Forderung an die Koalitionsverhandlungen: Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen!

06.11.2021 Nach den Vorstößen von Seiten CDU/CSU und FDP macht Pro Asyl am 05.11.2021 deutlich:

Aktuelles zu den Koalitionsverhandlungen: Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen!

In den Koalitionsverhandlungen geht es laut Medienberichten aktuell auch um das Asylbewerberleistungsgesetz. Die Abschaffung des Sondergesetzes ist schon lange eine Forderung der Zivilgesellschaft. Während die Grünen zumindest die Sätze an Hartz IV anpassen wollen, geht es für die FDP mal wieder um vermeintliche »Pull-Faktoren«.

Laut Medienberichten wird in den Koalitionsverhandlungen um eine – verfassungsrechtlich angezeigte – Angleichung der niedrigen Sätze des Asylbewerberleistungsgesetzes an Hartz IV gerungen. Dies wäre zumindest ein Schritt in die richtige Richtung. Denn auch wenn es von Rechts gerne anders dargestellt wird: Asylsuchende leben in Deutschland mit gravierenden Einschränkungen. Sie sind verpflichtet, in großen Erstaufnahmeeinrichtungen wie AnkER-Zentren zu wohnen, bekommen dort primär Sachleistungen und die Gesundheitsversorgung ist auf ein Minimum beschränkt. Das ist aus verfassungsrechtlicher Sicht extrem kritisch zu bewerten und die Kürzungen, die das Asylbewerberleistungsgesetz vorsieht, sind aus Sicht von PRO ASYL eindeutig verfassungswidrig. Wirklich konsequent wäre deswegen die Abschaffung des Sondergesetzes (siehe unten unsere Forderungen an die verhandelnden Parteien).

Mit dieser sozialpolitisch höchst relevanten Frage wird aber insbesondere von der CDU/CSU, als neue Oppositionsparteien, und der FDP aktuell ein weiteres Thema vermischt: Aufgrund von Obdachlosigkeit und fehlender staatlicher Unterstützung sehen sich zum Beispiel in Griechenland als Flüchtlinge anerkannte Menschen gezwungen, in einem anderen EU-Mitgliedstaat tatsächlichen Schutz und eine Lebensperspektive zu suchen. Diese klaren Push-Faktoren werden in der Debatte aber oft unterschlagen und die Diskussion stattdessen auf den vermeintlichen Pull-Faktor der Sozialleistungen in Deutschland reduziert.

Das Asylbewerberleistungsgesetz – ein Sonderregime zur Abschreckung

Das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) wurde 1993 verabschiedet, um für Asylsuchende und andere Betroffene im Vergleich zu deutschen Sozialhilfeempfänger*innen deutlich niedrigere Leistungen einzuführen. Im gleichen Jahr wurde mit dem sogenannten »Asylkompromiss« das Recht, nach dem Grundgesetz Asyl zu bekommen, deutlich eingeschränkt (seit damals Art. 16a Grundgesetz). Die Einführung des AsylbLG war also Teil der damaligen Abschreckungs- und Abschottungspolitik – und ist dies auch weiterhin.

Sozialleistungen dürfen nicht zum Abschrecken von Migrant*innen besonders niedrig gehalten werden – denn das verstößt gegen ihre Menschenwürde.

Karlsruhe: »Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren«! 

In einem wegweisenden Urteil zum AsylbLG 2012 stellten die Verfassungsrichter*innen fest, dass der Anspruch auf das aus der Menschenwürde abgeleitete Existenzminimum deutschen und ausländischen Staatsangehörigen gleichermaßen zusteht. Auch garantiert das Existenzminimum nicht nur das »nackte Überleben«, sondern muss ebenso eine Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben ermöglichen. Die Leistungen nach dem AsylblG waren zu dem Zeitpunkt seit 1993 – also seit 9 Jahren – nicht erhöht worden! Entsprechend verurteilte das BVerfG diese als  eindeutig unzureichend und verfassungswidrig.

Ein besonders relevantes Fazit aus dem Urteil ist: »Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren«! Das heißt, dass Sozialleistungen nicht zum Abschrecken von Migrant*innen besonders niedrig gehalten werden dürfen – denn das verstößt gegen ihre Menschenwürde. Der Gesetzgeber muss dagegen in einem transparenten Verfahren belegen, dass eine Gruppe von ausländischen Staatsangehörigen tatsächlich einen geringeren Bedarf als andere hat, um niedrigere Leistungen rechtfertigen zu können.

Leistungsanpassungen mit einem Haken

Die mittlerweile zahlreichen Kürzungstatbestände im Asylbewerberleistungsgesetz standen damals vor dem Bundesverfassungsgericht nicht zur Debatte – doch gerade nach dem Hartz IV-Urteil von 2019 ist auch hier von Verfassungswidrigkeit auszugehen.

