maßnahme aufgefordert, einen irakischen Asylsuchenden, der ursprünglich an Bord sein sollte, frühestens drei Wochen nach einer finalen Entscheidung in seinem in Großbritannien laufenden Verfahren außer Landes zu bringen. Einstweilige Maßnahmen sind dem Gericht zufolge verbindlich und werden nur selten und bei unmittelbarer Gefahr eines irreparablen Schadens ausgesprochen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gehört zum Europarat. Gemeinsam setzen sich die von der Europäischen Union unabhängigen Organe für den Schutz der Menschenrechte in den 46 Mitgliedstaaten ein. Bislang hat das Straßburger Gericht auch in Großbritannien in solchen Fragen das letzte Wort. Die jüngste Entscheidung dürfte die Debatte befeuern, ob dies so bleiben soll. Danach gefragt, deutete Premierminister Boris Johnson in einem Interview an, dass Änderungen nicht auszuschließen seien.