15.11.2022 Eine Stimme sachlicher Argumentation gegen die Hektik der Abschottungsbefürworter lässt jetzt die Zeit mit einem Gastbeitrag zu Wort kommen: Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger schätzt ein, dass der Außengrenzschutz das Problem nur verschärfe, immer mehr Menschen in die Illegalität getrieben würden und angesichts der Widersprüchlichkeiten im Einreiseregime eine Lösung der europäischen "Flüchtlingsfrage" undenkbar sei.
Wir zitieren den interessanten Beitrag vom 14.11.2022:
Warum die Festung Europa nicht funktionieren wird
Noch mehr Kontrolle der EU-Außengrenzen führt nicht zwangsläufig zu weniger Schlepperei. Im Gegenteil: Immer mehr Menschen werden so in die Illegalität getrieben.
Ein Gastbeitrag von Judith Kohlenberger
Judith Kohlenberger ist Migrationsforscherin an der Wirtschaftsuniversität Wien und promovierte Kulturwissenschaftlerin. In ihrem Gastbeitrag plädiert sie für einen einfacheren Zugang von Geflüchteten zum Arbeitsmarkt.
Nach zwei Jahren Pandemieberichterstattung bekommt das Thema Migration wieder mehr Aufmerksamkeit. Die Zahl der Menschen, die in Deutschland Zuflucht suchen, ist zuletzt deutlich gestiegen. Da wären einerseits Hunderttausende Vertriebene aus der Ukraine, deren Anzahl aufgrund der Energiekrise in der Ukraine, aber auch möglicher weiterer Migration aus Nachbarländern wie Polen über die Wintermonate zu steigen droht.
Andererseits nehmen Wanderbewegungen auf der Balkanroute merklich zu. Darunter befinden sich Menschen aus Ländern wie Syrien und Afghanistan, die vor Bürgerkrieg und einem repressiven Regime fliehen. Aber auch Staatsangehörige aus Indien oder Tunesien seien unter den Aufgegriffenen, berichtet die Grenzschutzagentur Frontex. Nach Serbien können sie aufgrund der nationalistischen Visapolitik mit dem Flugzeug einreisen, der weitere Weg führt sie dann über die grüne Grenze nach Ungarn oder Kroatien, in die Slowakei und zuletzt nach Österreich und Deutschland. Spätestens in Deutschland werden sie von der Grenzpolizei nicht mehr weitergewunken, sondern aufgegriffen und stellen einen Antrag auf Asyl – andernfalls würden sie sofort abgeschoben. Aussicht auf Asylgewährung haben sie jedoch kaum.
Immer restriktivere Routen nach Europa
Viele unter ihnen rechnen auch nicht mit einem positiven Asylbescheid. Pikanterweise warten die meisten der in Österreich aufgegriffenen indischen oder tunesischen Staatsangehörigen den Ausgang des Asylverfahrens gar nicht ab, sondern wandern innerhalb weniger Wochen nach Spanien, Italien oder Deutschland weiter. Dort verdingen sie sich als Erntehelfer oder Fahrradkuriere – oft in Schwarzarbeit, weil sie keinen gültigen Aufenthaltstitel haben. Was sie also in Europa suchen, ist nicht Asyl, sondern Arbeit. Diese gibt es aufgrund des demografischen Wandels und coronabedingter Umorientierung heimischer Arbeitskräfte nicht nur im hochqualifizierten Sektor.
Was es jedoch kaum gibt, sind taugliche Einreisemöglichkeiten für Menschen aus Drittstaaten, um ihren Aufenthalt und in weiterer Folge ihre Erwerbstätigkeit zu legalisieren. De facto sehen sich Migrationswillige aus dem Globalen Süden mit immer restriktiveren Routen nach Europa konfrontiert. Die Visabeantragung ist für sie unverhältnismäßig teuer und wenig aussichtsreich: Während ein Europäer im Schnitt eine Stunde arbeiten müsste, um sich die Beantragung eines Visums leisten zu können, sind es für einen Afrikaner 25 bis 70 Tage. So zeigt das Global Visa Cost Dataset einen starken negativen Zusammenhang zwischen den Kosten für ein Touristenvisum und dem Bruttonationaleinkommen pro Kopf des Herkunftslandes. Die Visakosten variieren also nach einer Logik, die die Bürger reicherer Länder begünstigt. Diese ökonomische Selektion bei der Visavergabe ist nur einer der paradoxen Grundpfeiler des globalen Grenzregimes, dem eine "sortierende" Wirkweise zukommt: In Ermangelung legaler Einreisemöglichkeiten, aber gedrängt durch Konflikt, Klimakrise und wirtschaftliche Not in den Herkunftsländern, bleibt vielen Menschen kaum etwas anderes übrig, als auf die Asylschiene auszuweichen.