Die Bundesregierung ist mittlerweile gesetzlich verpflichtet, die Leistungssätze des AsylbLG jährlich entsprechend der Veränderungsrate der Leistungen nach dem SGB XII anzupassen. Nachdem das Arbeits- und Sozialministerium bereits zwei Jahre überfällig war mit der Anpassung, legte es 2019 ein Änderungsgesetz vor, welches mit einem »Kniff« dafür sorgt, dass es nicht zu Mehrausgaben kommt. Seit dem 1. September 2019 gelten alleinstehende Asylsuchende und Geduldete, die in einer Gemeinschaftsunterkunft wohnen, deshalb nicht mehr als alleinstehend, sondern zählen zynischer Weise als »Schicksalsgemeinschaft«. Deswegen bekommen sie nicht mehr Leistungen nach der Bedarfsstufe 1, für Alleinstehende, sondern Leistungen nach der Bedarfsstufe 2, wie Ehepartner*innen. In der Gesetzesbegründung wurde dies damit gerechtfertigt, dass es durch gemeinsames Haushalten ähnliche »Einspareffekte« geben würde.

Das ist absolut realitätsfern! In einer Gemeinschaftsunterkunft leben Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen, sie sprechen oft noch nicht einmal die gleiche Sprache. Wie soll man sich da auf einen gemeinsamen Speiseplan und eine Einkaufsliste verständigen? Tatsächlich wird dies im deutschen Sozialrecht noch nicht einmal bei freiwilligen WGs, z. B. von Studierenden, verlangt.

Beim Asylbewerberleistungsgesetz steht den Betroffenen keine reguläre Gesundheitsversorgung zu. Chronische Krankheiten werden damit zum Beispiel nicht behandelt.

Bis zu 18 Monate müssen Asylsuchende in Erstaufnahmeeinrichtungen leben – ohne Selbstbestimmung und Privatsphäre

Entmündigung im Lager und eingeschränkte Gesundheitsversorgung

Asylsuchende sind verpflichtet, während ihres Asylverfahrens bis zu 18 Monate in Erstaufnahmeeinrichtungen zu leben, in manchen Fällen auch darüber hinaus. Während dieser »Lagerpflicht« werden die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in der Regel als Sachleistungen gedeckt. Selbstbestimmung? Fehlanzeige! Was gegessen wird und wann bestimmt der Speiseplan der Kantine – über Monate hinweg. Hinzu kommt, dass es in vielen dieser großen Zentren an Privatsphäre mangelt, mehrere Personen sich Schlafzimmer und Waschräume teilen müssen. In der Corona-Pandemie wurden die Zentren so zu Hotspots und für die betroffenen Menschen zur akuten Gesundheitsgefahr.

Nach dem Asylbewerberleistungsgesetz steht den Betroffenen auch keine reguläre Gesundheitsversorgung zur Verfügung, sondern nur eine Notversorgung zur Behandlung von » akuten Erkrankungen und Schmerzzustände« (§ 4 Abs. 1 AsylbLG). Chronische Krankheiten werden damit zum Beispiel nicht behandelt. Auch der direkte Weg zum Arzt/der Ärztin ist oft versperrt – zunächst muss, wenn es im Bundesland keine Gesundheitskarte für Asylsuchende gibt, von eine*r Sachbearbeiter*in im Sozialamt oder der Erstaufnahmeeinrichtung ein Krankenschein ausgestellt werden. So entscheidet letztlich eine medizinisch nicht geschulte Verwaltungskraft über den Zugang zur Gesundheitsversorgung. Besonders schwierig ist es, selbst bei schwerer Traumatisierung eine Therapie bewilligt zu bekommen (siehe auf Handbook Germany zum Thema Gesundheitsversorgung).

Push-Faktor: Obdachlosigkeit und Perspektivlosigkeit in Griechenland

Seit mehreren Jahren dokumentieren PRO ASYL gemeinsam mit unserer Partnerorganisation Refugee Support Aegean die Lebensbedingungen anerkannter Flüchtlinge in Griechenland. Verbessert hat sich nichts. Für sie herrscht in Griechenland das nackte Elend– wie dieses Jahr auch von zwei Oberverwaltungsgerichten in Deutschland bestätigt wurde (OVG Nordrhein-Westfalen, Urteile vom 21. Januar 2021, 11 A 1564/20.A und 11 A 2982/20.A; OVG Niedersachsen, Urteile vom 19. April 2021, 10LB 244/20 und 10 LB 245/20).

