Fluchtroute Mittelmeer: Kinder wagen gefährliche Überfahrt

24.10.2025 Seenotrettungsorganisationen wie SOS Humanity schlagen Alarm: Viele Kinder und Jugendliche riskieren ihr Leben, um Europa zu erreichen. 

Schätzungen der Kinderhilfsorganisation UNICEF vom April 2025 zufolge, sind in den letzten zehn Jahren etwa 3500 Kinder bei dem Versuch gestorben oder verschwunden, über die zentrale Mittelmeerroute nach Italien zu gelangen. Das bedeutet: ein totes oder vermisstes Kind pro Tag, ein ganzes Jahrzehnt lang.

Rund ein Fünftel der Geretteten seien Minderjährige.

"Der Anteil der Minderjährigen unter den fliehenden Menschen steigt eigentlich in den letzten zehn Jahren stetig. Bei den gesamten Ankünften in Italien sind ungefähr ein Fünftel Minderjährige. Bei unseren Rettungen sind es im Durchschnitt sogar mehr als ein Drittel", sagte der Geschäftsführer von SOS Humanity, Till Rummenhohl, auf der Pressekonferenz. "Wir hatten neulich ein ganzes Boot mit 120 minderjährigen Insassen. Komplett panische Jugendliche, die alleine unterwegs waren, und aus Angst vor der libyschen Küstenwache ins Wasser gesprungen sind."

Von einer gemeinsamen Online-Pressekonferenz der Seenotrettungsorganisation SOS Humanity und der SOS Kinderdörfer am 21.10.2025 berichteten epd und die Deutsche Welle.

Berlin (epd). Private Seenotretter und Kinderrechtsorganisationen haben die Gewalt gegen Minderjährige auf der Flucht kritisiert. Sie seien häufig Missbrauch, Folter und anderen Formen von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, sagte die Vorstandsvorsitzende von SOS Kinderdörfer, Lanna Indris, am Dienstag bei einer gemeinsamen Online-Pressekonferenz mit der Seenotrettungsorganisation SOS Humanity.

Laut dem Geschäftsführer von SOS Humanity, Till Rummenhohl, drohen Kindern und Jugendlichen vor allem in Libyen und Tunesien Gefahren. Hier seien Minderjährige bei ihren Fluchtversuchen Erpressung und systematischer Zurückweisung ausgesetzt, sagte Rummenhohl. Sie würden meist schon an Land getrennt von ihren Eltern untergebracht. „Am Ende landen gerade Kinder und Jugendliche häufig auf Booten, die so schlecht sind, dass sie schon bei der kleinsten Welle untergehen“, sagte er.

Rummenhohl kritisierte zudem die Unterstützung der Europäischen Union (EU) für die libysche Küstenwache und den tunesischen Grenzschutz. Dies trage zu gewaltsamen und unrechtmäßigen Rückführungen bei. Von der Reform des EU-Asylrechts, die 2026 in Kraft treten soll, seien dabei keine wesentlichen Verbesserungen für Kinder und Jugendliche auf der Flucht zu erwarten.

SOS Humanity ist mit einem Rettungsschiff, der „Humanity 1“, im Mittelmeer aktiv. Ab 2026 plant die Organisation mit dem Segelschiff „Humanity 2“ eine weitere Rettungsmission vor der tunesischen Küste. Die Seenotretter kooperieren unter anderem mit SOS Kinderdörfer.

 

Seenotrettungsorganisationen wie SOS Humanity schlagen Alarm: Viele Kinder und Jugendliche riskieren ihr Leben, um Europa zu erreichen.

"Niemand würde sein Leben auf dem Meer riskieren, wenn es einen besseren Weg gäbe. Aber es gibt keine andere Lösung. Deshalb riskieren wir unser Leben." Das sagte ein 15-jähriger Junge aus Guinea, der als allein reisender Minderjähriger von der Seenotrettungsorganisation SOS Humanity gerettet wurde.

Die Berliner Nichtregierungsorganisation für zivile Seenotrettung, die seit zehn Jahren Geflüchtete vor dem Ertrinken rettet, warnt: Immer mehr Kinder und Jugendliche setzen sich von Libyen oder Tunesien aus allein in völlig überfüllte und häufig fahruntüchtige Boote. Rund ein Fünftel der Geretteten seien Minderjährige.

So wie bei dem Einsatz der Diplom-Psychologin Esther, die als ehrenamtliche Mental-Health-Beauftragte im November und Dezember 2024 an Bord des Rettungsschiffes Humanity 1 war. Esther will ihren Nachnamen nicht nennen. Sechs Boote mit 347 Menschen hätten sie in dieser Zeit gerettet, berichtet sie bei einem Pressegespräch von SOS Humanity. Darunter seien 43 Minderjährige gewesen, vor allem körperlich und psychisch völlig geschwächte unbegleitete Jugendliche.

"Sie waren oft mehrere Tage und Nächte ohne Essen und Trinken auf dem Meer, waren dehydriert, seekrank und hatten oft auch Verbrennungen durch den Kontakt mit Salzwasser und Treibstoff. Viele haben leider auch Krätze oder andere Hautkrankheiten und Wunden, weil sie eben längere Zeit in den Lagern in Libyen festgehalten werden. Und alle sind emotional sehr erschöpft."

Minderjährige in großer Gefahr in libyschen Lagern

Vor allem die Situation in den libyschen Lagern, in die auch die Minderjährigen bei einer gescheiterten Flucht über das Mittelmeer von der libyschen Küstenwache zurückgebracht werden, seien für die jungen Menschen katastrophal. Schon seit Jahren steht der nordafrikanische Staat, der nach einem millionenschweren Abkommen mit der Europäischen Union den Grenzschutz übernehmen und die Flüchtlingszahlen drastisch reduzieren soll, wegen gravierender Menschenrechtsverletzungen massiv in der Kritik.