Zwar hat Deutschland mit dem Spurwechsel und dem Chancen-Aufenthaltsrecht erste Weichen gestellt, um die Realität der "gemischten Migration" in seinen Einreisekategorien abzubilden. Diesen Weg suchen immer mehr Menschen: Befanden sich Ende 2020 noch 2.400 Personen in der Ausbildungsduldung, so waren es Mitte 2022 dreieinhalbmal so viele. Die meisten von ihnen stammen aus Afghanistan, aus dem Iran, Irak, Gambia und Guinea. Die Statistik zeigt aber auch: Nicht nur die Zahl der Geduldeten, sondern auch jener, die dafür infrage kommen, steigt kontinuierlich. Seit 2019 ist die Gruppe der Ausreisepflichtigen, die aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen nicht abgeschoben werden können, um rund 20 Prozent gewachsen. Nur ein Bruchteil von ihnen schafft aber den Spurwechsel in die Ausbildung.
Dabei sind Asylverfahren und Duldung für das Aufnahmeland die denkbar schlechteste, weil teuerste Option, muss doch für jeden Antragsteller ein rechtsstaatliches Verfahren durchgeführt werden. Für Betroffene bedeutet es monatelanges Nichtstun, nachhaltige Erosion ihres Humankapitals und ihrer Motivation sowie, in manchen Fällen, ein Untertauchen in illegale Dienstleistungsmärkte. Ein wirklich modernes Aufenthaltsrecht würde also bereits vor dem Eintritt ins Asylverfahren ansetzen, wodurch ein späterer Spurwechsel nicht mehr notwendig wäre. So aber bleibt als politische Antwort nur, Einreisewilligen vorzuwerfen, sie würden das Asylwesen unrechtmäßig "belasten", wogegen wiederum verstärkter Grenzschutz Abhilfe schaffen soll.
Außengrenzschutz, der das Problem nur verschärft
Dabei zeigt die Forschung, dass mehr Grenzkontrolle nicht zwangsläufig sinkende Asylantragszahlen oder weniger Schlepperei zur Folge hat. Das Gegenteil kann eintreten, weil fortifizierte Grenzen Migranten dazu verleiten, auf immer gefährlichere Wege auszuweichen. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie dafür die (kostspielige) Hilfe von Schleppern in Anspruch nehmen und ihr Leben auf Schlauchbooten oder in Lieferwägen aufs Spiel setzen. Streng bewachte Grenzen führen also nicht zwingend zu einem Rückgang von Ankünften, sehr wohl aber zur unbeabsichtigten Umleitung der Wanderbewegungen auf gefährlichere Routen und Jetzt-oder-nie-Schüben, bevor eine angekündigte Grenzschließung in die Tat umgesetzt wird. Diese Substitutionseffekte sind vielfach empirisch belegt. Allein sie werden von Politik und Verwaltung geflissentlich ignoriert. Lieber schießt man weiterhin viel europäisches Steuergeld in den (Außen-)Grenzschutz, der das Schlepperwesen nicht bekämpft, sondern erst notwendig macht.
Solange diese Widersprüchlichkeiten im Einreiseregime bestehen, bleibt eine Lösung der europäischen "Flüchtlingsfrage" undenkbar. Aktuell ist jegliche Intervention innerhalb des Systems auf reine Symptombekämpfung beschränkt. Dahinter steht nicht zuletzt ein politischer Widerspruch: Geben die EU-Mitgliedsstaaten zwar vor, an Reformen zu arbeiten, schlagen aber tatsächlich aus der Dauerkrisenstimmung innenpolitisches Kleingeld, um Wahlen zu gewinnen, wird nur der Status quo zementiert. Eine Offenlegung dieses paradoxen Fundaments wäre ein erster notwendiger Schritt, um Verantwortung nicht nur gegenseitig einzufordern, sondern auch wahrzunehmen – und zwar politisch wie moralisch.