Dass es Schutzberechtigten bei einer Rückkehr nach Griechenland gelingen könnte, in Griechenland einen regulären Job zu finden, um das eigene Überleben zu sichern, halten die beiden Gerichte für »nahezu ausgeschlossen«

Seit 2020 sind alle Schutzberechtigten in Griechenland verpflichtet, innerhalb von dreißig Tagen die Unterkünfte zu verlassen, in denen sie während des Asylverfahrens lebten. Eine Integrationsstrategie zur Bereitstellung von Wohnraum oder Unterstützung beim Zugang zu Wohnraum gibt es nicht. Gleichzeitig wurden wegen beschleunigter Verfahren mehr Asylsuchende als zuvor anerkannt. Diese beiden Tatsachen führen dazu, dass in den vergangenen Monaten tausende Geflüchtete ihr Obdach verloren haben. Sie sitzen mit Kind und Kegel auf der Straße und sind auf Almosen angewiesen.

Dass es Schutzberechtigten bei einer Rückkehr nach Griechenland gelingen könnte, in Griechenland einen regulären Job zu finden, um das eigene Überleben zu sichern, halten die beiden Gerichte für »nahezu ausgeschlossen« (OVG NRW, 11 A 1564/20.A, Rn. 78). Ganz abgesehen von formellen Hürden hinsichtlich des Zugangs zum Arbeitsmarkt verzeichnet Griechenland die höchste Arbeitslosigkeit in der EU. Ebenso wenig sehen die OVGs eine realistische Möglichkeit für anerkannte Schutzberechtigte, bei einer Rückkehr nach Griechenland staatliche Sozialleistungen zu erhalten. Selbst NGOs und Kirchen sind nicht in der Lage, die Not von anerkannten Schutzberechtigten in Griechenland abzufangen und ihre elementaren Bedürfnisse zu befriedigen.

Im Oktober 2021 verschärfte sich die Situation auf ein Neues. Mangels Alternativen sind viele anerkannte Flüchtlinge in Griechenland darauf angewiesen in den Asyllagern zu bleiben, sie widersetzen sich damit der Anordnung diese zu verlassen. Nun haben die Behörden entschieden, das Catering für anerkannte Flüchtlinge einzustellen. Sie bekommen kein Essen mehr. Die Notlage verschärft sich dadurch weiter.

34.000 Geflüchtete kamen wegen der aussichtslosen Situation in Griechenland nach Deutschland

Bisher kamen wegen dieser Aussichtslosigkeit und dem täglichen Kampf ums Überleben etwa 34.000 Geflüchtete nach Deutschland. Doch auch hier wird ihnen bislang jede dauerhafte Perspektive versagt. Denn seit fast zwei Jahren hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ihre Asylverfahren »depriorisiert« und entscheidet nicht ‑statt ihnen entsprechend der obergerichtlichen Rechtsprechung Schutz zu bieten, müssen viele der Betroffenen weiterhin in Erstaufnahmeeinrichtungen ausharren.

Forderungen an die verhandelnden Parteien

Die Lebensbedingungen von Asylsuchenden in Deutschland sind also durchaus prekär und PRO ASYL fordert von den verhandelnden Parteien SPD, Grüne und FDP diese Situation grundlegend zu verbessern! Die aktuellen Regelungen entmündigen die Menschen, isolieren sie vom Rest der Gesellschaft und verhindern den Beginn eines selbstständigen Lebens von Beginn an in Deutschland. Deswegen hat PRO ASYL schon zur Bundestagswahl gefordert:

Flüchtlingspolitische Forderungen an die neue Bundesregierung

  • Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes und Eingliederung der Betroffenen in die reguläre Sozialhilfe
  • Gleichstellung bei der Gesundheitsversorgung
  • Abschaffung von AnkER-Zentren und vergleichbaren Einrichtungen sowie Reduzierung der Wohnpflicht in der Erstaufnahme auf vier Wochen, aber mindestens wie 2015 auf maximal drei Monate
  • Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge müssen in Deutschland bleiben dürfen, wenn ihnen bei Rückkehr in europäische Mitgliedstaaten menschenunwürdige Zustände drohen

 

Gleichzeitig ist klar: In vielen Mitgliedstaaten der EU, neben Griechenland zum Beispiel auch Italien, ist die Lage von Asylsuchenden und Schutzberechtigten extrem problematisch. Anstatt jedoch in Deutschland die Bedingungen deswegen zu verschlechtern, braucht es Änderungen im europäischen Rechtssystem, die zu einer Verbesserung der Lebensumstände von Geflüchteten in allen Mitgliedstaaten führen. Deswegen sollte sich die neue Bundesregierung für folgende Reformvorschläge stark machen:

  • Ein faires und solidarisches Asylsystem, das nicht auf Zwang und Sanktionen setzt, sondern die Interessen der Betroffenen berücksichtigt und nicht die Hauptverantwortung für die Flüchtlingsaufnahme den Außenstaaten zuweist
  • Schnelle Freizügigkeit für international Schutzberechtigte analog zu EU-Bürger*innen und gegenseitige Anerkennung von positiven Schutzentscheidungen