14.05.2022 "Als die Ampel-Regierung ihr Amt antrat, hatte sie sich mit Blick auf die Flüchtlingspolitik und den Familiennachzug viel vorgenommen: Die Visavergabe soll beschleunigt und verstärkt digitalisiert werden, minderjährige Geschwister beim Familiennachzug nicht länger ausgenommen sein. Die diskriminierende Unterscheidung zwischen Flüchtlingen, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) anerkannt sind, und denen, die subsidiären Schutz erhalten, soll abgeschafft werden". Knapp 100 Tage nach dem Koalitionsvertrag stellt Pro Asyl fest, dass das vereinbarte beschleunigte Verfahren zum Familiennachzug ein bisher uneingelöstes Versprechen ist. "SPD, FDP und Grüne haben bisher weder entsprechende Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht – etwa zur Gleichstellung von subsidiär Geschützten mit GFK-Flüchtlingen – noch haben sie für Verbesserungen auf Verwaltungsebene gesorgt, die ohne Gesetzesänderungen leicht möglich wären." Die Auswirkungen und Folgen werden an drei Beispielen aufgezeigt. Hier Beitrag in den News vom 13.05.2022:
Familiennachzug: Wenn die Mama tausende Kilometer weit weg ist
Im Koalitionsvertrag hat sich die Ampel-Regierung zu einem beschleunigten Verfahren zum Familiennachzug bekannt. Doch bisher sind den Worten keine Taten gefolgt. Noch immer sind tausende Flüchtlingsfamilien voneinander getrennt. Zum Tag der Familie am 15. Mai fordert PRO ASYL: Die Bundesregierung muss ihr Versprechen einlösen.
Als die Ampel-Regierung ihr Amt antrat, hatte sie sich mit Blick auf die Flüchtlingspolitik und den Familiennachzug viel vorgenommen: Die Visavergabe soll beschleunigt und verstärkt digitalisiert werden, minderjährige Geschwister beim Familiennachzug nicht länger ausgenommen sein. Die diskriminierende Unterscheidung zwischen Flüchtlingen, die nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) anerkannt sind, und denen, die subsidiären Schutz erhalten, soll abgeschafft werden. So ist es im Koalitionsvertrag vorgesehen. PRO ASYL hatte sich im Vorfeld für diese Änderungen stark gemacht und die Ankündigungen im Koalitionsvertrag begrüßt.
Knapp hundert Tage seit Regierungsantritt der Ampel muss eine ernüchternde Bilanz gezogen werden. SPD, FDP und Grüne haben bisher weder entsprechende Gesetzesänderungen auf den Weg gebracht – etwa zur Gleichstellung von subsidiär Geschützten mit GFK-Flüchtlingen – noch haben sie für Verbesserungen auf Verwaltungsebene gesorgt, die ohne Gesetzesänderungen leicht möglich wären. Das ist bitter, gerade weil es hier nicht um abstrakte Prozesse geht, sondern um Familien, die seit Jahren auseinandergerissen sind. Jeder Tag, den sie länger auf ihre Ehepartner, Kinder oder Eltern warten, ist für sie ein Tag voller Sehnsucht, Sorgen und Ängste.
Tage und Monate voller Tränen und Verzweiflung
Da ist Omid, der junge Afghane, der mit 12 Jahren nach Deutschland kam und seitdem auf den Nachzug seiner Mutter und seiner jüngeren Geschwister wartet. Mittlerweile ist aus dem Kind ein Mann geworden – Omid ist 19 Jahre alt. Da ist Semhar aus Eritrea, die auf ihren Ehemann und ihre 14-jährige Tochter wartet. Und da ist die alleinstehende, syrische Kurdin Rukan, die völlig fertig mit den Nerven ist, weil ihre drei Töchter noch immer unter katastrophalen Bedingungen in einem griechischen Flüchtlingslager ausharren müssen, anstatt bei ihr in Deutschland zu leben. Alle Drei werden von PRO ASYL und seinen Partnern seit über einem Jahr begleitet. Es sind Tragödien, die sich hinter diesen Lebensgeschichten verbergen: Tage und Monate voller Tränen und Verzweiflung, voll verpasster Momente, die nicht nachgeholt werden können, weil die Kinder groß werden, ohne dass die Eltern sie dabei begleiten können.