"Die Jugendlichen berichteten mir von schweren Formen sexualisierter Gewalt, Folter, Kinderarbeit, Verlust von Angehörigen, und auch Fällen von Menschenhandel bei Frauen. Teilweise haben mir die jungen Menschen auch ihre Folterspuren gezeigt. Narben, die sie hatten, aber auch Fotos und Videos aus den libyschen Lagern, die zeigen, wie sie gefesselt sind und gefoltert werden", sagt die ehrenamtliche Seenotretterin Esther.

3500 tote oder vermisste Minderjährige im Mittelmeer

Schaffen es die Minderjährigen aus den Lagern heraus, droht ihnen auf der Überfahrt eine noch größere Gefahr. Schätzungen der Kinderhilfsorganisation UNICEF vom April 2025 zufolge, sind in den letzten zehn Jahren etwa 3500 Kinder bei dem Versuch gestorben oder verschwunden, über die zentrale Mittelmeerroute nach Italien zu gelangen. Das bedeutet: ein totes oder vermisstes Kind pro Tag, ein ganzes Jahrzehnt lang. SOS Humanity fordert deshalb ein sofortiges Ende der Zusammenarbeit der Europäischen Union mit Libyen und auch Tunesien.

"Der Anteil der Minderjährigen unter den fliehenden Menschen steigt eigentlich in den letzten zehn Jahren stetig. Bei den gesamten Ankünften in Italien sind ungefähr ein Fünftel Minderjährige. Bei unseren Rettungen sind es im Durchschnitt sogar mehr als ein Drittel", sagte der Geschäftsführer von SOS Humanity, Till Rummenhohl, auf der Pressekonferenz. "Wir hatten neulich ein ganzes Boot mit 120 minderjährigen Insassen. Komplett panische Jugendliche, die alleine unterwegs waren, und aus Angst vor der libyschen Küstenwache ins Wasser gesprungen sind."

Auflösung von USAID hat dramatische Konsequenzen

Das Problem, dass sich immer mehr Kinder und Jugendliche auf den gefährlichen Weg nach Europa machen, könnte sich in Zukunft noch verschärfen, warnt Lanna Idriss bei dem Pressegespräch. Die Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdörfer weltweit. Hintergrund: Die US-Regierung unter Präsident Donald Trump hat die Entwicklungshilfe-Agentur USAID aufgelöst, was dramatische Folgen haben könnte.

Das Fachmagazin "The Lancet" hat vorgerechnet, dass der Kahlschlag bei USAID in den kommenden fünf Jahren mehr als 14 Millionen zusätzliche Tote zur Folge haben könnte; darunter fünf Millionen Kinder unter fünf Jahren. Und auch Deutschland hat seine Entwicklungshilfe um fast eine Milliarde Euro zusammengestrichen.

"Damit begeben wir uns in einen Teufelskreis, der dazu führt, dass mehr Kinder auf diese Route gehen werden", sagt Idriss und nennt das Beispiel Somalia. "Das Land war zu 80 Prozent von USAID abhängig. Während wir im letzten Jahr in Somalia noch viereinhalb Millionen Kinder und Jugendliche erreicht haben, waren es dieses Jahr nur noch 1,3. Warum ist das so? Weil die Lager, die zur Versorgung dieser Kinder und Jugendlichen gedacht sind, seit dem Sommer leer sind."

UN-Kinderrechtskonvention sieht besonderen Schutz vor

Anruf bei Vera Magali Keller. Die Juristin leitet eine Kanzlei in Berlin, die sich auf die Unterstützung humanitärer Organisationen spezialisiert hat, darunter auch Seenotrettungsorganisationen. Kinder und Jugendliche müssten bei der Rettung auf See vorrangig geschützt und evakuiert werden, erinnert die Rechtsanwältin gegenüber der DW an die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, zu der sich alle Staaten verpflichtet hätten.

Und weiter: "In verschiedenen europäischen Staaten gibt es besondere Bleibeperspektiven, Schutzansprüche und Ansprüche auf Familienzusammenführung. In Italien gilt dies zum Beispiel oft bis zur Volljährigkeit. Grundsätzlich müssen Kinder und Jugendliche getrennt von Erwachsenen untergebracht und besonders geschützt werden, es soll möglichst keine Freiheitsentziehung erfolgen."

Bundesregierung stoppt Unterstützung der zivilen Seenotrettung

Die Seenotrettungsorganisation SOS Humanity hat angekündigt, 2026 ein weiteres Rettungsschiff im Mittelmeer einzusetzen, welches vor allem vor der tunesischen Küste nach Flüchtlingsbooten Ausschau und Menschenrechtsverletzungen beobachten soll. Dabei muss sie auf Spendengelder zurückgreifen, die Bundesregierung aus CDU/CSU und SPD hat die finanzielle Unterstützung der zivilen Seenotrettung in Höhe von zwei Millionen Euro pro Jahr eingestellt. Nicht nur deswegen ist Keller für die Zukunft pessimistisch:

"Angesichts der aktuellen politischen und gesetzlichen Entwicklungen sehe ich keine guten Aussichten. Ich befürchte, dass sich die Kriminalisierung und Repression von ziviler Seenotrettung und Solidarität mit Menschen auf der Flucht unter der aktuellen Koalition verschärfen werden. Ebenso werden sich die aktuell schon desaströsen Schutz- und Aufnahmestandards für Geflüchtete in Europa weiter verschlechtern."