Nach wie vor warten Familienangehörige von Flüchtlingen jahrelang auf Termine zur Antragstellung. Sie müssen dabei oft unter Lebensgefahr Landesgrenzen überwinden, Dokumente beim Verfolgerstaat beschaffen und unter großen Unsicherheiten Entscheidungen treffen. In vielen Fällen betrifft das alleinreisende Frauen und Kinder. Sie brauchen dringend transparente Wege für ihre Terminbuchung und Visaanträge.
Beispiel 1: Der afghanische Journalist Baran*
Vieles, was vonseiten der deutschen Behörden sofort gemacht werden könnte, bleibt unerledigt. So steht auf den Internetseiten vieler deutscher Botschaften immer noch, dass Afghan*innen Deutschkenntnisse auf A1-Niveau als Voraussetzung für den Familiennachzug nachweisen müssen. Das ist derzeit für die nachziehenden Ehegatten aus Afghanistan unmöglich. Angesichts der aktuellen Umstände und der dramatischen Situation ist es geboten, auch formal vom Sprachnachweis abzusehen, vor allem aber, dies für Antragsteller*innen auf der Homepage und in den Merkblättern kenntlich zu machen.
Der Umgang der Bundesregierung mit Flüchtlingsfamilien aus der Ukraine zeigt eindrücklich, dass es auch anders gehen kann, nämlich schnell und unbürokratisch. Dies muss unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Religionszugehörigkeit gelten.
Beispiel 2: Die alleinerziehende Mutter aus Somalia
Auch viele andere Familien aus Ostafrika – etwa solche, die vor der eritreischen Diktatur mit ihrer Zwangsarbeit und Folter geflüchtet sind – warten seit mehreren Jahren auf ihre engsten Angehörigen. Im Falle von Eritreer*innen stellen sich besondere Hürden in Form einer Diasporasteuer und einer Reue-Erklärung, die sie als Voraussetzung dafür, dass sie von den eritreischen Behörden Dokumente erhalten, die wiederum die deutschen Behörden als Voraussetzung für den Familiennachzug ansehen, unterzeichnen müssen.
Beispiel 3: Der Familienvater aus Eritrea
Was wir tun
Vor rund einem Jahr hat PRO ASYL gemeinsam mit Flüchtlingsräten eine Kampagne gestartet, um das Thema stärker ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. In den vergangenen zwölf Monaten haben wir ein Pressegespräch organisiert, Medienberichterstattung zum Familiennachzug angeregt und durch eigene Gastkommentare in Zeitungen auf das Thema aufmerksam gemacht. Wir haben durch Aktionen in den sozialen Netzwerken ( #FamilienGehörenZusammen) und Unterschriftenkampagnen Menschen mobilisiert, haben Flüchtlingsverbände, Kirchen und Gewerkschaften dazu aufgerufen, das Thema Familiennachzug auf die Agenda zu setzen und sind aktiv auf Bürgermeister*innen zugegangen, um sie für unser Anliegen zu gewinnen. Rund zwanzig (Ober)-Bürgermeister*innen aus unterschiedlichen Parteien gehören zu den Erstunterzeichnern eines entsprechenden Aufrufs, außerdem rund 220 zivilgesellschaftliche Organisationen. Gemeinsam mit der Initiative Familiennachzug Eritrea haben wir eine Demonstration in Berlin organisiert und darüber hinaus Geflüchtete, die auf ihre Familien warten, individuell beraten und begleitet – mit einigen schönen Erfolgsfällen. Auch die politische Lobbyarbeit inklusive kontinuierlicher Ansprachen von Bundestagsabgeordneten und Minister*innen zählt dazu. Erfreulich war es zu sehen, dass unsere Bemühungen gefruchtet haben und ein Großteil unserer Forderungen in den Koalitionsvertrag Eingang gefunden hat. Nun gilt es, dass die Ankündigungen auch in die Tat umgesetzt werden. Denn Familien gehören zusammen – egal, woher sie kommen.
(er)
*Alle Namen wurden zum Persönlichkeitsschutz der Menschen anonymisiert.